Die Matrix als postmodernes Kunstwerk

Rezension von Kathrin Hönig

Patricia Feise-Mahnkopp:

Die Ästhetik des Heiligen.

Kunst, Kult und Geschlecht in der Matrix-Filmtrilogie.

Köln u.a.: Böhlau Verlag 2011.

312 Seiten, ISBN 978-3-412-20627-7, € 39,90

Abstract: Die Matrix-Filme erlangten innerhalb von kurzer Zeit Kultstatus. Patricia Feise-Mahnkopp beleuchtet das Phänomen aus der Perspektive der ästhetischen Theorie und fragt nach den Gründen für den außergewöhnlichen Erfolg der Filmtrilogie. Die Herleitung und die Begründung ihrer These, dies habe etwas mit der religio-ästhetischen Qualität (d. h. der Eigenschaft, sowohl das Erhabene als auch das Heilige zu evozieren) zu tun, sind jedoch mit Argumentationslücken behaftet, weshalb die Analyse nicht vollständig zu überzeugen vermag.

An akademischen wie nicht-akademischen Publikationen über die Filmtrilogie der Gebrüder Wachowski The Matrix, The Matrix Reloaded und The Matrix-Revolutions besteht kein Mangel. Eine weitere Arbeit dazu kann sich insofern nicht unbedingt mit Bezug auf den Gegenstand rechtfertigen, sie kann sich aber auf dem Feld der bereits publizierten Arbeiten anhand der Fragestellung, mit welcher an den Gegenstand herangegangen wird, positionieren. Patricia Feise-Mahnkopp formuliert die ihrige so: „Was genau […] macht die MATRIX zu einem ästhetisch anspruchsvollen Artefakt? Was i s t das Kunstvolle an ihr?“ (S. 9) Damit distanziert sie sich von einem vorwiegend technoästhetischen sowie einem schwerpunktmäßig philosophischen und/oder religiösen Erkenntnisinteresse, welche sie als die vorherrschenden Perspektiven in der bisherigen Matrix-Literatur identifiziert, leider ohne entsprechende Belege zu nennen. In dieser Fragestellung und nicht in der durchgehend mitlaufenden „Frage nach den geschlechterideologischen Kodierungen“, die Feise-Mahnkopp als ihre „erkenntnisleitende Meta-Perspektive“ bezeichnet (S. 11), liegt die Originalität des Buches.

Eine Analyse der Matrix unter genuin ästhetischen Gesichtspunkten klingt interessant. Doch es ist, als ob die Autorin der Tragfähigkeit ihrer Fragestellung, der sie mit Rückgriff auf Kants ästhetische Theorie über das Schöne und Erhabene nachgeht, nicht wirklich getraut hätte. Zu überfrachtet mit zahlreichen anderen Aspekten wirkt die Untersuchung. Dabei soll an dieser Stelle keineswegs einer eindimensionalen Analyse das Wort geredet, sondern eher ein Bedauern darüber ausgedrückt werden, dass die Fülle an Material, die Feise-Mahnkopp verarbeitet hat (allein der Anmerkungsapparat umfasst 42 Seiten, das Literaturverzeichnis 13), der Hauptfrage nicht stärker untergeordnet und diese dafür präziser und ausführlicher analysiert wurde.

Popkulturelle Artefakte

Zum Inhalt: Die sieben Kapitel der an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Dissertation nähern sich ihrem Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Ebenen. In Kapitel 1 wird der Matrix-Trilogie eine postmoderne, postsäkulare Gesellschaft mit Tendenz zur Entpatriarchalisierung als Hintergrund zugeordnet. In Kapitel 2 beschreibt die Autorin den Kulturbegriff der Postmoderne und wendet sich gegen eine trennende Unterscheidung von E- und U-Kultur, was es ermögliche, „mediale Texte der Populärkultur als ästhetische Artefakte zu analysieren“ (S. 48), die zudem nicht mehr unausweichlich mit patriarchaler Ideologie verbunden seien. Auch werden die in der Untersuchung verwendeten pluralen Analyseverfahren offen gelegt (Cultural Studies approach, insbesondere Diskursanalyse, Form-Inhalts-Analysen). Kapitel 3 umfasst sowohl die inhaltliche Zusammenfassung der drei Filme als auch eine dramaturgische und genrebezogene Analyse, eine Teilentschlüsselung der (Namens-)Symbolik, Bemerkungen zur Kinotechnik (special effects) sowie weitere Aspekte zu Form und Inhalt. Insgesamt diagnostiziert Feise-Mahnkopp ein De-Gendering in Bezug auf die Hauptfiguren Neo und Trinity, das sich unter anderem an der nicht-phallozentrischen Blickökonomie festmachen lasse. In Kapitel 4 werden intertextuelle Bezüge zu den Filmen hergestellt, wobei Gender-Implikationen stets kritisch im Blick behalten werden. In Kapitel 5 geht es um den (kantischen) Begriff des Ästhetischen und seine Schnittstellen zum Heiligen. Um die Produktivität des Kant’schen Begriffspaars vom Schönen und Erhabenen zu erhalten, müsse jedoch von ihrer geschlechterideologischen Enkodierung abgesehen werden. Der Begriff des Heiligen wird in Kapitel 6 in Zusammenhang mit dem Religionsbegriff weiter ausgeführt und auf seine Anwendbarkeit auf popkulturelle Artefakte hin überprüft. Letzteren könne, so das Ergebnis, durchaus eine „religio-ästhetische Qualität“ eignen (S. 187). In Kapitel 7 werden die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst und aus produktionsästhetischer Perspektive auf die Matrix-Trilogie angewandt: Das „Schöne, das Erhabene und das Heilige“ seien „in der MATRIX ästhetische Kategorien ohne symbolische Geschlechtszuweisungen, die sich sowohl in männlicher als auch in weiblicher Gestalt“ verkörperten (S. 192). Die Frage nach der ästhetischen Wahrnehmung der Matrix wird sodann aus rezeptionsästhetischer Perspektive nochmals anhand von Internetforen zur Trilogie sowie einer eigenen Umfrage bei Fans aufgegriffen. Die Untersuchung schließt mit einem Vergleich zwischen der Matrix-Trilogie und der Divina Commedia von Dante (der freilich an die vorangegangene Diskussion inhaltlich nicht wirklich anschließt) sowie einem Exkurs über die Eignung der Filme für Pastoral und christlichen Religionsunterricht.

Religio-Ästhetik

Da es schwierig und möglicherweise auch nicht sinnvoll ist, die Argumentationslinien der verschiedenen Kapitel im Einzelnen wiederzugeben, konzentriere ich mich im Folgenden auf den Punkt, der auch von Feise-Mahnkopp für den Kern ihrer Arbeit gehalten wird: „Die unerwartete Identifikation der Kategorie des Heiligen in der Ästhetik der Matrix ist der zentrale Befund der vorliegenden Arbeit – und ihr Eigenwert.“ (S. 11) Unerwartet oder „überraschend“ wie es auf derselben Seite im Absatz davor heißt, ist der Befund freilich nicht. Jedenfalls ist die Argumentation nicht so aufgebaut, dass das Heilige zufällig auftaucht, sondern die Autorin gruppiert ihr Material gezielt so, dass eine Schnittstelle zwischen dem Erhabenen und dem Heiligen plausibel werde (S. 167). Überraschend ist allerdings, dass die Argumentation dafür auf weniger als einer Seite Platz findet und dass das ganze diesem Thema gewidmete fünfte Kapitel lediglich 17 Seiten umfasst. Es gehört damit, zusammen mit dem in dieser Hinsicht ebenfalls relevanten sechsten Kapitel, zu den kürzesten Teilen des Buches. Zum Vergleich: Kapitel 4, in dem zahllose, stellenweise weit hergeholt wirkende intertextuelle Bezüge hergestellt werden, ist 56 Seiten lang. Diese zunächst nur quantitative Beobachtung ist natürlich noch kein Argument, wofür oder wogegen auch immer. Sie erscheint mir jedoch symptomatisch für die oben erwähnte Vermutung, dass die Autorin der Tragfähigkeit ihrer These, dass die Matrix-Trilogie ein ästhetisch anspruchsvolles popkulturelles Artefakt sei, dem religio-ästhetische Qualitäten eigneten, nicht wirklich traut. Gewünscht hätte man sich jedenfalls eine ausführlichere Herleitung, dass und wie die Matrix-Filme „das Schöne und Erhabene zu zeitigen in der Lage“ (S. 160) sind, demgemäß sie als Kunst zu klassifizieren wären, dass und wie das als gewaltsam erlebte Erhabene eine entgrenzende Wirkung zeigt (S. 165) sowie dass und wie das Erhabene und das Heilige in ihrer „entgrenzenden Wirkung, die beide auf das wahrnehmende Subjekt ausüben“, (S. 167) ineinander greifen bzw. wie und wo dann doch ein Unterschied zu machen wäre. Denn davon hängt ab, ob die Anwendung dieser Theorieelemente auf die Filme nachvollziehbar wird – oder eben nicht.

Trinity als „Heilige Geistin“

Leider wird in dem Buch vieles nur aufgerufen und nebeneinander gestellt, aber nicht näher begründet. Das von der Autorin versammelte reiche Material wird in der Regel affirmativ verarbeitet. Selten findet eine kritisch argumentative Auseinandersetzung mit einer Position statt; ausgenommen hiervon sind die durchgehend geschlechterideologisch kritische Perspektive sowie der kurze kritische Kommentar zu Georges Batailles’ religionstheoretischem Ansatz (S. 176 f.). Problematisch ist auch, dass die Hauptthese erst nach der Filmzusammenfassung sowie den intertextuellen Bezügen eingeführt wird, Begriffe wie das „Erhabene“ oder das „Heilige“ jedoch vorher schon benutzt werden.

Am Ende leidet die Nachvollziehbarkeit der religio-ästhetischen Filmanalyse im siebten Kapitel. Folgendes Zitat soll das exemplarisch belegen:

„Ein weiteres sinnfälliges Beispiel für die Evokation des transzendent Heiligen ist die Inszenierung Trinitys als ‚Heiliger Geistin‘. Auch der Moment, in dem sie Neo den Odem einhaucht, den er zu seiner Auferstehung benötigt, wirkt in visueller – nach einer ersten an pietà-Darstellungen gemahnenden Einstellung erfolgt eine Großaufnahme des lebensspendenden Kusses in unscharfem Weichzeichner vor explodierenden Lichtkaskaden, der ikonographisch an die Ausschüttung des Heiligen Geistes erinnert – sowie in akustischer Hinsicht – pathetische Musik wird so unterlegt, dass die Erhabenheit des Momentes unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird – im Sinne einer transzendenten Entgrenzung, in der ebenfalls die beseligende Dimension im Vordergrund steht.“ (S. 191)

Selbst wenn man zugesteht, dass die Inszenierung der Sequenz Erhabenheit suggerieren soll, so bleibt immer noch offen, warum dies bei den Zuschauer/-innen eine Erfahrung des Heiligen auslösen sollte, warum sie diese spezifische religio-ästhetische Wahrnehmung haben sollten, als welche Feise-Mahnkopp die Erfahrung des Heiligen auch bezeichnet. Beim Übergang von der Evokation des Heiligen im Film zu einer Erfahrung des Heiligen durch die Rezipient/-innen bleibt, nicht nur an dieser Stelle, eine Argumentationslücke.

Eine weitere Argumentationslücke gibt es im Schritt von ästhetischer zu religiöser Entgrenzung, also beim Umschlagen der Wahrnehmung des Erhabenen in eine Wahrnehmung des Heiligen. Zwar unterscheiden sich gemäß Feise-Mahnkopp ästhetische und religiöse Entgrenzung „durch den Grad ihrer Entgrenzung“ und immanente und transzendente Entgrenzung „durch den Grad der dabei gezeitigten Beseligung bzw. Bewusstheit“ (S. 181). Doch abgesehen davon, dass man zu dem die ästhetische von der religiösen Entgrenzung unterscheidenden Grad nicht mehr erfährt, bleibt auch unklar, woran im obigen Beispiel die Beseligung oder die Bewusstheit genau festzumachen wären, die das Ganze zu einem Moment transzendenter Entgrenzung machen sollen. Ein film-ästhetisches Element, das die Autorin diesbezüglich bei anderen Szenen mehrfach anführt, die sogenannte bullet time (d. h. mittels einer speziellen Aufnahmetechnik ‚eingefrorene‘ Bewegungen), kann meines Erachtens die Begründungslast der Aussage, damit sei „der Grundstein zu einer transzendent entgrenzenden Wirkung gelegt“ (S. 191 f., vgl. auch S. 183, 210), nicht tragen. Es rächt sich, dass die Begriffe, wie etwa „Entgrenzung“, „Beseligung“ oder „Bewusstheit“, an der Stelle, an der sie eingeführt wurden, nicht ausführlicher beschrieben und genauer definiert worden waren.

Kultstatus der Matrix-Filme

Dass die Matrix-Trilogie ein ästhetisch anspruchsvolles popkulturelles Artefakt ist, kann Feise-Mahnkopp in dem von ihr gewählten postmodernen Theorierahmen zeigen. Auch dass in den Filmen das tradierte patriarchal hierarchische Geschlechterverhältnis hin zu einer inszenierten Ebenbürtigkeit zwischen Frauen und Männern (insbesondere Trinity und Neo werden als ebenbürtig dargestellt) überwunden wird, wird nachvollziehbar dargelegt. Weniger überzeugend ist die Konklusion, dass auch die zentralen Kategorien des Schönen, Erhabenen und Heiligen keine „symbolische[n] Geschlechtszuweisungen“ aufwiesen, denn sie gründet auf der Forderung der Autorin, beim Kant’schen Begriffspaar von seiner geschlechtlichen Enkodierung (d. h., das Schöne ist weiblich konnotiert, das Erhabene männlich) einfach abzusehen. Als Nachweis, dass dies gelingt, scheint auszureichen, dass mit Trinity das Erhabene auch einer weiblichen Heldin zugeordnet werden kann.

Meines Erachtens argumentativ nicht vollständig eingelöst, weder auf der produktionsästhetischen noch auf der rezeptionsästhetischen Ebene, wird des Weiteren auch der Deutungsanspruch, dass die Filme für die Rezipient/-innen „das Heilige potentiell erfahrbar“ machten oder dass sie „die Erfahrung des immanent und transzendent Heiligen zu stiften“ (S. 210) in der Lage seien, dass sie also über eine bloße Inszenierung des Heiligen hinausgehen. Aus diesem Grund bleibt auch die äußerst spannende Hypothese zum Kultpotential gewisser popkultureller Phänomene in der Schwebe, mit der Feise-Mahnkopp sich von der Auffassung absetzt, prinzipiell alles könne zum Kult erklärt werden: Die „Eignung popkultureller Artefakte zur Kultwerdung [lässt sich] am Grad ihrer religio-ästhetischen Qualität festmachen […]. Das heisst, es ist zu vermuten, dass proportional zur Wahrscheinlichkeit popkultureller Artefakte, das Heilige zu evozieren, auch die Wahrscheinlichkeit steigt, zum Kult zu werden.“ (S. 187) Dass die Matrix-Filme Kultstatus haben, dürfte niemand bestreiten. Doch ob sie ihn aus diesem Grund haben, muss an dieser Stelle offen bleiben.

URN urn:nbn:de:0114-qn:1004:4

Dr. Kathrin Hönig

Universität St. Gallen

Lehrbeauftragte für Philosophie

E-Mail: kathrin.hoenig@unisg.ch

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