Ein „heiteres Ensemble“ aus Tierpräparaten, Korsetts und Giftmörderinnen

Rezension von Ines Pohlkamp

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.):

Das Geschlecht der Anderen.

Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie.

Bielefeld: transcript Verlag 2011.

216 Seiten, ISBN 978-3-8376-1592-0, € 27,80

Abstract: Betrachtungen der Anderen, wie der ‚Verbrecher‘, der ‚Irren‘, ‚der Tiere‘ und der ‚Wilden‘, sind bis heute Grundlagen der auf Differenz aufbauenden Disziplinen und strukturieren die gesamte Wissensproduktion. Der Tagungsband bietet vielseitige und erhellende Einblicke in die brüchigen Konstruktionen ‚der/des geschlechtlich Anderen‘ – hier als Figuren der Alterität konzeptionalisiert – und trägt damit vor allem zum interdisziplinären Austausch und zur wissenschaftlichen Dekonstruktion der Geschlechter der Anderen bei.

Als „heiteres Ensemble“ (S. 34) bezeichnet die Künstlerin Helen Follert die Tierpräparate im Genfer Musée de l’histoire naturelle. Ihre Lochkamera-Fotokomposition trägt den Titel „Spuren ou le gai savoir du monde animal“ (S. 33 f.). Die Bilder zeigen überlagerte Lochkamera-Portraits ausgestopfter Tiere. Die Künstlerin fängt die ‚Blicke‘ und Körper der Ausstellungspräparate ein, so dass diese einander überblendende, überlagernde und fast verwischende Spuren in der Lochkamera hinterlassen. Analog zu Follerts Fotokomposition hinterlässt der Sammelband zahlreiche Spuren und ist zugleich ein „heiteres Ensemble“: Er bietet Neues, Überraschendes, Irritierendes, Dekonstruktives, regt zum Schmunzeln und zum Nachdenken an.

Figuren der Alterität

Der Sammelband ist ein Ergebnis der Tagung „Das Geschlecht der Anderen. Narrationen und Episteme in Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie des 19. und 20. Jahrhunderts“, die 2009 an der Humboldt-Universität in Berlin stattgefunden hat und vom DFG-Projekt „Geschlecht als Wissenskategorie“ veranstaltet wurde. Das Geschlecht der Anderen umfasst neben der Einleitung elf interdisziplinäre Beiträge. Den roten Faden bilden die Figuren der Alterität (lat. alter: der eine, der andere von beiden). Mit Figuren sind dabei Charaktere, Motive und Gegenstände von Diskursen gemeint, wobei die Möglichkeit der brüchigen Konzeption der Figuren für die Herausgeberinnen Sophia Könemann und Anne Stähr von besonderem Interesse ist (S. 7).

Jene Figuren der Alterität, wie beispielsweise ‚die/der Kranke‘ oder ‚die/der Fremde‘, konstruieren maßgeblich nicht nur ‚ein Anderes‘, sondern verweisen zugleich auf die Konstruktion einer Normalität. In diesem Band befassen sich die Autor/-innen mit der geschlechtlichen Alterität – beispielsweise die weibliche Verbrecherin im Giftmörderinnendiskurs in Heinrich Heines Feuilleton im 19. Jahrhundert (S. 123) oder die vergeschlechtlichte Darstellung von Folter und Terrorismus in ausgewählten Bildpraktiken des 21. Jahrhunderts (S. 83). In heterogenen Analysen werden Einblicke in die Dimensionen einander überkreuzender rassifizierter, ethnifizierter, animalisierter, hybrider Produktionsprozesse ‚der/des geschlechtlich Anderen‘ geboten. Dabei befassen sich die Beiträge vornehmlich mit Figuren aus den Disziplinen der Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie, aus denen jenes Wissen über das Geschlecht der Anderen historisch verstärkt hervorgegangen sei (S. 8).

Von Schildkröten und Bienenvölkern

Einen gelungenen Start bieten die ersten drei Beiträge, die sich auf herausragende Art und Weise verschiedenen geschlechtlichen Figuren der Alterität in der Tierwelt widmen. Neben dem bereits erwähnten Fotobeitrag von Helen Follert zählt Eva Johachs Artikel „Die matriarchale Versuchung“ zu dieser Trilogie. Wer wissen will, was Aristoteles in seiner Historia Animalium zur Geschlechtlichkeit der Bienenvölker (S. 16) und was der Kirchenvater Ambrosius zur Vermehrung der Bienen zu sagen hatte (S. 18), wie Parthenogenese in der Tierwelt die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt (S. 19) oder wie sich die politische Zoologie zum Matriachat verhielt (S. 25), dem sei dieser Artikel aufs Wärmste empfohlen. Auf eine amüsante und kluge Art und Weise begründet die Autorin, warum es erst jetzt „queeren Tieren“ möglich sei, in der „biopolitischen Moderne“ (S. 29) anzukommen.

Außerdem dechiffriert Anna Straube in ihrem Beitrag mit dem Titel „Transtier, Intertier. Tiermotive und die Überschreitung von Geschlechtergrenzen in den Filmen Transamerica und XXY“ die Tiersymbolik in beiden Filmen. Sie zeigt, dass die Tiere für verschiedene Genderdiskurse stehen, in denen das Geschlecht der Anderen divers konstruiert wird. Wer die Filme Transamerica und XXY betrachtet hat, wird von Anna Straubes Filmanalyse mit Sicherheit sehr angetan sein, nicht zuletzt, weil die Lektüre die Möglichkeit bietet, die Konstruktion ‚des/der geschlechtlich Anderen‘ in der Tiersymbolik zu entdecken. Wer die Filme noch nicht gesehen hat, wird sie sich vermutlich nach der Lektüre des Artikels anschauen wollen. Die Autorin weist auf, wie die in der Tiersymbolik dargestellten Diskurse von Trans- und Intersexualität auch Positionen zur Freiheit, Authentizität, Körper und plastischer Chirurgie enthalten. Leider führt Anna Straubes Beitrag nicht über das Dechiffrieren der Tiersymbolik hinaus: Trotz ihrer eindrucksvollen Analyse gerät sie in den Zirkel der Reproduktion um die Differenz von Transsexualität und Intersexualität.

Von Kolonialismus, Osama bin Laden und dem Glücksversprechen des Korsetts

Der Band enthält einige Beiträge, in denen postkoloniale Perspektiven überzeugen. Christina Schramm beispielsweise kritisiert in ihrem Beitrag „‚Land gegen Bibel‘ – Christentum, Kolonialismus und Moderne“ die eurozentristische Konstruktion von der Feminisierung Lateinamerikas als ‚der/des Anderen‘. Sie stellt die eurozentristischen geschlechtlichen und rassifizierten Bilder einer mittelamerikanischen Kultur in Frage und dekonstruiert zugleich Schlüsselkonzepte der kulturellen Differenz wie Kolonialismus, Moderne und Religiosität. Ein Beispiel für queer-postkoloniale Perspektiven bietet Katrin Köpperts Artikel „Queering Terrorist. Vergeschlechtlichte Bilderpolitik im Kontext von Krieg und Terror seit 9/11 – interdependent betrachtet“. Darin dekonstruiert sie Bildpolitiken nach 9/11 und interpretiert mögliche Bedeutungsverschiebungen, die in exemplarischen Fotoproduktionen – der Feuerwehrmänner von 9/11, von Osama bin Laden, des Foltergefängnisses Abu Ghraib und der US-Soldatin Lynndie England – zu finden sind. Nach Köppert liegt in den Bildverschiebungen ein Potential, welches diese zu „Agenten der Gouvernementalität“ (S. 87) werden lässt. Durch die schnelle Verbreitung über das Internet werden sie zu diskursmächtigen Momenten der Konstruktion ethnisierter, geschlechtlicher ‚Anderer‘, wie die Autorin beispielsweise anhand der Osama bin Laden-Collage „Dickhead“ (S. 94) darlegt. Köppert stellt heraus, dass „die ‚Monster, terrorists und fags‘ anhand der Darstellung der imperialen und aktiv-penetrierenden Kraft Amerikas visuell bezwungen werden [können]“, solange „Queers und Terroristen diskursiv als Bedrohung der [westlichen] Nation imaginiert werden“ (S. 93). Leider verfällt sie hier einer Dichotomie von Tätern und Ausgeschlossenen und stellt eine Analogie von queeren Personen und Terroristen her, die vor dem Hintergrund ihrer hier dargestellten Analyse nicht überzeugt.

Doch kommen wir nun zum Glücksversprechen des Korsetts: Sophia Könemann untersucht in ihrem eindrucksvollen Beitrag „Von ‚Menschen-Bälgen‘, ‚kostbaren Rassen‘ und ‚Canarienvögeln‘“ die Ideen vom Geschlecht der Anderen in der Erzählung Der Corsetten-Fritz von Oskar Panizza. Die Sehnsucht von Panizzas Ich-Erzähler nach einem in einem Schaufenster liegenden Korsett verbindet sich in der Erzählung mit einem „Glücksversprechen der Ware“ (S. 177), die vom Ich-Erzähler mit rassistischen, antisemitischen und sexistischen Vorstellungen gekoppelt wird. Denn für den Ich-Erzähler ist das Korsett im Schaufenster ein noch unbekannter Gegenstand, ein Fetisch und gleichsam eine Art zu lüftendes „Rätsel“ (S. 178). Das Korsett als „Objekt des Begehrens“ (S. 181) des Ich-Erzählers zeigt sich ihm in seiner Selbstdarstellung „als exotisiertes animalisches [und vergeschlechtlichtes] ‚Anderes‘“ (S. 181). Dabei reflektiert die Autorin die Erzählpositionen und zeigt beispielsweise auf, was es bedeutet, dass der Ich-Erzähler in der Psychiatrie als ‚psychisch Kranker‘ zum Erzählen seiner Lebensgeschichte angeregt wurde, ohne dass der/die Psychiater/-in als Repräsentant einer wieder herzustellenden Normalität im Text explizit auftaucht.

Andere Beiträge in diesem Themenfeld orientieren sich leider nur wenig an einem transdisziplinären Publikum. Florian Kappeler beispielsweise analysiert in seinem Beitrag „Das fremde Geschlecht der Irren und der Tiere. Ethnologie, Psychiatrie, Zoologie und Texte Robert Musils“ den „anderen Zustand“ in Musils Werk Mann ohne Eigenschaften. Der Autor zeigt, wie Robert Musil in seinem Werk zoologisches Wissen diskursimmanent dafür nutzt, Geschlechterkategorien zu destabilisieren (S. 200, S. 205 f.). Der Aufsatz verfolgt einen spannenden Ansatz der Analyse, wirkt aber überfrachtet und ist damit nur mit Geduld nachvollziehbar.

Vom Lustmord und ‚weiblichen Verbrechen‘

Schließlich widme ich mich nun dem Lustmord und einer Auswahl jener Beiträge, in denen sich die Autor/-innen einigen ‚weiblichen Figuren‘ der geschlechtlichen Devianz, wie dem Kindsmord, dem Giftmord sowie einer Forschungslücke, dem weiblichen Exhibitionismus, zuwenden. Irina Gradinari versucht in ihrem Beitrag „Gender und Lustmord in Theorie und Ästhetik“ zu erklären, warum die Idee des (männlichen) Lustmords als fiktive literarische, bildliche Figur so berühmt wurde und stetig diskursiv fortgeschrieben wurde, obwohl dieses Phänomen auf keiner breiten empirischen Basis beruht (S. 103). Sie deckt auf, dass „androgyne Phantasien“ in zahlreichen Fällen „über den Lustmord realisiert werden“ (S. 119), und so kommt sie zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Figur des (zumeist männlichen) Lustmörders die heterosexuelle Geschlechtermatrix zementiert und zugleich zum „Entwurf eines anderen dritten Geschlechts eingesetzt wird“ (S. 121).

Anne Stähr hingegen beschäftigt sich mit dem „Giftmörderinnendiskurs des 19. Jahrhunderts“. Ihr Beitrag „‚Die entsetzliche Nothwehr einer unglücklichen Frau‘“ gehört zu den herausragenden Artikeln dieses Buches. Sex und Crime zeigen sich als ein historisch produktives Paar der Alterität, welches in der Kriminologie des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Der Autorin gelingt es, die Vielschichtigkeit und den Wandel der Figur(en) der weiblichen Verbrecherin (Giftmörderin) im Material von Heinrich Heines Feuilleton-Beiträgen diskursiv nachzuzeichnen. Zuletzt ist Ulrike Wohlers Auseinandersetzung um weiblichen Exhibitionismus zu nennen, in dem die Autorin als Ergebnis festhält, dass die „Definition eines sogenannten ‚sexuell abweichenden‘ Verhaltens zu hinterfragen“ sei (S. 167). Aus der Tatsache, dass weiblicher Exhibitionismus nicht kriminalisiert wird, schließt die Autorin, dass dieser somit im Gegensatz zum männlichen Exhibitionismus kulturell unterstützt werde. Gesellschaftlich stellt sie eine rigide Körperpolitik fest, die nicht nur „frauenfeindlich, sondern letztendlich auch männerfeindlich ist, weil sie sexualfeindlich ist“ (S. 168). Leider unterliegt dieser Artikel keiner machtkritischen Perspektive und wirkt damit eindimensional gegenüber dem Gegenstand: Männer seien, so resultiert die Autorin, in ihrer exhibitionistischen „Zeigelust“ (S. 168) eingeschränkt.

Der weiblichen Devianz als Figur der Alterität auf der Spur, bieten die hier rezensierten Beiträge Einsichten in die Brüche jener Konstruktionsfelder ‚der/des Anderen‘, in denen das weibliche Geschlecht vergessen, pathologisiert, kriminalisiert oder zum Opfer stilisiert wird. Für devianzorientierte Geschlechterforscher/-innen bieten diese Analysen des Bruches der Figur der Alterität neue Anregungen und Anknüpfungspunkte für eine heteronormativitätskritische Betrachtung der Geschlechterverhältnisse, in der die Eindeutigkeit von Binaritäten in Frage gestellt werden.

Für anregende Winterabende

Es handelt sich bei dem Geschlecht der Anderen um einen gelungenen Tagungssammelband, obwohl der rote Faden des Buches – die Konzeption der Figuren der geschlechtlichen Alterität – an einigen Stellen bemüht konstruiert erscheint. Ferner sind einige Beiträge aufgrund der verwendeten Sprache und des wenig stringenten Aufbaus leider nur mit Anstrengung zu lesen. Die Autor/-innen dieser Artikel scheitern an dem Versuch, die Lebendigkeit der Inhalte in eine Sprache zu überführen, die es vermag, die geneigten (akademischen) Leser/-innen (aus verschiedenen Disziplinen) mit Anspruch auf Interdisziplinarität in den Bann zu ziehen. Leser/-innen, die nicht gewohnt sind, akademische Texte zu lesen, zählen ohnehin leider – so ist zu vermuten – nicht zur erwarteten Zielgruppe der Publikation.

Der Sammelband regt trotzdem an zahlreichen Stellen zum Denken an. Überzeugend sind dabei vor allem die interdisziplinären Herangehensweisen der Forscher/-innen. Was dabei zunächst verwirrend erscheint, wird beim Lesen zum Erleben dessen, was ich – angelehnt an Helen Follert – als „heiteres Ensembles“ bezeichne; denn der unschlagbar bereichernde Vorteil dieses Buches resultiert aus der Vielfalt der Beiträge. Eine der größten Stärken dieses Sammelbandes für die Geschlechterforschung ist, dass es gelingt, disziplinäre Grenzen auch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu überschreiten.

Wer sich erlaubt, sich auf verschiedene Forschungsperspektiven einzulassen, wer mit dem Poststrukturalismus, der Dekonstruktion und der Wissenskategorie Gender im weitesten Sinne vertraut ist, wird dieses Buch an einem der kommenden Winterabende zufrieden genießen und viel Neues entdecken können. Insgesamt kann der Band die Entwicklung der Geschlechterforschung vor allem dort begünstigen, wo disziplinäre Schranken den Forschungsgegenstand unerklärt auf(ge)geben (haben), denn es existiert – das zeigt der Tagungsband deutlich – eine Notwendigkeit des Überschreitens disziplinärer Schranken.

URN urn:nbn:de:0114-qn:1001:8

Ines Pohlkamp

Universität Hamburg

Referentin für Gender, Queer Theory, queer-feministische Mädchenarbeit, intersektionale Bildung und geschlechtsbezogene Gewalt. Seit 2009 Doktorandin an der Universität Hamburg. Forschung zu trans*inter*feindlicher Diskriminierung und Gewalt.

E-Mail: pohlkamp@uni-bremen.de

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