Im Widerstreit – Umrisse einer Programmatik feministischer Theorie

Rezension von Tina Jung

Gudrun-Axeli Knapp:

Im Widerstreit.

Feministische Theorie in Bewegung.

Wiesbaden: Springer VS 2012.

507 Seiten, ISBN 978-3-531-18267-4, € 34,95

Abstract: Gudrun-Axeli Knapp hat mit ihrem Sammelband eine beeindruckende und überaus umfangreiche Werkschau aus 25 Jahren feministischer Theoriebildung vorgelegt. Der Band ist in vier thematische Blöcke unterteilt, die um Weiblichkeitskritik, feministische Aneignungen der Kritischen Theorie, Intersektionalität und die Frage nach der Gestalt feministischer (theoretischer) Kritik kreisen. Dabei überzeugt die Autorin nicht nur durch ihre sorgfältigen wie streitbaren Argumentationen und Auseinandersetzungen im Terrain feministischer Theorie; reizvoll gestaltet sich überdies das Nachspüren jener Denkfigur über die Einzelbeiträge des Sammelbands hinweg, die auch den Titel des Bandes prägt: „im Widerstreit“. Damit legt Knapp auch Umrisse einer Programmatik feministischer Kritik vor.

Publish or perish – und wie es besser sein kann

Der Re-Print bereits vorliegender Einzelbeiträge weckt nicht selten den Verdacht, Blüte eben jener unter der Wendung publish or perish kursierenden akademischen Veröffentlichungswut zu sein, in die sich Wissenschaftler/-innen unter dem karrierestrategischen Druck zum Ausbau ihrer Publikationslisten verstricken (müssen). Wird dabei eine Sammlung von bereits gedruckten Einzelaufsätzen zu einem eigenständigen Band zusammengefasst, setzt man sich überdies weiteren Schwierigkeiten aus: Nicht nur passen sich die – ursprünglich zu anderen Anlässen verfassten – Beiträge zumeist nur schwerlich in ein nachträglich ersonnenes konzeptionelles Gesamtgefüge ein. Die so (wieder) veröffentlichten Aufsätze sind darüber hinaus gerne dem Dünkel ausgesetzt, lediglich Randnotizen neben dem eigentlichen Hauptwerk oder gar dem erwarteten ‚großen Wurf‘ zu sein.

Der vorliegende Band Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung von Gudrun-Axeli Knapp gehört eben jener, zunächst als nicht unproblematisch verdächtigten Publikationsgattung an; denn bis auf einen sind alle der insgesamt 17 Beiträge des Bandes bereits in Fachzeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht worden. Auf äußerst wohltuende Weise treffen die eingangs geäußerten Befürchtungen aber nicht zu; und dies wiederum ist eben nicht nur dem Umstand geschuldet, dass Gudrun-Axeli Knapp dank ihres Status als emeritierte Professorin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität Hannover von publizistischen Karrierezwängen weitgehend (be)frei(t) sein dürfte. Vielmehr zeugt der Band von der Qualität und Originalität der Arbeiten Knapps. Dies soll im Folgenden anhand dreier Perspektiven auf den Band verdeutlicht werden.

Werkschau in vier thematischen Blöcken

Zunächst macht der Blick ins Inhaltsverzeichnis klar, dass es sich bei den zusammengestellten Aufsätzen keinesfalls um Marginalien handelt. Der Band Im Widerstreit liest sich eher als eindrucksvolle und überaus umfangreiche (500 Seiten!) Werkschau der theoretischen Arbeiten von Gudrun-Axeli Knapp. Einzelbeiträge aus einem knappen Vierteljahrhundert gruppieren sich dabei um vier thematische Schwerpunkte, die damit gleichzeitig als zentrale Arbeits- und Forschungsschwerpunkte der Autorin ausgewiesen werden:

Der erste Themenblock vereint unter dem Titel „Rückblenden: Auseinandersetzungen mit Weiblichkeit“ drei Beiträge, in denen sich die Autorin z. B. entlang der Frage nach „Arbeitsteilung und Sozialisation“ und „dem weiblichen Sozialcharakter“ zentral damit beschäftigt, „was eigentlich ‚Frauen‘ sind, was ‚Weiblichkeit‘ und Geschlechterdifferenz heißen könnte“ (S. 16). In diesen Beiträgen (teilweise die ältesten des Bandes) dokumentiert sich dabei auch der Beginn des genuin feministischen Denkens und theoretischen Eingreifens von Knapp. Die hier vorgestellten Kritiken an Weiblichkeit sind mittlerweile weitgehend von den Debatten um Dekonstruktion, Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit abgelöst. Aus heutiger Sicht und vor allem für jüngere Feministinnen gestalten sich Begrifflichkeiten und Positionsbestimmungen von z. B. ‚Münchner‘, ‚Bielefelder‘ und ‚Hannoveraner‘ Ansätzen daher etwas sperrig und ungewohnt. Dennoch werden in diesem Themenblock mehr als nur die historischen innerfeministischen Lern- und Forschungsprozesse illustriert; die Auseinandersetzung etwa mit dem ‚weiblichen Arbeitsvermögen‘ lädt zur Reflexion ein, ob und wie die von Knapp entwickelten Kritikperspektiven auch im Kontext der ‚Entdeckung‘ des sogenannten weiblichen Humankapitals aktualisiert werden können.

Der zweite Abschnitt des Bandes ist den „Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung“ (so der Titel einer der beiden Beiträge des Abschnitts) gewidmet. Die Autorin skizziert in diesem Teil zum einen die feministische Rezeption der Kritischen Theorie und macht dabei u. a. auf unterschiedliche Rezeptionslinien zwischen der US-amerikanischen und deutschen feministischen Debatte aufmerksam. Zum anderen arbeitet sie die widersprüchliche feministische Bezugnahme auf die Kritische Theorie als Traditionen-Bruch (vgl. S. 129 ff.) und als Prozess der „Aneignung aus der Kritik“ (S. 136) heraus. Dabei plädiert Knapp dafür, die in der Kritischen Theorie liegenden Anregungen für feministische Theorie – auch über die Kritik an androzentrischen Einlagerungen hinaus – fruchtbar zu machen.

Im dritten, mit acht Beiträgen umfangreichsten Teil des Bandes versammeln sich unter dem Titel „Aporie als Grundlage: Denken in Bewegung“ Aufsätze, die sich mit der „spezifischen Produktivkraft feministischer Erkenntnisproduktion“ (S. 19) befassen. So disparat und changierend die einzelnen inhaltlichen Gegenstände der hier versammelten Beiträge sein mögen, so lässt sich doch als eine Art übergreifendes Interesse die Frage nach dem „Was ist?“ der feministischen Theorie herauslesen. Knapp beschäftigt sich z. B. mit den verschiedenen Formen von Bindung in der „imagined community“ (S. 197) des Feminismus. Die eigentliche Spezifik des feministischen Diskurses speise sich aus ihrer aporetischen Grundstruktur: „Die strukturelle Aporie besteht in der Unverzichtbarkeit und gleichzeitigen Unmöglichkeit einer fundierenden Bezugnahme auf ein epistemisches und politisches Referenzsubjekt“ (S. 196). Zudem zielen die Überlegungen der Autorin in diesem Abschnitt auf eine Klärung der Umrisse von feministischer Kritik. So widmen sich gleich mehrere Aufsätze verschiedenen Theorieansätzen zur Analyse von „Macht und Geschlecht“ (S. 225 ff.), modernisierungstheoretischen Ansätzen (S. 261 ff.) und dem affidamento-Konzept (S. 261 ff., 287 ff.) sowie der feministischen Perspektive auf die und in der sogenannten Postmoderne (S. 329 ff.). Alle Beiträge sind dabei von dem Bemühen der Autorin bestimmt, die jeweiligen Reichweiten, Potentiale und Grenzen der besprochenen Ansätze für feministische Kritik auszuloten. Sie beharrt darauf, dass feministische Kritik die je von einzelnen – und durchaus differenten – Theorieansätzen erarbeiteten Analyse- und Erkenntnisdimensionen in ihrer Zusammenschau braucht. Dass dies durchaus mit Spannungen verbunden sein kann, zeigen zwei Artikel, die sich mit dem Verhältnis von west- und ostdeutschen Feministinnen in der Wendezeit befassen. Ergänzt wird dieser Themenblock mit Metareflexionen zum „Vokabular der Gesellschaftsanalyse“ (S. 385) sowie zur These vom „Bedeutungsverlust der Kategorie ‚Geschlecht‘“ (S. 301).

Der vierte und letzte Themenblock ist schwerpunktmäßig der Intersektionalität und den Debatten um „race, class, gender“ gewidmet. In insgesamt vier Beiträgen wird das Konzept der Intersektionalität einerseits einer eingehenden theoretischen Auseinandersetzung im Hinblick auf die darin angelegten Herausforderungen unterzogen; demzufolge mache gerade der Intersektionalitätsdiskurs den „Bedarf an komplexeren Formen der Theoretisierung von Herrschaft und Ungleichheit in einem gesellschaftstheoretischen Horizont“ (S. 443) sichtbar – und könne so feministische Theorie hinsichtlich ihrer gesellschaftstheoretischen Grundlagen inspirieren. Andererseits weist sie kenntnisreich nach, dass und in welcher Hinsicht die Diskussionen um Intersektionalität enorm kontextbezogen sind und gerade angesichts der Internationalisierung der feministischen Theoriebildung in besonderem Maße als „traveling theories“ (S. 403 ff.) reflektiert werden müssen.

Konstellationen des Denkens

Wie Knapp selbst resümiert, handelt es sich bei den im Band versammelten Texten mal um „direkte Interventionen in aktuelle Debatten, dann wieder [um] Versuche, das bewegte Terrain feministischer Theorie in Form von Überblicken zu sondieren und zu strukturieren, mal sind es zustimmende oder kritische Kommentare zu den Einschätzungen anderer, dann wieder Abarbeitungen an bestimmten Theorietraditionen“ (S. 15). So kommt es zwar in der Zusammenschau der Einzelbeiträge manchmal zu kleineren inhaltlichen Redundanzen; da diese jedoch in zumeist unterschiedliche Argumentationsmuster eingewoben sind, unterstützen diese Perspektivwechsel die Kristallisation eines bestimmten Profils des Arbeitens von Gudrun-Axeli Knapp. Denn was sich hinsichtlich der Konstellationen des Denkens gerade im Querschnitt der Einzelbeiträge am eindrücklichsten als roter Faden entpuppt, ist u. a. ihr Bemühen um „Übersetzungsarbeit und das Herstellen von Kontexttransparenz“ (S. 130) angesichts der Unsicherheit eines Fundaments „geteilter Erfahrung“ (ebd.) im Feminismus. Die Autorin begreift die „Erfahrungsbindung von Theorien und Begriffen [als] Quellen der Anregung und Erweiterung von Problemhorizonten“ (ebd.); entsprechend ist ihre Arbeitsweise davon geprägt, Argumente und Diskussionsverläufe zu rekonstruieren und zur Klärung in unübersichtlichem theoretischem Gebiet beizutragen. Der Stil ihrer Auseinandersetzung mit widerstreitenden Theorieangeboten ist dabei gleichermaßen engagiert-streitbar wie anerkennend-nachvollziehend – ist sie doch weniger daran interessiert, einen bestimmten Ansatz dogmatisch zu verteidigen oder zu verwerfen, sondern vorrangig daran, die Potentiale, aber auch Grenzen unterschiedlicher Analyseperspektiven systematisch einer kritischen Diskussion zugänglich zu machen. Knapps Arbeiten zielen insofern immer auch auf die Stärkung des selbstreflexiven Potentials feministischer Theorie insgesamt; es geht ihr um das Vorantreiben eines kritischen Problembewusstseins mit dem Ziel, präzisere Fragen stellen zu können. Dabei überzeugt Knapp durch ihre äußerst sorgfältigen – wenngleich manchmal dadurch etwas weitschweifig wirkenden – Re-Strukturierungen des epistemischen Terrains feministischer Theoriebildung.

Im Widerstreit. Umrisse eines Profils feministischer Kritik

Was die im Laufe der vergangenen 25 Jahre entstandenen Einzelbeiträge jenseits der thematischen Gruppierungen und des Denk- und Arbeitsstils von Knapp zusammenhält, ist die Herausbildung eines spezifischen Umrisses von feministischer Kritik – dessen Kern sich im Titel des Bandes artikuliert findet: „im Widerstreit“. In dieser Metapher spiegelt sich zunächst der Hinweis auf die Vielstimmigkeit und Heterogenität der feministischen Theoriebildung. Feministische Theorie ist keine einheitliche Forschungsrichtung, sondern ein dezidiert interdisziplinärer Zusammenhang, der sich durch ein hohes Maß an Selbstreflexion und einen „offensiven Eklektizismus“ (S. 212) auszeichnet. Die Autorin arbeitet auch eindrucksvoll die aus ihrer Sicht spezifische Struktur feministischer Theorie heraus; so sei diese immer eingebunden in die Spannung zwischen „Gleichheit, Differenz und Dekonstruktion, zwischen Tradition und Traditionsbruch, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Politik“ (S. 153). Knapp folgt vor diesem Hintergrund der Überzeugung, „dass feministische Aufklärung und Kritik nicht nur beiläufig, sondern wesentlich Reflexion der Dialektik und nicht-intendierten Nebenfolgen feministischer Aufklärung sein muss.“ (S. 23) Ziel müsse es auch sein, das gesellschaftlich Getrennte (wie z. B. private Fürsorgearbeit und Erwerbsarbeit) in Zusammenhang zu bringen.

Die – in den versammelten Einzelbeiträgen angelegten – wesentlichen Züge dieses schillernden Profils feministischer Kritik als „Widerstreit“ und „Theorie in Bewegung“ hat Knapp in eine eigenständige Einleitung in den Band überführt. Dass diese erst jetzt ihre Erwähnung findet, ist der Tatsache geschuldet, dass die Einleitung nicht nur einführend, sondern auch und insbesondere im Nachgang besondere Wirkung entfalten kann. Denn die Autorin weitet hier die sonst im Band vorrangig auf Theoriebildung bezogene Metapher vom Widerstreit aus: einerseits auf die Verbindungen zwischen „Frauenbewegungen, Frauenforschung, Gleichstellungsstellen und frauenbewegten Politikerinnen“ (S. 7); andererseits auf die widersprüchlichen gesellschaftlichen und institutionellen Produktionsbedingungen, denen feministische Kritik (z. B. in der Wissenschaft) unterliegt. Damit spannt sie den Bogen auch zu den konkreten Herausforderungen und Problemstellungen, mit denen sich feministische Kritik unter den gegebenen Bedingungen konfrontiert sieht. Angesichts veränderter feministischer Öffentlichkeiten mahnt Knapp umso mehr die Notwendigkeit auch feministischer Binnenkritik an. Feministische Theorie als ‚Widerstreit‘ zu begreifen, ermuntert vor diesem Hintergrund auch nachdrücklich zur Wahrung des „Moments der Freiheit“, der darin liege, dass „in der Wissenschaft die Fragen immer größer werden dürfen als die Antworten“ (S. 500).

Theorie und Engagement – ein Resümee

Die feministischen Kritikperspektiven, die die Autorin im vorliegenden Band entwickelt, bleiben dabei aber trotz der partiellen Rückbindung an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungsdynamiken zuvorderst auf das Feld der Theoriebildung bezogen. Damit gerät Knapps Verständnis von feministischer Theorie als Widerstreit insofern sehr ‚akademisch‘, als sie wissenschaftliche Konzepte diskutiert und realiter wohl überwiegend wissenschaftliche Diskursgemeinschaften adressieren dürfte, sowie überdies kaum auf konkrete Praxen der Frauenbewegung reflektiert oder dieser gar Praxiskonzepte an die Hand gibt. Dies mag auf den ersten Blick der vielerorts beschworenen Praxisrelevanz kritisch-feministischer Wissenschaft nicht genügen. Zwar rekurriert auch Knapp auf die Verortung feministischer Theorie im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Doch will sie nicht einem verkürzten Verständnis von Praxistauglichkeit aufsitzen, das sich vorrangig als „Positivierungsdruck“ äußere, „der sich bis auf die Ebene der Analyse durchsetzen kann“ (S. 105). Sie beharrt vielmehr auf der „Radikalität des Differenzierens“ (S. 117) und der Sorgfältigkeit kritischer Reflexion. Gerade darin offenbart sich eine nicht weniger engagierte Parteilichkeit Knapps: „Wenn ich daran festhalte, nicht von der Anstrengung des Begriffs und der Differenzierung zu lassen, dann auch aus der Einsicht heraus, daß das Denken in Abstraktionen – und ein leerer Begriff vom ‚Patriarchat‘ und von ‚der Frau‘ hat daran teil – selber in den Gewaltzusammenhang gehört, der uns betrifft“ (S. 227).

Insgesamt – und nicht zuletzt dank der so zum Ausdruck kommenden Eigensinnigkeit des Arbeitens von Gudrun-Axeli Knapp – präsentiert sich der Sammelband Im Widerstreit als gewaltiger und beeindruckender Fundus intellektueller Inspiration, der unbedingt und ohne Einschränkung als jetzt schon ‚Klassikerin‘ feministischer Theoriebildung weiterempfohlen gehört.

M.A. Tina Jung

Philipps-Universität Marburg

Interdisziplinäres Promotionskolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“

Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb03/genderkolleg/stips/jung_kurzbiografie

E-Mail: tina.jung@staff.uni-marburg.de

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