Christina Scherer:
Ivens, Marker, Godard, Jarman.
Erinnerung im Essayfilm.
München: Fink 2001.
415 Seiten, ISBN 3–7705–3576–6, € 39,88
Abstract: Christina Scherer weist in ihrer Dissertation die strukturelle Äquivalenz zwischen einer essayistischen Filmästhetik und dem Prozess des Erinnerns auf. Ivens, Marker, Godard und Jarman thematisieren in und mit ihren Filmen die Unverfügbarkeit der Erinnerung und halten trotz ihres Zweifels an der Abbildbarkeit von Welt und ihrer Einsicht in die Uneinholbarkeit der Vergangenheit den Horizont der Möglichkeit von Erinnerung offen. In Essayfilmen sind es vor allem die selbstreflexive Selbstvergewisserung, die Einsicht in das unausweichliche Verfehlen der Vergangenheit und der melancholische Rückblick auf eine verloren gegangene Ganzheit, die einen fühlenden Verstand und ein denkendes Herz generieren.
Warum habe ich dieses Buch gewählt? Links über meinem Computertisch hängt seit Jahren ein Filmplakat. In Momenten des Innehaltens und Nachdenkens ruht und versinkt mein Blick in diesem schwarzen Bild. Das Schwarze wird im unteren Drittel durch fette rote Großbuchstaben durchbrochen. Dieses Rot korrespondiert mit der roten Kopfbedeckung eines asiatischen Gesichtes, welches das Schwarz aus der rechten oberen Ecke verdrängt. Die Augen des im Halbprofil photographierten Mädchens blicken nach links unten, über das Schwarze des Bildes hinaus, von mir weg, auf meinen Lesesessel. Ein helles leicht rosa Leuchten einer Laterne links vom Porträt lenkt vom Gesicht ab – aber nur scheinbar. Rechts oben auf dem schwarzen Hintergrund zwei weiße kleine Schriftzeilen. Kapitälchen: Ein Film-Essay von Chris. Marker
Dieses Plakat, vor Jahren ein Geschenk einer Freundin, gedacht, meine Enttäuschung darüber zu mildern, dass es nicht mehr möglich war, Sans Soleil, eben jenen Film, den das Plakat ankündigt, in unserem Kino zu spielen. Sans Soleil, seit Jahren erklärtermaßen mein Lieblingsfilm, ist, zumindest in Deutschland, nicht mehr spielbar, der Rechte wegen.
Diese Unerreichbarkeit des Films verändert die Bedeutung des Plakats. In das Plakat – links über meinem Computertisch – hat sich so nun das Wesentliche des Films selbst eingeschrieben: Die uneinholbare Vergangenheit, das melancholische Erinnern eines vergangenen Glücks und die Suche nach dem Bild des Glücks am Anfang aller Bilder.
Am Anfang stand meine Frage: Wie wird in einer wissenschaftlichen Qualifikationsschrift ein Film analysiert, der meiner Einschätzung nach besser mit der rechten Gehirnhälfte gesehen und aufgenommen werden kann? Wie nähert sich eine Doktorandin wissenschaftlich einem Film, der so beginnt: „Das erste Bild, von dem er mir erzählte, zeigt drei Kinder auf einer Strasse in Island, 1965. Er sagte mir, es sei für ihn das Bild des Glücks, und auch, dass er mehrmals versucht habe, es mit andern Bildern in Verbindung zu bringen – aber das sei nie gelungen. Er schrieb mir: ‚[…] ich werde es eines Tages ganz allein an den Anfang eines Films setzen, und lange nur schwarzes Startband darauf folgen lassen. Wenn man nicht das Glück in dem Bild gesehen hat, wird man wenigstens das Schwarz sehen‘.“ (Filmprotokoll, Prolog)
Christina Scherer, die für ihre Dissertation mit dem Wissenschaftspreis der Albert-Osswald-Stiftung ausgezeichnet worden ist, erschließt nicht nur das Misch-Genre des Essayfilms in seinen inhaltlichen wie formalen Bedingungen, sondern sie versucht darüber hinaus, die essayistische Filmsprache mit dem Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs zu verknüpfen. Erinnerung sei im Essayfilm auch deshalb ein bevorzugtes Thema, weil Gedächtnis und Essayfilm in ihrem Prozess der Selbstkonstitution ähnlich verfahren und eine äquivoke Struktur aufweisen, so Scherers Grund- und Ausgangsthese.
Mit großem Kenntnisreichtum hat Christina Scherer zur Erforschung der Erinnerung im Essayfilm ein breites Feld philosophischer, soziologischer, psychoanalytischer, literaturwissenschaftlicher und filmtheoretischer Wissensbereiche sorgfältig, wenn auch nicht immer leicht lesbar, erschlossen. Die Breite ihrer jeweiligen Literaturkenntnis ist ebenso beeindruckend wie überwältigend.
Scherers Arbeit ist klar strukturiert und in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil legt die Autorin ihre theoretischen Zugänge zum Essayfilm und zum Erinnerungs- bzw. Gedächtnisdiskurs offen. Der Essayfilm entziehe sich einer gattungdefinitorischen Festschreibung. Mehrheitlich als Subkategorie des Dokumentarfilms wahrgenommen und vom Spielfilm geschieden, lasse sich der Essayfilm aber, in Anlehnung an den literarischen Essay, als eigenständige Form beschreiben. Diese essayistische Form zeichnet sich nach Scherer durch folgende Merkmale aus: ihre Subjektivität und ihre Selbstreferentialität, ihren Zweifel am Bild und der Abbildbarkeit von Welt, ihrem Wissen um die Vorläufigkeit von Erkenntnis, ihre Frage nach der Bedeutung von Begriffen und Sinnkonstitutionen, ihre multiperspektivische Sicht, ihren fragmentarischen Charakter, ihre poetische Ausdrucksweise und ihre Rezeptionsästhetik. Um zu zeigen, dass sich die Form des Essayfilms mit Modellen der Erinnerung und des Gedächtnisses beschreiben lasse und diese strukturäquivalent seien, referiert Scherer ausführlich die Grundzüge des Gedächtnisdiskurses.
Im Anschluss an Maurice Halbwachs‘ Konzept des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses geht Scherer von der gesellschaftlichen Vorstrukturiertheit jedes individuellen Gedächtnisses aus. Wie die filmwissenschaftliche Diskussion um das „Dokumentarische“ im Dokumentarfilm die Frage nach der grundsätzlichen Erkennbarkeit von Realität und Authentizität berührt, so geht es innerhalb der Debatte um Erinnerung und Gedächtnis im Kern um die Frage nach der Verfügbarkeit der Vergangenheit, letztendlich also auch um die Erinnerbarkeit einer gewesenen, authentischen Realität. In Übereinstimmung mit den Gedächtnis- und Erinnerungstheoretiker/-innen geht Scherer davon aus, dass Vergangenheit nicht universal, also nicht „unabhängig von zeitlichen und ‚gruppenspezifischen‘ (gesellschaftlichen, kulturellen u. a.) Kontexten im Gedächtnis repräsentiert“ werden kann, dass Erinnerung immer relativ und veränderlich ist und dass die Gegenwart die Vergangenheitsrepräsentation grundlegend mitbestimmt (S. 57). Jedes Erinnerungsbild von der Vergangenheit ist in einen kollektiven Erinnerungsrahmen eingehängt. Dem entsprechend beziehen sich im Essayfilm die Inszenierungen individueller Erinnerungsbilder immer auf Wissensbestände, die im kulturellen Gedächtnis überliefert sind. Der Essayfilm stellt eine „Reflexion theoretischer Standpunkte des Filmautors und seiner individuellen künstlerisch-praktischen Erfahrung“ dar (S. 16). Das Äquivalent von Erinnerung bzw. Gedächtnis und Essayfilm verdeutlicht die Autorin an folgenden drei Aspekten
Auf dieser theoretischen Grundlage analysiert Christina Scherer im zweiten Teil ihrer Arbeit sechs Essayfilme der vier bereits im Titel benannten Regisseure:
Im dritten Teil fasst Scherer ihre empirischen Analysen zusammen und stellt abschließend ihren Ansatz einer Poetik des Essayfilms vor. Im folgenden referiere ich die Analysen der einzelnen Filme im Zusammenspiel mit dieser Poetik des Essayfilms.
Bei allen Filmen finden sich, meist zu Beginn, selbstreferentielle und selbstreflexive Verweise auf ihren Entstehungsprozess oder ihre Vorführsituation (Geräusche eines Filmprojektors, schwarzes Startband, weiß erleuchtete Leinwand, die Filmapparaturen u. v. a.). Keiner der besprochenen Filme verfolgt eine klassische einlinige Erzählweise. Derek Jarman spricht in The Garden wörtlich von vielen Pfaden: „there were many paths and many destinations“ (S. 326). Damit beschreibt er die essayistische Verfahrensweise. Denn eine essayistische Erzählung verströmt sich in verschiedene Richtungen. Bei allen vier Regisseuren lässt sich auch eine Fiktionalisierung der Erinnerung und des eigenen Lebens feststellen. Meistens ist es die im Bild oder in der Stimme anwesende Präsenz des Filmautors, die einen Essayfilm zusammenhält. Die Entscheidung zur radikalen Subjektivität führt zu ästhetischen Konsequenzen. So erweist sich das Fragment und die Montage als das entscheidende ästhetische Formgebungsprinzip. Dabei steht das Fragment oft für eine verloren gegangene Einheit, „die nur noch in den Imaginationen des Vergangenen besteht und womöglich nie existiert hat“ (S. 341). Das vernunftkritische Festhalten an verloren geglaubtem Sinn führt dann zur Poesie des Essayfilms. Denn „Poetisieren heisst ‚Sinn in die Welt hinein lesen‘ (Derek Jarman, zit. nach S. 341). Nicht dem Wissen, sondern nur der Kunst, der Poesie gelänge es, eine verloren gegangene Welt wenigstens bruchstückhaft wieder aufscheinen zu lassen. Um den in der Gegenwart mitgeführten Index der Vergangenheit (Walter Benjamin), um diese verloren gegangene, vielleicht auch nie existiert habende Einheit von Ich und Ich, von Abbild und Abgebildetem und von Gewesenem und Erinnertem geht es auf je unterschiedliche Weise allen vier Regisseuren. Deshalb geschieht im Essayfilm die Hinwendung zur Vergangenheit meistens in einem melancholischen Gestus. In einer Situation, in der die Gegenwart als leer und abgetrennt empfunden wird, eröffnet sich in der Hinwendung zum Vergangenen so etwas wie „Hoffnung zum Trotz“ oder „trotzdem“. Die filmische Erzählzeit schmilzt so auf den Punkt zusammen, an dem der Filmautor die verlorene Einheit visioniert, träumt oder erinnert. Dabei wird nicht so sehr die Vergangenheit erinnernd vergegenwärtigt als vielmehr die Gegenwart. Im erinnernden Ertasten vergangener Begebenheiten können nämlich nicht die Geschehnisse an sich erkannt werden – das ist die Quintessenz des Gedächtnisdiskurses – als vielmehr ihre Schatten und Rätselspuren. Diese Schatten sind es, die die Essay-Filmer auf Zelluloid zu bannen versuchen, um so, noch im unausweichlichen Verfehlen der Vergangenheit kontrafaktisch die verloren gegangene Einheit und das uneinholbar Vergangene offen zu halten.
Joris Ivens bedient sich dafür in seinem Lebensrückblick Histoire De Vent eines antizipierenden Gedächtnisses. Eine antizipierende Erinnerung versucht, auf ästhetische und poetische Weise das einzuholen, „was im ‚falschen Gang der Geschichte‘ nicht geworden ist“ (S. 344). Bei Ivens bedeutet das, dass er in und mit dem Film seine Lebensgeschichte umschreibt, im Sinne einer Neuschrift an der Schwelle zu seinem Tode. Auch Chris. Marker (über den Punkt hinter seinem Namen ist viel geschrieben und spekuliert worden. Darauf einzugehen, wäre aber eine andere Geschichte…) arbeitet mit einem antizipierenden Gedächtnis. Explizit in La Jetee. Nach einer Katastrophe wird einer der wenigen Überlebenden in die Vergangenheit geschickt, um die Geschichte an dem Punkt zu verändern, an dem die Katastrophe passierte. Im Moment seiner Rückkehr erinnert er sich an das Bild des Landungssteges, das ihm so bedeutsam erschien, nun in seiner Rückkehr weiß er, dass dies der Moment seines Todes war. Die Gegenwart schließt sich kurz mit der Vergangenheit.
Aber Marker erfindet sich auch ein fiktives Gedächtnis und problematisiert mit ihm in Sans Soleil die Erkennbarkeit der Vergangenheit und die Fremdheit des Erinnerns. Für Marker ist Erinnerung eine schöpferische Kraft, die das Kontinuum von Zeit und Raum durchbricht und ihrer eigenen Bewegung folgt.
Godards JLG/JLG ist letztendlich eine „Erinnerung an eine verlorene Einheit des Autorsubjekts“ (S. 276). Er ist unter den vier besprochenen Regisseuren jener, der am grundsätzlichsten die filmischen Repräsentationsformen problematisiert. Keiner zweifelt so sehr am filmischen Bild wie er, und keiner hält so sehr daran fest, von den Rändern her das Unmögliche, Unsichtbare, Abwesende wenigstens in der Reflexion um ihre Undarstellbarkeit, gleichsam in der Negativität, aufscheinen zu lassen. Godard ist unter den Filmemachern der negative Theologe, der in der Verneinung noch die Möglichkeit beschwört.
The Garden ist Jarmans Suche des Erzähler-Ichs nach sich selbst. Basis von Jarmans kreativem Schaffen ist seine Erfahrung als Homosexueller. Als einer, für den es im gesellschaftlichen Raum keinen Platz oder zumindest keine Ausdrucksform und mediale Repräsentanz gab, machte er die Vergangenheit und das Autobiographische zu seinem zentralen Thema. In der Auseinandersetzung mit kollektiven Wissensbeständen wird Jarmans Besinnung auf sein Eigenes so zum Akt der Befreiung.
Allen von Christina Scherer besprochenen Filmen ist eine offene Struktur gemeinsam. Aus dem Zweifel an der Abbildbarkeit von Realitäten lehnen alle Essayfilmer einen unsichtbaren Schnitt, der eine Identifikation mit dem Dargestellten suggeriert, ab und setzen an seine Stelle die sichtbar gemachte Montage, das Kollidieren von Bildern und das Auseinanderdriften von Bild und Ton. Essayfilme fordern so von den Rezipient/-innen eine aktive Teilhabe. Godard nennt die Montage, die eine solche Rezeptionsästhetik fordert, „true montage“ (S. 234 ff.). An den Schnittstellen der einzelnen Bildfragmente müssen die zuschauenden Subjekte eine eigene Deutungsleistung erbringen. Das Dritte, das beim Betrachten im Kopf der Zuschauer/-innen entsteht, ist die „wahre Montage“ des Films. Eine solche aktive Gefordertheit macht die Interpret/-innen / Rezipient/-innen zum eigentlichen Zentrum von Essayfilmen und ruft in ihnen Akte bewusster Freiheit hervor.
Christina Scherer hat den ausgesprochen komplexen Sachverhalt von Erinnerung und Gedächtnis im Essayfilm in beeindruckender Weise erschlossen. Freilich gibt es, wie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit, auch eine Reihe von Einwänden. So begründet die Autorin an keiner Stelle die Auswahl der Filme und der Filmautoren. Das Fehlen von Kurzbiographien und einer ausführlichen Filmographie ist auch zu bedauern. Erstaunt hat mich, dass Scherer die ins Auge springende Unterrepräsentanz von Frauen unter den Essayfilmern und in den von ihr besprochenen Filmen in keiner Weise reflektiert. Denn während sich viele Literatinnen der literarischen Form des Essays bedienten, fällt auf, das sich unter den Essayfilmern kaum eine Frau findet. Während gegenwärtig junge Filmemacherinnen sich durchaus dem essayistischen Filmschaffen zuwenden, war dieses Feld zuvor ausschließlich von Männern besetzt. Ich kann an dieser Stelle nur vermuten, dass der Essay als reflektierendes kognitives Filmgenre in der Zeit seiner Entwicklung aus dem Dokumentarfilm für Frauen aufgrund seines rationalen Ansatzes out of the question war. Dass sich gegenwärtig Frauen vermehrt dem essayistischen Filmschaffen zuwenden, dürfte den geringeren Kosten von Essayfilmen geschuldet sein und weniger einem sich ausgleichenden Geschlechterverhältnis.
Außer bei Chris. Markers Sans Soleil dominieren in allen von Christina Scherer besprochenen Filmen Bilder von Männern. Es sind männliche Subjekte, die sich selbst zu vergewissern suchen. Bei Jarman, dessen sexuelle Orientierung so zentral für sein Schaffen ist, wird deutlich, wie bedeutsam die Kategorie Geschlecht für die Interpretation von Welt ist. Doch Christina Scherer scheint sich für dergleichen Aspekte und Fragestellungen nicht zu interessieren, mehr noch, so schien es mir, sie lehnt solche explizit ab. Innerhalb der Filmwissenschaft gibt es Ansätze, die Jarmans konsequenten und radikalen Bruch mit einer erzählenden Struktur als Bruch mit der überlieferten Tradition der Väter deuten. Diese Ansätze weist Scherer lapidar mit der Begründung zurück, diese soziologischen Interpretationen würden der ästhetischen Qualität von Jarmans Filmen nicht gerecht. Ebenso unkommentiert konstatiert Scherer an einer anderen Stelle, dass „die Kommentarstimme […] im Essayfilm weitenteils eine körperlose Stimme [sei], deren Ursprung im Bild nicht sichtbar ist“ (S. 27). Es erstaunt, dass eine Autorin jeden Schnitt und jedes Bild als Tiefenschicht mit weitreichender Bedeutung analysiert, es aber offensichtlich problemlos bzw. irrelevant findet, was die Konzeption einer „körperlosen Stimme“ für die Weltwahrnehmung von Subjekten und für den Geschlechterdiskurs bedeutet. Auch deshalb habe ich es bedauert, dass Scherer in ihrer Arbeit Jonas Mekas mit keinem Wort erwähnt. Mekas, der als litauischer Emigrant seit Jahrzehnten ausschließlich Filme macht, die sich mit der Erinnerung an Litauen und dem Verlust von Heimat beschäftigen, ist einer der wenigen essayistischen Filmemacher, die weniger das Rationale als das Persönlich-Private betont. Und das durchaus in einem ursprünglich feministischen Verständnis, dass das Private politisch sei.
Vielleicht ist die Vernachlässigung des Genderaspekts Scherers Berufung auf eine strenge Wissenschaftlichkeit und auf die Psychoanalyse Lacanscher Prägung geschuldet. Diese beiden Aspekte waren es auch, die meinen Lesegenuss durchaus geschmälert haben. Während die essayistischen Filmemacher/-innen sich auch aus einem Unbehagen an den Antworten des wissenschaftlichen Diskurses auf die zentralen menschlichen „Seinsfragen“ auf eine poetische Form berufen, scheint Scherer ausschließlich der wissenschaftlichen Analyse zu vertrauen. So, wie das Symbol für den rationalen Diskurs nicht völlig auflösbar ist und ein dunkler Rest bleibt, erweist sich die eigentliche Qualität von Essayfilmen gerade auch in einem dunklen Rest, der sich nur einem fühlenden Verstand und einem denkenden Herz erschließt und sich jeder wissenschaftlichen Analyse entzieht. Deshalb sei hier an die Uneinholbarkeit erinnert, die die Seherfahrung eines Filmes jeder Analyse voraus hat. Mehr noch als Christina Scherers brillantes Buch lege ich die von ihr besprochenen Filme ans Herz. Wer den Essayfilm mag, sollte keine Gelegenheit verstreichen lassen, diese so selten gezeigten Filme zu sehen.
Seit ich mit der Niederschrift dieser Besprechung begonnen habe, sind viele Stunden vergangen, darüber ist es dunkel geworden. Ich hebe meinen müden Kopf, mein Blick streift das schwarze Plakat, den Ankerpunkt meiner Augen, und wie aus weiter Ferne bringen sich mir die letzten Worte aus Sans Soleil in Erinnerung: „Er schreibt mir aus Japan, er schreibt mir aus Afrika. Er schreibt mir, dass er nun den Blick der Dame auf dem Markt von Praia starr ansehen kann, der nur so kurz wie ein Bild dauerte. Wird es eines Tages einen letzten Brief geben?“
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