Kollektivbiographie einer Ärztinnengeneration

Rezension von Margarete Mauer und Stephanie Schmolinger

Johanna Bleker, Sabine Schleiermacher:

Ärztinnen aus dem Kaiserreich.

Lebensläufe einer Generation.

Weinheim: Beltz / Deutscher Studien Verlag 2000.

348 Seiten, ISBN 3–89271–898–9 , DM 78,00 / SFr 69, 00

Abstract: Mit diese Studie wird der Weg der Frauengeneration, welche bis 1918 ihre Ausbildung als Ärztin abschloss, bis 1945 als „Kollektivbiografie“ rekonstruiert, mit zahlreichen quantitativen Tabellen belegt und allgemeinverständlich dargestellt.

Dieses 348seitige Werk beruht auf einer dreijährigen Forschungsarbeit, welche von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt wurde. Der umfangreiche Band enthält eine Reihe von Datensammlungen und Tabellen, wodurch eine rasche Lektüre erschwert wird. Eine eingehendere Beschäftigung mit den einzelnen Kapiteln ist aber lohnend, wird doch neben manchem Bekannten die Notwendigkeit deutlich, bisherige Einsichten über Medizinerinnen zu korrigieren. Daneben werden viele interessante Details über den Weg dieser Generation, die Widersprüchlichkeit der Lebenssituation der Ärztinnen und ihre Suche nach einem eigenen Verständnis der beruflichen Tätigkeit vorgestellt.

Die im ersten Teil des Bandes dargestellte Analyse „basiert auf einer Sammlung biographischer Daten und Dokumente, die inzwischen den Namen Dokumentation Ärztinnen im Kaiserreich trägt und die vor fast 15 Jahren [gezählt von 1999 aus] von Jutta Buchin […] begonnen“ und „von weit über 100 Personen“ um Materialien und Daten erweitert wurde (S. 9). Diese Datenbasis erscheint im Band in Form eines zweiten, „Tabellarischen Teils“, dessen Zahlenmaterial Susanne Eckelmann zusammengestellt hat, und wird ergänzt durch einen dritten, „Lexikalischen Teil“. Dieser enthält etwa 850 Kurzbiografien von Ärztinnen aus dem untersuchten Zeitraum, erarbeitet von Jutta Buchin; das zugehörige Register der Geburts- und Ehenamen der aufgenommenen Ärztinnen wurde von Nicola Uther zusammengestellt. Ein Personen-, ein Sach- und ein Ortsregister sowie das Literaturverzeichnis ergänzen die Publikation.

Die Medizinhistorikerinnen Johanna Bleker und Sabine Schleiermacher stellen im ersten (analytischen) Teil des Bandes „in mehreren, chronologisch aufeinander abgestimmten Essays den Weg der ersten deutschen Ärztinnengeneration durch die ersten fünf Jahrzehnte“ vor (S. 9). „Erste“ bezieht sich darauf, dass in Deutschland erst zwischen 1901 und 1909 Frauen der reguläre Zugang zum Medizinstudium möglich war und vorherige Ausnahmegenehmigungen von einzelnen Frauen auch in formaler Hinsicht mühsam erkämpft werden mussten. Es wurden die Lebenswege von knapp 800 Frauen untersucht, welche sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges für den Ärztinnenberuf qualifizieren konnten. Der Titel des Buches beschreibt insofern seinen Inhalt korrekt, kann aber leicht missverstanden werden. Denn gerade die Tatsache, dass die weitere berufliche Entwicklung der zurzeit des Kaiserreiches approbierten Ärztinnen in der Folgezeit, über die Weimarer Republik und insbesondere von 1933–1945, also bis zum Ende des Nationalsozialismus 1945, berücksichtigt wird, macht diese Untersuchung besonders wertvoll. Zum Beispiel wurde untersucht, wie viele Ärztinnen im NS verfolgt wurden und was aus ihnen wurde. Gleichzeitig wird deutlich, dass zumindest in der Generation der vor 1918 approbierten Ärztinnen ein weitaus höherer Prozentsatz als bisher bekannt Mitglieder in NS-Organisationen (NS-Ärztebund, NSDAP, NS-Frauenschaft, BDM/HJ) waren (Tabelle 7.3.) und als agierende Personen in vielen gesundheitspolitischen Bereichen wichtige Positionen innehatten. Im einzelnen widmen sich zwei Kapitel von Sabine Schleiermacher, Kapitel 7 über „Das Schicksal der „‚nicht-arischen‘ Ärztinnen der älteren Generation“ und Kapitel 8 „Die nicht-verfolgten Ärztinnen der älteren Generation und das ‚Dritte Reich‘“ (S. 159–172), den Lebensverläufen dieser Ärztinnen, welche zum einen Opfer zum anderen Mittäterinnen des NS wurden. Schleiermachers Fazit: „Die Generation mutiger Frauen, die zu Kaisers Zeiten aufgebrochen waren, den Arztberuf für sich und ihre Nachfolgerinnen zu erschließen, hatten ihr gemeinsames Band verloren und damit faktisch aufgehört zu existieren.“ (S. 172)

In diesem ersten Kapitel wird als „Vorspiel“ die Zeit von 1871 bis 1901 beleuchtet, in welcher Frauen aus Deutschland regulär nur im Ausland studieren und sich graduieren konnten; die meisten Ärztinnen dieser zwei Pionierinnengenerationen hatten dies in der deutschsprachigen Schweiz getan (s. Tabelle S. 32 f.). Dabei fällt auf, dass die Motivationen der Frauen für ihr Studium bzw. für den Arztberuf keineswegs homogen waren, sondern es sich nach Meinung Johanna Blekers „um äußerst verschiedene, möglicherweise nur zufällige Karrieren“ handelte, also (noch) „nicht um einen kollektiven Aufbruch“ (S. 19). Auch die Vorstellung, dass Frauen Ärztinnen werden müssen, weil nur Frauen die Krankheiten anderen Frauen verstehen können, wird näher beleuchtet. Anders als frühere Studien der sozialgeschichtlichen Frauenforschung kommt Bleker zu dem Schluss, dass das diesen Frauen gleichwohl Gemeinsame bei ihrer Studienentscheidung keineswegs nur eine ideelle „Berufung“ darstellte, sondern vielfach handfeste ökonomische Gründe hatte: Zwar kamen laut Statistik viele Frauen aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum, aber dies war nicht unbedingt gleichbedeutend mit vermögend. Für manche Frauen bedeutete eine Berufstätigkeit als Ärztin die Hoffnung auf eine eigene Grundversorgung. Oft beinhaltete die Entscheidung für die Medizin „eine Entscheidung gegen den Lehrerinnenberuf“ (S. 23), den ein Teil der späteren Ärztinnen vorher innegehabt hatte. Es war insbesondere der Wunsch nach einer „selbständigen Existenz“ (S. 23), die für viele eine grundlegende Antriebskraft darstellte. Viele dieser „Pionierinnen“ waren zurzeit ihres Abschlusses älter als 30 oder sogar älter als 40 Jahre. Zurzeit der Jahrhundertwende mussten sie, wenn sie als Graduierte nach Deutschland zurückkehrten (die meisten taten dies), ihre Zulassung als Ärztin erst erkämpfen. Die damalige Frauenbewegung – vor allem der Allgemeine deutsche Frauenverein hatte wichtige Petitionen vorgelegt – konnte zumindest für die jüngeren mit dem Bundesratsbeschluss von 1899 über die Zulassung von Frauen zu Staatsprüfungen und ärztlicher Approbation einen teilweisen, aber wichtigen Etappensieg für das Frauen-Medizinstudium in Deutschland erreichen.

Kapitel 2 behandelt als „Generation des Übergangs“ die mehr als 750 Ärztinnen, die zwischen 1901 und 1918 nunmehr in Deutschland selbst das medizinische Staatsexamen ablegen und die ärztliche Approbation erlangen konnten – eben die Gruppe der „Ärztinnen aus dem Kaiserreich“. Es werden die Schwierigkeiten der Datenerfassung und -analyse diskutiert und die Frage gestellt, inwiefern sich die Motivationen dieser Ärztinnen und die Ziele der Frauenbewegung trafen: „Ganz gleich, aus welchen Gründen die Ärztinnen sich ursprünglich für ihren Beruf entschieden hatten, in ihrer alltäglichen Praxis wuchs ihnen ein Aufgabenfeld zu, auf dem sich ihre beruflichen Intentionen mit den Intentionen der Frauenbewegung trafen.“ (S. 25) Durch eine Kombination von Datenanalyse und -interpretation mithilfe einzelner Biografien wird versucht, nicht nur Übereinstimmungen in den Lebensläufen, sondern auch die Widersprüchlichkeiten im „Material“ darzustellen; Ziel der Analyse ist es, „allgemeine Besonderheiten wie auch Abweichungen zu den bisher üblichen Vorstellungen aufzudecken.“ (S. 35)

Die soziologische Analyse wird in Kapitel 3 „Zur Herkunft der frühen Ärztinnen“ vertieft, eine Untersuchung „Zur wissenschaftlichen Betätigung der frühen Ärztinnen“ und ihrer „Suche […] nach einem angemessenen Platz in der Wissenschaft“ wird in Kapitel 6 (S. 113–157) vorgelegt. Dabei gilt das Augenmerk „nicht den individuellen Leistungen, sondern dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, den Erwartungen, Bedingungen und Möglichkeiten weiblicher Arbeit im wissenschaftlichen Raum.“ (S. 115) Zum Beispiel im „Rahmen der neuen Wissenschaft Sozialhygiene“ bot sich Ärztinnen die Möglichkeit, den Wunsch nach Selbständigkeit mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Nützlichkeit zu verbinden.

In Kapitel 4 werden der Zugang zum Medizinstudium und zum Ärztinnenberuf im Ersten Weltkrieg (1914–1918) behandelt und die Frage gestellt, ob die Ärztinnen „Kriegsgewinnlerinnen“ waren: „Die Zahl der neu approbierten Ärztinnen schnellte von 45 im Jahr 1913 auf 165 im Jahr 1914“ (S. 76), und sie kamen „an der Heimatfront“, zum Beispiel in Universitätskliniken und in Landarztpraxen sowie in Reserve- und Vereinslazaretten, das heißt auch im Sanitätsdienst, zum Einsatz, wo sie entgegen dem traditionellen „Sittlichkeitsargument“ (S. 86) auch Männer untersuchten und behandelten. Doch es entstanden Widersprüche zur militärischen Befehlshierarchie: Sollten Männer den Ärztinnen im Heeresdienst gehorchen müssen? Bereits im Mai 1915 verfügte das (Kriegs-)Ministerium, die Verträge mit Ärztinnen „nach Möglichkeit wieder zu lösen“ (S. 79). Und nach dem Krieg galt: „Dementsprechend blieb auch der Status des ‚Kriegsteilnehmers‘ auf Männer beschränkt“ (S. 87), „in den Verteilungskämpfen der Nachkriegszeit wurden die alten geschlechtsspezifischen Rollenmuster wiederbelebt“ (S. 86), und für die „Heimatfront“ galt: „die ausgezeichnete fachliche Weiterbildung, die junge Ärztinnen durch die klinische Vertretung der männlichen Kollegen erwerben konnten, führte nicht zu einer Veränderung weiblicher Karrieremuster.“ (S. 86 f., Hervorh. d. Rez.)

Die Zusammenhänge von „Berufsnormalität und Weiblichkeit bis zum Ende der Weimarer Republik“ behandelt Sabine Schleiermacher in Kapitel 5.

Interessant an dieser Studie und für die Methodologie der historisch-soziologischen Frauengeschichtsforschung anregend ist insbesondere der Versuch, mithilfe eines teilweise quantitativen Zugangs eine „Kollektivbiographie“ (S. 9) der Generation der „Ärztinnen aus dem Kaiserreich“ herauszuarbeiten, in der das Gemeinsame, aber auch die Widersprüchlichkeit und große Vielfalt in den individuellen Motivationen und Lebensläufen sichtbar wird. Unter anderem wurden Materialien aus Ärztekammern und Universitäten, Lebensläufe und Biografien ausgewertet. Umfangreiche Archivarbeiten (s. die Liste auf S. 307) und historische Recherchen sowie auch die Sammlung qualitativen Materials wie Tagebuchaufzeichnungen, zum Teil in anderen Ländern (Israel, USA) aufgefunden, waren dazu notwendig. Die Daten erweitern oder korrigieren einige Zahlen, welche verstreut in älteren statistischen Zusammenstellungen zum Arztberuf allgemein publiziert sind (siehe z. B. Tabelle 1.2. zur Gesamtzahl der 1901 bis 1918 jährlich approbierten Ärztinnen auf S. 176 oder Tabelle 6.2. über das Fächerspektrum der bis 1918 approbierten Fachärztinnen auf S. 214, welche einen hohen Anteil von Frauen in der Frauenheilkunde/Geburtshilfe aufweist).

Johanna Bleker und Sabine Schleiermacher ermöglichen durch ihre Darstellung detaillierte Einblicke in den Kampf der ersten Frauenbewegung um den Zugang der Frauen zum Beruf der Ärztin. Auch dass es sich keinesfalls um eine homogene Frauengruppe mit den gleichen Ausgangsbedingungen und vergleichbaren Motivationen handelt, wird deutlich. Innerhalb der Beschreibungen einzelner Lebenswege und Stationen hätte an manchen Stellen der Vergleich zu einer „durchschnittlichen“ männlichen Biografie geholfen, die spezifischen Aspekte der weiblichen Situation herauszuarbeiten. Nicht angesprochen wird zum Beispiel, ob für junge Männer der jeweils selben sozialen Schicht analoge Finanzierungsprobleme hinsichtlich der Ausbildung bestanden.

Nachdem die historische Frauenforschung seit langem das Sichtbarmachen weiblicher Leistungen einfordert, verwundert es die kritische Leserin außerdem, dass keine der oben genannten Mitarbeiterinnen als Koautorinnen auf dem Buchdeckel erscheint. Auch der eigene, nicht nur fachliche, sondern auch biografische Zugang zur Thematik bei den Autorinnen wird nicht kenntlich gemacht. Dies wäre für Leser/-innen, welche nicht aus dem engeren Bereich der medizinhistorischen Fachfrauen kommen, ebenfalls interessant gewesen.

Es befördert die Lesbarkeit auch für ein breiteres Publikum, dass methodologische Überlegungen in den Text integriert wurden und es keinen eigenen „Methodenteil“ gibt, wie bei akademischen Arbeiten sonst üblich. Für an Methoden der Frauenforschung speziell Interessierte wäre dies allerdings wünschenswert gewesen. Dass es angesichts vieler Lücken in der Quellenlage und der Vielfalt der individuellen Biografien keineswegs leicht war, im Material mit all seinen Verwicklungen und Widersprüchen einen „roten Faden“ zu finden und eine „Kollektivbiografie“ zu schreiben, macht eine der großen Leistungen dieser Studie aus, auch wenn an einigen Stellen die methodologischen und theoretischen Ansätze noch klarer hätten herausgearbeitet werden können. Beispielsweise wird auf S. 69 argumentiert, dass „autobiographische Materialien für die Hypothesenbildung von besonderem Gewicht“ seien, jedoch muss sich die Leserin diese Hypothesen dann etwas mühsam selbst zusammensuchen, da diese von den Ergebnissen der Autorinnen nicht explizit getrennt werden. Für weniger methodologisch Interessierte bedeutet dies jedoch wiederum leichtere Lesbarkeit.

Wer sich über die Wechselwirkungen von persönlichen Motivationen, Zielen, gesellschaftlichen Strukuren und Hierarchien, geschlechtsspezifischen Rollenbildern, Normen und Erwartungen und insbesondere für die individuellen Überschreitungen vorhandener Grenzsetzungen im Bereich des Ärztinnenberufes informieren will, wird in diesem Buch fündig werden. Die Details werden für unterschiedliche gesellschaftlich-politische Etappen der Entwicklung des Medizinerinnenstudiums zu nachvollziehbaren Linien gebündelt. So wird u. a. gezeigt, wie die Arten des Zugangs und die Zugangsweisen für Frauen zu Studium und beruflicher Praxis in der Medizin von der Situation im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik bis zu den Anfängen des Nationalsozialismus 1933 stark differieren und wie sich das gesellschaftlich dominierende Bild der weiblichen ärztlichen Tätigkeit innerhalb von 30 Jahren mehrfach geändert hat. Im Rahmen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse versuchten Frauen, sich mit individuellen Strategien zu entwickeln und durchzusetzen. Gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie dabei von einer organisierten Frauenbewegung unterstützt. Dies erleichterte den nachfolgenden Frauen den Weg. Gleichwohl wollte manche dieser jüngeren Ärztinnen mit der Frauenbewegung der professionellen „Mütter“ nicht mehr viel zu tun haben – ein Aspekt, welcher sich heute auf breiterer Ebene im Verhältnis von Studentinnen und zweiter Frauenbewegung ebenfalls als Problem zeigt.

URN urn:nbn:de:0114-qn023249

Dr. Margarete Maurer

Rosa Luxemburg Institut, Wien; Homepage: http://iguwnext.tuwien.ac.at/~rli/

E-Mail: margarete.maurer@univie.ac.at

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