Musik in Konzentrationslagern

Rezension von Gabriele Knapp

Guido Fackler:

„Des Lagers Stimme“. Musik im KZ.

Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936.

Bremen: Edition Temmen 2000.

628 Seiten, ISBN 3–86108–759–6, € 24,90

Abstract: Die Holocaust-Forschung hat sich jahrzehntelang vorwiegend mit den Verbrechen in den Konzentrationslagern beschäftigt, während Fragen nach dem „Alltag“ der Häftlinge und ihren Strategien des Überlebens nebensächlich erschienen. Untersuchungen zum (Über)Leben im KZ können aber gerade die Brutalität des Systems deutlich machen. So war Musik ein integraler Bestandteil des Lageralltags und diente keineswegs nur der Erbauung der Häftlinge, sondern bedeutete für sie häufig eine zusätzliche Tortur, wie Forschungsarbeiten für die Zeit von 1939 bis 1945 bereits belegt haben. Inwieweit dies für die frühen Lager von 1933 bis 1936 zutraf, untersucht Guido Fackler in seiner Studie. Darüber hinaus versucht er, musikalische Kontinuitätslinien von den frühen Lagern bis in die späte Phase (1937–1945) zu zeichnen. Eine Gesamtdarstellung zu KZ-Musik von 1933 bis 1945 konnte dem Autor indes nicht gelingen, wenn er auch einzelne Zusammenhänge zwischen musikalischen Phänomenen in unterschiedlichen Lagern aufzeigt. Facklers Buch lässt sich eher als Quellensammlung für Musik in unterschiedlichsten Konzentrationslagern verstehen und gebrauchen – wenn auch fast ausschließlich begrenzt auf Männerlager.

Die Studie Des Lagers Stimme. Musik im KZ. ist die überarbeitete Dissertation (1997) des Volkskundlers Guido Fackler, der 1989 seine Recherchen über KZ-Musik aufnahm. Einige Jahre war er Mitarbeiter am Institut für Volkskunde an der Universität Regensburg im dort angesiedelten Forschungsprojekt „Kultur in nationalsozialistischen Konzentrationslagern – Kultur als Überlebenstechnik“ bei Professor Christoph Daxelmüller. Das Buch basiert auf den Ergebnissen dieser langjährigen Forschungsarbeit, was seinen Umfang von 628 Seiten erklären könnte, der jedoch leider durch den Inhalt nicht gerechtfertigt ist. Vielmehr weist die Publikation zahlreiche Redundanzen auf, die u.a. auf ihren Aufbau zurück zu führen sind.

Das Besondere an Guido Facklers Studie ist zunächst, dass er die frühen Lager von 1933 bis 1936 in den Blick nimmt. Eine Konsequenz der schwierigen Quellenlage für diesen Zeitabschnitt ist, möglichst alle Lager zu erfassen, für die sich noch Hinweise in Form von Erinnerungen an musikbezogene Aktivitäten finden lassen. Der Möglichkeit, Zeitzeugen direkt zu befragen, scheint der Autor für die frühen Lager nicht weiter nachgegangen zu sein (S. 626), ebenso wie er davon ausgeht, dass vor allem schriftliche oder mündliche Erinnerungen von Frauen, die im Vergleich zu Männern einen wesentlich geringeren Teil der Inhaftierten jener Jahre ausmachten (vgl. S. 38), nicht mehr zu erhalten seien.

Als Forschungsintention benennt der Autor, „[d]ie verschiedenen Formen, Funktionen und Kontexte des Musizierens in Konzentrationslagern“ zu rekonstruieren und zu analysieren. (S. 10). Sein Forschungsansatz ist die „integrale Kulturwissenschaft“, bei der das „Deuten und Verstehen kultureller Handlungen von Menschen im konkreten, alltäglichen Lebensvollzug im Mittelpunkt [steht]; das besondere Augenmerk gilt der ‚Subjektseite von Kultur und symbolischen Praxen‘“ (S. 19). Die Begriffe „Alltag“ und „Kultur“ werden also aus volkskundlicher Perspektive im Kontext des Konzentrationslagers definiert („Kultur im Ausnahmezustand“, S. 22). Allerdings wird im Verlauf der Studie die Umsetzung dieser Methodik an konkreten Beispielen nicht transparent gemacht.

Reichhaltiges, neues Quellenmaterial

Der erste Teil befasst sich ausführlich mit Musikbeispielen in Bezug auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager 1933 bis 1936, den „frühen Lagern“ wie Brandenburg, die Emslandlager, Lichtenburg (bis 1939), Sachsenburg (bis 1937), Esterwegen (bis 1936), Kislau (bis 1937), Moringen (bis 1938) und zahlreiche andere (S. 50). 1936 endet mit der „Herausbildung der ‚modernen‘ Konzentrationslager“ die erste Periode in der KZ-Entwicklung (S. 24), die den Zeitrahmen für Facklers Studie abgibt. Nach der Beschreibung des Lageralltags in den frühen Lagern und der „Häftlingsgesellschaft“, zu der je nach Region ca. 70 Prozent deutsche, politische Gefangene wie KPD- und SPD-Mitglieder gehörten (S. 112f.), behandelt der Autor die „Musik auf Befehl“ (Kap. 2). Dazu gehören demütigende „Empfangszeremonien“ und verhöhnende „Prangerfahrten“ mit Musik, das Singen auf Befehl auf dem Weg zur Zwangsarbeit oder auf dem Appellplatz, Beschallung aus Lautsprechern auf dem Lagergelände sowie Chöre und Musikkapellen. Fackler hat hier eine Fülle von Erinnerungen ehemaliger (männlicher) Häftlinge zusammen getragen.

In einem weiteren Kapitel, „Selbstbestimmtes Musizieren“ (Kap. 3), werden Gottesdienste im KZ (hier gibt es auch ein Beispiel für einen Gottesdienst im Frauen-KZ Gotteszell, S. 190), die musikalische „Freizeitgestaltung“ im privaten, oft konspirativen Kreis (Blockveranstaltungen), lagerinterne „öffentliche“ Veranstaltungen wie der möglicherweise über Fachkreise hinaus bekannt gewordene „Zirkus Konzentrazani“ im KZ Börgermoor sowie die Entstehung von KZ-Liedern vorgestellt. Mit den Liedern, allen voran das Moorsoldatenlied, beschäftigt sich Fackler ausführlich und schlägt eine Systematik vor, die er in „KZ-Lieder im weiten Sinne“ (Lieder mit KZ-Thematik; umfunktionierte Lieder traditioneller Gattungen) und „KZ-Lieder im engen Sinne“ (KZ-Lieder; KZ-Hymnen) unterscheidet. In diesem Kapitel wird in einem kurzen Abschnitt die „Musikalische ‚Freizeitgestaltung‘ im Frauen-KZ Moringen“ erwähnt, die offenbar durch „großzügigere Bedingungen als in anderen Lagern“ bestimmt war (S. 204). Das Singen von Liedern „ohne direkte politische Konnotationen“ war mit Genehmigung des KZ-Leiters erlaubt, und doch wurden heimlich auch Spottgedichte vorgetragen, oder Arbeiter- und Kampflieder gesungen. Bemerkenswert ist die Geschichte der Laute von Hannah Vogt, die sie sich samt Noten ins Lager Moringen schicken lassen durfte. Dokumentiert ist dieser Vorgang durch Briefe der Zeitzeugin von 1933 (S. 206).

Erst im letzten Abschnitt seiner Arbeit, „Musik im NS-Lagersystem 1933 bis 1945: Grundlagen und Materialien“, streift Fackler die Geschichte des nationalsozialistischen Lagersystems insgesamt (S. 437–440 !) und erwähnt auf wenigen Seiten die „vorkonzentrationäre Prägung und das konzentrationäre Verhalten“ von KZ-Häftlingen, wobei er an keiner Stelle die „Psychologie der Extremsituation“, wie sie bei Häftlingen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern nach 1939 festgestellt wurde, berücksichtigt. Spätestens an dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, wie brüchig Facklers These der Tradierung von Kultur in den Lagern ist. Läßt sich diese eventuell noch für politische Gefangene annehmen, die ein ausgeprägtes, auf ihrer politischen Identität beruhendes Selbstverständnis als KZ-Häftlinge hatten und somit als psychisch stabiler eingestuft wurden, so kann dies für die weitaus größere Zahl an Häftlingen, die aus „rassischen“ oder anderen Gründen deportiert wurden, nicht gelten. Weiterhin skizziert der Autor in diesem Kapitel das Musikleben in so verschiedenen Ghettos, Internierungslagern und Konzentrationslagern wie Gurs (Frankreich), Westerbork (Niederlande), Łódž und Warschau (Polen), Wilna (Litauen) und Theresienstadt (Tschechien), um seine These der Tradierung zu untermauern. Er bleibt in seiner oberflächlichen Zusammenschau der Ergebnisse fundierter Einzelstudien, wie sie z.B. Gabriele Mittag (1996) für das Lager Gurs vorgelegt hat, weit hinter dem Stand bisheriger Forschungsergebnisse zurück. Der von ihm gegebene Überblick über den Forschungsstand zur Thematik Musik im NS-Lagersystem steht erst am Ende seiner Studie und man hätte ihn sich zu Beginn gewünscht. Er ist ausführlich recherchiert, interessant zu lesen und hätte den Einstieg in das Thema sowie die Einordnung von Facklers Studie in den Gesamtkontext der KZ-Musik-Forschung erleichtert. Außerdem wird erst an dieser Stelle deutlich, dass das von ihm beklagte Forschungsdesiderat längst nicht mehr so dramatisch ist, da zahlreiche kürzere Aufsätze und umfangreiche Untersuchungen von Forscherinnen und Forschern über KZ-Musik in einzelnen Lagern bereits vorliegen, auf deren Erkenntnisse der Autor sich in seiner Studie auch häufig stützt.

Nach 500 Seiten Text folgt auf insgesamt 125 Seiten eine „Biblio-/Mediographie ‚Musik im NS-Lagersystem‘ und ein ausführlicher Anhang. Im Mittelteil des Buches sind auf 16 Seiten Zeichnungen, Fotografien, Liedzettel und Noten abgebildet, die das Phänomen KZ-Musik anschaulich belegen.

Methodisch schwache Analysen mit Redundanzen

Die eigentlichen Schwächen der Untersuchung entfalten sich im zweiten Teil der Arbeit, in dem die zuvor dargestellten musikalischen Aktivitäten analysiert und interpretiert werden. Dieser Teil verlässt den Untersuchungszeitraum 1933–1936 und widmet sich darüber hinaus der „Musik in den Konzentrationslagern 1936/37 bis 1945“ (S. 328–429).

Zunächst enthält der erste Teil der Analyse, „Musik zwischen Folter und Bedürfnis“, bedauerlicherweise zahlreiche, z.T. wörtliche Wiederholungen aus den vorangegangen Kapiteln, wenn der Autor die Wirkungsweise von Musik anhand derselben Beispiele musikalischer Situationen ein zweites Mal erläutert. Für die Analyse des Liedgutes in den frühen Lagern greift er dabei zurück auf Militär bzw. Jugend- und Arbeiterbewegung, also die musikalische Sozialisation der frühen KZ-Häftlinge (und auch der Wachmannschaften). Hier wird besonders die „gemeinschaftsbildende Kraft der Musik“ betont (S. 312). Unklar bleibt allerdings, welche musikpsychologischen Konzepte der Studie zu Grunde liegen. Einige Deutungen des Autors bezüglich der Wirkungsweise von KZ-Musik wirken deshalb beliebig, laienhaft und überzogen: „Auch in den Konzentrationslagern erfüllte freiwilliger Gesang in den zwölf Jahren ihres Bestehens ein ‚ganzes System von Funktionen‘: Diese konnten psycho-mentaler, emotionaler, moralisierender, didaktischer, sozialer, therapeutischer, eskapistischer, identitäts- und gemeinschaftsstiftender, unterhaltender, erheiternder, erotisierender, rügender, entspannender, einschläfernd-besänftigender, spöttischer, zum Kampf animierender, aufpeitschender, aggressiv machender, den Arbeitsprozeß rhythmisierender, der Selbstdarstellung dienender Art etc. sein“ (S. 307). Da eine bestimmte Musik nur in einem spezifischen Kontext ihre Wirkung entfaltet, ist der Erkenntniswert solcher Pauschalisierungen gering.

Facklers Anspruch einer Überblicksdarstellung

Im Anschluss daran unternimmt der Autor in seinem zweiten Teil den Versuch, seine breit gestreuten Beispiele und Befunde aus den frühen Lagern zu überführen in eine Überblicksdarstellung („Von den frühen Konzentrationslagern zu den Lagern der Folgezeit“, S. 411). Die Gliederung dieses Teils erfolgt analog zum Untersuchungszeitraum von 1933 bis 1936 nach „Musik auf Befehl“ (Singen auf Kommando; Liedrepertoire; KZ-Hymnen; Lagerkapellen; Musikübertragungen aus Lautsprechern; Musik zur privaten Erbauung von Lagerpersonal und Funktionshäftlingen) und „Selbstbestimmtes Musizieren“ (Entwicklung und Struktur; Musik als Überlebensstrategie; Spontanes Musizieren; Liedrepertoire; KZ-Liederbücher, KZ-Lieder und Lagersänger, Blockveranstaltungen, Lager-/Kulturveranstaltungen). Da sich der Autor nicht auf die Darstellung von Musiksituationen beschränkt, sondern diese auch interpretiert, kommt es hier erneut zu unnötigen Wiederholungen bezüglich der Funktions- und Wirkungsweise von Musik. Vor allem aber suggeriert der Aufbau ganz offensichtlich eine Vergleichbarkeit der Lager 1933–1936 und 1939–1945.

Der Autor konstruiert nun aufgrund seiner These der „musikalischen Tradition“ unablässig und gegen seine eigenen, eingangs formulierten Zweifel[1] an einer Vergleichbarkeit Kontinuitätslinien von den frühen Lagern hinein in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Doch lediglich an wenigen Beispielen (vgl. S. 418) und dies aufgrund personeller Kontinuitäten unter den (deutschen, politischen!) Häftlingen und auch den Wachmannschaften, gelingen im diese Nachweise für einzelne Männerlager wie Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau, dass z.B. KZ-Lieder von einem ins andere Lager „mitgebracht“ worden sind. Insgesamt werden jedoch Musikbeispiele aus verschiedenen Lagern und Lagertypen zu verschiedenen Epochen ekklektizistisch aneinandergereiht, um vermeintlich „übergeordnete“ Phänomene aufzuzeigen.

Da sich aber die Bedingungen in den Lagern nach 1939 massiv veränderten und zunehmend radikalisierten ist es problematisch, ja geradezu unzulässig, die frühen Lager mit den späten in Verbindung zu bringen. Allein schon die Zusammensetzung der Häftlinge in den frühen Lagern, die ja vorwiegend deutschsprachige, als politische Gegner des NS-Regimes inhaftierte Männer waren, zeigt, dass Musik hier eine andere Bedeutung haben musste als in der späteren Phase, in der es noch höchstens 10 Prozent deutschsprachige Häftlinge in den Lagern gab (S. 417). Unbedingt zu berücksichtigen ist für diesen Zeitraum die internationale Zusammensetzung der „Häftlingsgemeinschaften“, die ihre jeweils eigene Kultur „mitbrachten“, und die Zunahme von weiblichen Häftlingen in den Lagern. Die Folgen dieses radikalen Wandels für den Gebrauch von Musik nach 1939 macht Facklers Studie nicht deutlich, im Gegenteil. Er benennt zwar die zunehmende Brutalität beim Einsatz von Musik, wenn er schreibt, der Zwangscharakter des Singens habe sich radikal bis hin zum Kriegsende verschärft (S. 329), Lagerchöre und –orchester seien in weitaus stärkerem Maße für SS-Zwecke funktionalisiert worden als zuvor (S. 331), das Liedrepertoire der Häftlinge sei erheblich eingeschränkt worden (S. 334), KZ-Hymnen seien nun Auftragsarbeiten für die SS geworden (S. 336) und das selbstbestimmte Musizieren von Häftlingen sei nunmehr eingeschränkt und in hohem Maße vom jeweiligen Lagertyp und -kontext abhängig gewesen (S. 375). Er zieht aber daraus nicht die notwendigen Schlussfolgerungen und rekurriert auch nicht auf Forschungsergebnisse z.B. von Gabriele Knapp (1996), die sich ausgiebig mit dem Phänomen „Musik als Zwangsarbeit“ befasst hat, oder von Constanze Jaiser (2000), die sich mit Lager-Gedichten als Ausdruck einer „physischen und psychischen Extremsituation“ im internationalen Kontext des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück auseinander gesetzt hat.

Für die Musik auf Befehl resümiert der Autor lapidar: „Ein normiertes, auf offiziellen Weisungen der IKL [Inspektion der Konzentrationslager, d.V.] oder des WVHA [Wirtschaftsverwaltungshauptamt, d.V.] basierendes Musikleben gab es in keiner Phase des KZ-Systems, obwohl in diesem Willkürsystem ansonsten doch so viele Details bürokratisch geregelt waren“ (S. 418). In der Tat muss bislang noch ein Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Einsatz von Musik in beinahe allen Konzentrationslagern und dem Mangel an NS-Dokumenten, die diesen belegen könnten, konstatiert werden (S. 36). Dies hindert den Autor allerdings nicht daran, in seiner Studie etliche Male Befehle von SS-Leuten für die Gründung oder Auflösung von Lagerorchestern oder – chören zu erwähnen, ohne hierfür Quellen anzugeben (z.B. S. 157, 161, 190, 192, 198 u.a.m.). Eine Erforschung dieses Aspektes von KZ-Musik steht bislang noch aus.

Wenig neue Erkenntnisse für die KZ-Musikforschung, keine im Hinblick auf die Geschlechterperspektive

Guido Facklers Studie stellt für den Zeitraum von 1933 bis 1936 musikbezogene Beispiele vor, die bislang in der Forschung in diesem Ausmaß nicht bekannt waren. In den frühen Lagern steht als „verlängerter Strafvollzug“ die „Umerziehung“ von Schutzhafthäftlingen im Vordergrund; d.h. die Musik jener Epoche ist anders funktionalisiert, „öffentlicher“ und erklingt bisweilen noch um ihrer selbst Willen (z.B. bei Lagerveranstaltungen). Ein weiteres Spezifikum dieser Phase ist die Nähe zwischen Wachmannschaften und Häftlingen, die sich z.B. in Liedtexten niederschlägt. Hieran könnten sich interessante Fragen anschließen: Wie genau sollte die „Umerziehung“ mittels Musik funktionieren? Welche Rolle spielten die „milderen“ Lebensbedingungen in den frühen Lagern für die Entstehung von Liedern und das Musizieren generell? Welche Rolle spielte dabei die Nähe zwischen Wachpersonal und Insassen? Was „bezeugen“ die Liedtexte? War bis 1936 Kreativität noch mehr möglich als später und, wenn ja, warum? Welchen Einfluss hatte es auf die musikalische Produktivität von Häftlingen, dass sie aus dem Lager entlassen werden konnten? Diese und andere Fragen beantwortet Facklers Studie nicht.

Der Autor fixiert sich stattdessen auf die „Beweisführung“, die frühen Lager seien „auch“ Konzentrationslager gewesen, nur das Ausmaß an Brutalität habe sich von jenen der späteren Jahre unterschieden, was zweifellos zutrifft. Dies führt ihn aber weg von der Spezifik der frühen Lager hin zu hinlänglich bekannten Wirkungsweisen von Musik, die er weitgehend von Untersuchungen über KZ-Musik in den Konzentrations- und Vernichtungslagern nach 1939 übernimmt. Die Chance, das Spezifische der ersten Jahre zu ergründen, ist vertan, grundlegend neue Erkenntnisse bezüglich der Wirkungsweise von Musik in KZ bringt diese Studie also nicht. Wenig neue Erkenntnisse gibt es auch über die Binnenstruktur früher Lager in Bezug zur dort entstandenen Musik oder gar über diejenigen Personen, die sich musikalisch betätigten. Dies mag allerdings dem Mangel an Quellen geschuldet sein.

Facklers Buch bringt auch für die Genderforschung keine neuen Erkenntnisse. Er beschreibt Männerlager und baut seine Argumentationen einseitig auf Erinnerungen von männlichen KZ-Häftlingen und ihrem musikalischen Verhalten auf. Frauen kommen in dieser Studie nur am Rande vor und werden stillschweigend subsumiert. Für Häftlingsfrauen gilt daher umso mehr, dass ein Nachweis von „Traditionslinien“ (kulturellen) Überlebens in den Konzentrationslagern nicht erbracht wird.

Angesichts der Tatsache, dass sich die KZ-Musik-Forschung in den vergangenen Jahren immer weiter ausdifferenziert hat, mag der Anspruch, erstmalig ein Überblickswerk liefern zu wollen, verwundern. In der Regel konzentrieren sich Forscherinnen und Forscher auf einen oder wenige Aspekte zur Thematik, da diese generell noch zu wenig untersucht ist, um bereits einen Überblick wagen zu können. Entweder steht die Rekonstruktion der musikalischen Binnenstruktur eines Lagers im Mittelpunkt, oder ein musikalischer Aspekt in verschiedenen Lagern wie z.B. Kabarettveranstaltungen (Kühn 1989), Lieder (Probst-Effah 1990), Jazz (Fackler 1996), oder die Untersuchung einer spezifischen Gruppe von Häftlingen wie sie Milan Kuna (1993) für Musikerinnen und Musiker aus Böhmen und Mähren durchgeführt hat. Geschlechtsspezifische Fragestellungen wurden bisher nur von Gabriele Knapp (1996) berücksichtigt, die eine Untersuchung über das Frauenorchester in Auschwitz-Birkenau im Vergleich zu den Männerorchestern in Auschwitz und Birkenau durchführte und das Phänomen „musikalische Zwangsarbeit“ grundlegend untersuchte. Diese Vorgehensweisen erscheinen dem Autor aber zu „einseitig“ (S. 440). Seine Studie „Des Lagers Stimme“ ersetzt keineswegs detaillierte Untersuchungen zu Musik in einzelnen Lagern mit ihren jeweils spezifischen Kontexten. Es werden weiterhin vor allem Einzel(fall)studien sein, die Aufschluss über das Phänomen Musik in Konzentrationslagern geben können.

Anmerkungen

[1]: Er schreibt: „Gleichzeitig darf in keinem Moment übersehen werden, dass sich die Verhältnisse in den Lagern von 1933 bis 1936 eminent von denen unterschieden, die in den Konzentrationslagern ab Kriegsbeginn bzw. in den Vernichtungslagern herrschten […]“ (S. 25) oder: „Mit der Radikalisierung der Lager pervertierten die Gelegenheiten, bei denen Gesang angeordnet wurde, bis ins Äußerste“ (S. 331; auch S. 441).

Genannte Literatur zum Thema

Fackler, Guido: Jazz im KZ. Ein Forschungsbericht. In:Wolfram Knauer (Hg.): Jazz in Deutschland. Eine Veröffentlichung des Jazz-Instituts Darmstadt (Darmstädter Beiträge zurJazzforschung, Bd. 4). Hofheim: Wolke, 1996, S. 49–91.

Jaiser, Constanze: Poetische Zeugnisse. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939–1945. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000.

Knapp, Gabriele: Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung. Hamburg: von Bockel Verlag 1996.

Kühn, Volker (Hg.): Kleinkunststücke. Bd. 3: Deutschlands Erwachen: Kabarett unterm Hakenkreuz. 1933–1945. Berlin: Quadriga 1989.

Kuna, Milan: Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1993.

Mittag, Gabriele: „Es gibt Verdammte nur in Gurs“. Literatur, Kultur und Alltag in einem französischen Internierungslager 1940–1942. Tübingen: Attempto 1996.

Probst-Effah, Gisela: Musik in Konzentrationslagern. In: Detlev Hoffmann und Karl Ermert (Hg.): Kunst und Holocaust. Bildliche Zeugen vom Ende der westlichen Kultur. . Rehburg-Loccum 1990. (= Loccumer Protokolle, Bd. 14/1989)

URN urn:nbn:de:0114-qn031090

Dr. Gabriele Knapp

Berlin

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