Exzellenz und Chancengleichheit – (nicht nur) in den Naturwissenschaften schwer vereinbar

Rezension von Heike Kahlert

Kirsti Dautzenberg, Doris Fay, Patricia Graf (Hg.):

Frauen in den Naturwissenschaften.

Ansprüche und Widersprüche.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.

119 Seiten, ISBN 978-3-531-18352-7, € 24,95

Abstract: Im Mittelpunkt des von Kirsti Dautzenberg, Doris Fay und Patricia Graf herausgegebenen Sammelbands steht die Erörterung der Frage, wie Karriereverläufe von Frauen und Männern in der Wissenschaft durch Organisationspraktiken in Forschungseinrichtungen bedingt werden. Basierend auf eigenen empirischen Forschungsergebnissen werden in vier Kapiteln mit integrierten Kommentaren sowie Kurzporträts und Interviews von Forschungsbeteiligten und -unbeteiligten Einblicke in Aufstiegs- und Ausstiegsmechanismen der deutschen außerhochschulischen Forschung gegeben. Der leicht und gut lesbar daherkommende Band richtet sich an Wissenschaftspolitik und -management sowie Praktiker/-innen der Gleichstellungspolitik. Wissenschaftler/-innen hingegen könnten vertiefende Reflexionen der Ergebnisse vermissen.

Fest in Männerhand: Spitzenpositionen in der außerhochschulischen Forschung

Richtet man den Blick auf die deutsche außerhochschulische Forschung, so fällt schnell der verglichen mit den Hochschulen noch geringere Frauenanteil an den Leitungspositionen ins Auge: Lehrten im Jahr 2009 an deutschen Hochschulen immerhin 18,2 % Professorinnen insgesamt bzw. 10,5% Professorinnen auf dem höchsten Besoldungsniveau C4/W3, so betrug der Frauenanteil an den Institutsleitungen der außerhochschulischen Forschungsinstitute gerade 7,0%. Die in Deutschland seit einigen Jahren um sich greifenden Bestrebungen, ausgewählte hochschulische und außerhochschulische Forschungsinstitutionen der wissenschaftlichen Exzellenz zu schaffen und zu verstetigen, scheinen unverträglich mit den unermüdlich seit den 1980er Jahren vorangebrachten Anstrengungen um die Herstellung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Wissenschaft, insbesondere wenn es um Spitzenpositionen in der außerhochschulischen Forschung geht.

Organisationsstrukturen der naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen im Fokus

Die Naturwissenschaften gelten als besonders resistent gegenüber gleichstellungspolitischen Anstrengungen und sind zugleich besonders empfänglich für den Wettbewerb um Exzellenzauszeichnungen. Ab der Postdoc-Phase, dem eigentlichen Beginn einer wissenschaftlichen Laufbahn, ist die Kluft zwischen den Geschlechtern in dieser Fächergruppe besonders auffällig. Wie diese Kluft erklärt werden kann, warum in dieser Fächergruppe der Frauenanteil an den Professuren so klein ist und was getan werden kann, um die Karrieremöglichkeiten von Wissenschaftlerinnen zu verbessern, wird in dem von Kirsti Dautzenberg, Doris Fay und Patricia Graf herausgegebenen Sammelband beleuchtet. Die Grundlage bilden Ergebnisse des Forschungsprojekts „Frauen und ihre Karriereentwicklung in naturwissenschaftlichen Forschungsteams“ an der Universität Potsdam, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom Europäischen Sozialfonds für Deutschland gefördert wird. In diesem interdisziplinären Projekt wird der Fokus auf die Organisationsstrukturen der außerhochschulischen naturwissenschaftlichen Forschung wie z. B. der Max-Planck-Gesellschaft oder der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren gerichtet.

Die Herausgeberinnen wollen die Bemühungen zum Abbau von Geschlechterungerechtigkeiten, die es in den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen gibt, unterstützen und richten sich daher an „Wissenschaftspolitik und -management sowie PraktikerInnen der Gleichstellungspolitik“ (S. 8). Dies wird nicht zuletzt deutlich am Umfang, der mit 119 Seiten sehr überschaubar ist, aber auch an der Komposition des Bandes, der sich aus 4 Beiträgen zu wissenschaftlichen Ergebnissen des Projekts zuzüglich Vorwort und Ausblick, integrierten Kommentaren sowie Kurzporträts und Interviews von Forschungsbeteiligten und -unbeteiligten zusammensetzt.

Organisationale Praktiken und Karriereentscheidungen von Wissenschaftler/-innen

Im Zentrum des Bandes stehen Erörterungen zur Frage, „wie organisationale Praktiken in den Forschungseinrichtungen Karriereentscheidungen von Frauen und Männern in der Wissenschaft bedingen“ (S. 8). Mit diesem Fokus wollen die Herausgeberinnen einen Einblick in Aufstiegs- und Ausstiegsmechanismen der deutschen außerhochschulischen Forschung geben.

Annett Hüttges und Doris Fay stellen im ersten Kapitel knapp die zentralen theoretischen Erklärungsansätze vor, auf die sich das Projekt stützt. Dazu zählen die Balancierung und Priorisierung beruflicher und privater Ziele, männliche Karrierekulturen, vergeschlechtlichte Organisationsstrukturen und -prozesse, die Leistungserbringung als Aufstiegswährung in einem ‚fairen‘ Wettbewerb sowie Geschlechtsrollenstereotype. Ziel dieser Kombination von Ansätzen ist es, „das Wechselspiel aus individuellen Bewältigungsprozessen einerseits und etablierten organisationalen Strukturen mit ihren daraus folgenden Ansprüchen, Widersprüchen und Karrierechancen andererseits“ (S. 18) genauer zu untersuchen. Warum hier keine Theorien der Geschlechterforschung zur Wissenschaft herangezogen werden, bleibt offen.

Deutschland beim Frauenanteil in Wissenschaftseinrichtungen weit abgeschlagen

Im zweiten Kapitel präsentieren Patricia Graf, Kirsti Dautzenberg, Nadja Büttner und Sylvia Schmid die Ergebnisse der eigenen statistischen Untersuchung zur aktuellen Personalsituation in der außerhochschulischen Forschung im Vergleich mit hochschulbezogenen Daten. Die von ihnen vorgenommene fächergruppenspezifische Differenzierung gliedert die einzelnen Disziplinen nach Geschlecht und Vergütungsgruppe bzw. Qualifikationsstufe auf und geht damit für die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen über die bisher vorliegenden Daten der amtlichen Statistik hinaus. In der Analyse der Daten wird deutlich, dass das Geschlechterungleichgewicht zuungunsten der Frauen an den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen in den Fächergruppen Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften noch stärker als an den Hochschulen ist. Der europäische Vergleich zeigt schließlich, dass Deutschland in Europa hinsichtlich des Frauenanteils in Wissenschaftseinrichtungen vor allem in den Naturwissenschaften fast durchweg auf den hinteren Plätzen liegt. Die Autorinnen schlussfolgern, dass die gläserne Decke in Deutschland besonders stabil ist.

Erklärungen für die Unterrepräsentanz von Wissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen

Besonders spannend ist das dritte Kapitel, in dem Patricia Graf Ergebnisse von 16 qualitativen Interviews mit „ExpertInnen“ aus Geschäftsstellen vier ausgewählter außerhochschulischer Forschungsgesellschaften und drei Einrichtungen der Ressortforschung vorstellt. Die Erklärungsansätze sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: So sei der Frauenverlust naturgemäß; Männer brächten eher alle Voraussetzungen mit; die Karrieren seien riskant und damit Karrierechancen eng und unsicher; die für Stellenentscheidungen einflussreichen gate keeper seien mehrheitlich mittleren Alters und männlich und wirkten geschlechterdiskriminierend; Rekrutierung geschehe aus Netzwerken, in denen männlich-homosoziale Praxen vorherrschten und Frauen nicht genügend sichtbar seien; schließlich sei auch Tokenismus einflussreich. Graf schlussfolgert, dass der Großteil der vorherrschenden Erklärungsansätze eher auf die individuelle oder gesellschaftliche Ebene zielt, während nur ein kleinerer Teil der Interviewten auch organisationale Hemmnisse für den Karriereweg thematisiert.

Einfluss der Organisationsstrukturen auf die Karriereentwicklung von Wissenschaftlerinnen

Im vierten Kapitel fragen Patricia Graf und Sylvia Schmid nach den strukturellen Voraussetzungen für den Karriereerfolg von Wissenschaftlerinnen in außerhochschulischen Forschungseinrichtungen. Basierend auf den bereits erwähnten 16 qualitativen Interviews beleuchten sie die Themenbereiche Rekrutierung, Förderinstrumente, Arbeitsumfeld und Chancengleichheit von Wissenschaftler/-innen. Das Thema Chancengleichheit und Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie habe bei den Befragten an Gewicht gewonnen, was sich an ausgereiften Gleichstellungskonzepten und in Evaluationen zeige. Bei den Anforderungen an Wissenschaftler/-innen, den Mechanismen zur Rekrutierung und Beförderung sowie beim Arbeitsumfeld rücke jedoch der hohe Grad an Informalität ins Blickfeld, und das Bild der exzellenten Wissenschaftler/-innen werde mit dem der sichtbaren Wissenschaftler/-innen gleichgesetzt, oft zum Nachteil von Personen, die sich dem Anwesenheits- und Vernetzungskult nicht anschließen bzw. nicht anschließen könnten. Schließlich werde den Personalenwicklungsinstrumenten von den Führungskräften sehr geringe Unterstützung entgegengebracht.

Für eine Frauenquote in naturwissenschaftlichen Spitzenpositionen

Mit Blick auf aktuelle wissenschaftspolitische Entwicklungen und den sich verschärfenden Wettbewerb der Institutionen und Personen um wissenschaftliche Exzellenz schlussfolgern die Herausgeberinnen in ihrem Fazit: „Es scheint, dass gerade der Exzellenzdruck, unter dem die außerhochschulischen Forschungseinrichtungen heute mehr denn je stehen, zu einem Leitbild von Wissenschaft führt, das mit dem Leitbild der Chancengleichheit nur schwer vereinbar ist. […] Konservative Geschlechterbilder existieren fröhlich weiter.“ (S. 107 f.) Die Umsetzung der Gleichstellungsmaßnahmen liege vor allem bei den gate keepern, die in den Naturwissenschaften nach wie vor vorwiegend männlich seien.

Um Optimismus bemüht verweisen Dautzenberg u. a. auf die eingestreuten Interviews (mit fünf Frauen und zwei Männern) und den Kommentar von Bärbel Kerber, die auf einen sukzessiven Wandel der Erwartungen an allumfassende Präsenz am Arbeitsplatz auch bei Wissenschaftlern hindeuteten. Dass sie sich zugleich beiläufig Forderungen nach Quoten anschließen, belegt jedoch unmissverständlich, dass ihr Vertrauen in die Wirkungsmacht sich verändernder Einstellungen und Praxen von männlichen Führungskräften in den Naturwissenschaften begrenzt ist. Möglicherweise ist diese Quotenforderung das wichtigste Ergebnis des ansonsten leicht, unterhaltsam und gut lesbar daherkommenden Bandes, dem es zu wünschen ist, dass er seine Zielgruppen erreicht. Die wissenschaftlich interessierte Leserin wünscht sich allerdings mehr reflektierende Diskussion und theoretische Einbettung der empirischen Ergebnisse und ist gespannt auf weitere, an die Wissenschaft adressierte Publikationen aus dem Projekt.

Prof. Dr. Heike Kahlert

Ludwig-Maximilians-Universität München

Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung für Soziologie mit dem Schwerpunkt „Soziale Entwicklungen und Strukturen“

Homepage: http://www.heike-kahlert.de

E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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