Katrin Pittius, Kathleen Kollewe, Eva Fuchslocher, Anja Bargfrede (Hg.):
Die bewegte Frau.
Feministische Perspektiven auf historische und aktuelle Gleichberechtigungsprozesse.
Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2013.
178 Seiten, ISBN 978-3-89691-934-2, € 19,90
Abstract: Der Band bietet feministische, interdisziplinäre Einblicke in diverse Strömungen der Frauenbewegung der letzten 150 Jahre. So wird nicht nur ein historischer Blick auf Frauenkämpfe in der Türkei geworfen, auch die diversen Bewegungsströmungen und Generationenkonflikte zu Zeiten der Weimarer Republik oder der DDR erfahren Aufmerksamkeit. Der Fokus auf historische Verläufe und Generationenverhältnisse innerhalb der Frauenbewegung wird durch aktuelle Bezüge anhand praxisbezogener Artikel ergänzt, die somit die Vermeintlichkeit der gegenwärtig oftmals artikulierten verwirklichten Gleichberechtigung aufzeigen können.
Das 18-jährige Bestehen der Wissenschaftlerinnen-Werkstatt der Hans-Böckler-Stiftung gibt den Herausgeberinnen, selbst (Alt-)Stipendiatinnen der Stiftung, Anlass, die Tagungsbeiträge aus dem Jahr 2011 zum Thema „Stand der Frauenbewegung(en) und der Gleichberechtigungsprozesse“ in Buchform festzuhalten. Damit möchten sie zur „theoretische[n] Auseinandersetzung mit vergangenen wie auch gegenwärtigen Strömungen der Frauenbewegung(en)“ (S. 7) beitragen und Denkanstöße für feministische Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsfragen jenseits stiftungsinterner theoretischer Debatten liefern. Gleich zu Anfang verweisen die Herausgeberinnen auf die von Paula-Irene Villa vorgenommene Differenzierung zwischen Feminismus und Frauenbewegung(en), die im Wesentlichen zurückzuführen ist auf die Trennung in Einsicht in strukturell geschlechterrelevante Ungleichheitsverhältnisse und Versuche, diese zu überwinden, einerseits und das Festhalten an einem identitätspolitisch begründeten ‚Wir‘ andererseits.
In die Thematik eingeführt wird anhand aktueller Entwicklungen und Problemlagen von Geschlechterverhältnissen: Problematisch sind diese nicht nur im Gender-Pay-Gap, ebenso lässt die Besetzung führender Positionen sowie die Verteilung von Hausarbeit und Kindererziehung eine annähernde Geschlechtergerechtigkeit auch 2012 weiterhin schmerzlich vermissen. Dieses Backlashs zum Trotz entstanden jüngst neue feministische Protestformen wie SlutWalks oder FEMEN-Gruppen, die sich teilweise von älteren Generationen der Frauenbewegungen bewusst abgrenzen. Auf die Gefahr der zunehmenden Verschleierung von Geschlechterungleichheit gerade durch die seit den 1990er Jahren sich ausbreitende, flächendeckende Institutionalisierung von Gleichstellungsbeauftragten in Politik, Unternehmen und Einrichtungen der Öffentlichkeit weisen die Herausgeberinnen hin: Ein Schein an Geschlechtergerechtigkeit werde so im Dschungel der familienfreundlichen Zertifizierungen möglich. Gleichzeitig sei die Re-Traditionalisierung als „Effekt der sogenannten Zweiten Moderne bzw. des digitalen Kapitalismus“ (S. 14) zu beobachten, wenn durch Aushandlungen im Privaten zwischen Partner_innen oder Ehepaaren quasi ‚freiwillig‘ auf traditionelle Rollenmodelle zurückgegriffen werde. Dass sozialstrukturelle und gesellschaftspolitische Zustände gleichermaßen diese Entscheidungsmuster bedingen (können), sollte vielmehr in die eingehende Analyse aktueller Frauenbewegungen aufgenommen werden, statt dass diese Zusammenhänge durch eine Verlagerung ins Private verdeckt werden: In diesem Sinne weisen die Herausgeberinnen denn auch daraufhin, „dass das Private nach wie vor politisch ist“ (S. 15). Die Verschränkung „einer Retraditionalisierung einerseits und neuer Frauenbewegungen andererseits“ (S. 16) gelte es dementsprechend in interdisziplinärer Perspektive anhand des Sammelbands herauszustellen, um somit disziplinübergreifende Diskussionen anzuregen.
So wird in den ersten drei Beiträgen die historische Dimension der Frauenbewegung aufgezeigt. Während Ute Gerhard und Esma Çakir-Ceylan die Generationenunterschiede und Entwicklungen diverser Strömungen innerhalb der Frauenbewegung in Deutschland bzw. in der Türkei beleuchten, analysieren Eva Fuchslocher, Kathleen Kollewe und Katrin Pittius die Gründe für den Männerauschluss aus der deutschen Frauenbewegung seit 1848 und legen die unterschiedlichen Prämissen und Konflikte dar. Die Aktualität des theoretisch wenig bearbeiteten Themas verdeutlicht dabei der Aufhänger des Artikels: Im Rahmen der Wissenschaftlerinnen-Werkstatt selbst wurden die Grenzen des Ausschlusses anhand der Möglichkeit diskutiert, Männer beispielsweise nur zur Kinderbetreuung zuzulassen. Resümierend zeigen die Autorinnen die aktuelle Lage der Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Veränderung auf: einerseits wiedererstarkte traditionelle Geschlechterverhältnisse, andererseits veränderte Protest-, Vernetzungs- und Präsenzformen. Die Zusammenarbeit mit sowie die Ausschlüsse von Männern werden in der Bewegung weiterhin verhandelt und v. a. themen- und situationsspezifisch gelöst, was die Ähnlichkeit zu Gründen für den Männerausschluss der zweiten Welle der Frauenbewegung verdeutlicht, finden die Ausschlüsse doch auch aktuell v. a. in Form von geschützten Räumen zum kommunikativen Austausch über Gewalterfahrungen oder zur biographischen Reflexionsarbeit statt. Zudem diskutieren die Autorinnen eine gestiegene Bündnisfähigkeit zwischen feministisch-theoretischem Diskurs und kritischer Männerforschung, welche gerade auch im Hinblick auf das Erstarken einer frauendiskriminierenden Männerbewegung umso notwendiger sei.
Nach diesen breit dargestellten historischen Einsichten bearbeiten Judith C. Enders und Mandy Schulze sowie Michaela Kuhnhenne weitere Generationenfragen innerhalb der Frauenbewegung. Erstere geben Einblicke in ihre Forschung anhand von Interviewausschnitten von „Frauen der Dritten Generation Ostdeutschlands“, die in der DDR aufwuchsen, jedoch die Wendezeit als Kind oder Jugendliche und damit auch die Unsicherheiten der Eltern miterlebten. Diese Transformationserfahrungen, verstanden als „kollektive Migrationserfahrung durch Abwanderung“ (S. 112), spielen in persönliche Einstellungen zu Rollenvorbildern, beruflichen Erwartungen, finanzieller Absicherung und Partnerschaftsvorstellungen mit ein. Ersichtlich werden die Generationenkonflikte dieserart u. a. anhand der Schärfe, mit welcher die Eltern der Interviewten Fragen nach ihren eigenen Erziehungsmethoden zur DDR-Zeit als Vorwürfe auffassen. Enders und Schulze sprechen sich in ihrem Fazit für das Aufzeigen der Stärken wie Schwächen von DDR-Frauenlebensentwürfen aus, um dem medial verzerrten Bild somit die Darstellung des Realen entgegenzusetzen.
Die Kontinuität von Konfliktthemen verschiedener Generationen von Frauenbewegungen analysiert im folgenden Beitrag Kuhnhenne ausgehend von der Frauenbewegung in der Weimarer Republik. Die Folgen, die die Verwirklichung bestimmter Forderungen für die nächste Generation Frauen hatte, so beispielsweise die Umsetzung des Wahlrechts, werden somit ersichtlich, was zum Verständnis dafür beiträgt, weshalb die Fokusse auf bestimmte Kämpfe generationsspezifisch sind. Der Autorin gelingt es zudem, generationenübergreifende Kontinuitäten hinsichtlich ständig wiederkehrender Fragen innerhalb der Frauenbewegung aufzuzeigen, wie jene nach Zielen in einer vermeintlich gleichberechtigten Gesellschaft, dem Für und Wieder der Zusammenarbeit mit Männern oder nach dem Institutionalisierungs- und Organisationsgrad.
Kathleen Kollewes folgender Beitrag bildet die Brücke zu aktuellen Entwicklungen, beleuchtet sie doch die gegenwärtige politische Beteiligung von Frauen und lotet dabei aus, inwieweit das Wahlrecht als Erfolg der Frauenbewegung auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie anzusehen ist. Die Autorin stellt die vielfältigen Barrieren dar, die explizit Frauen an einer Politikkarriere hindern, und zeigt die weiterhin wirkenden geschlechterspezifischen Hürden trotz allgemeinen Wahlrechts auf. Sie diskutiert nicht nur die Stärken (parteiinterner) Frauenquoten als temporäres Hilfsmittel zur Geschlechterdemokratie sowie männerbündische Strukturen im Politikbetrieb, sondern ebenso den Druck auf Frauen, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, die Vereinbarkeit von ehrenamtlichem Politikengagement, Beruf und Familie als ausschließlich individuell zu verhandelndes Problem zu lösen. Aufschlussreich ist die abschließende These der Verlagerung von Macht in die Wirtschaft sowie in die nächst höhere Politikebene der EU, wo nach wie vor Männer den Ton angeben. Damit einhergehend stellt Kollewe die Überlegung der Verdrängung von Frauen aus Politikthemen mit steigender öffentlicher Relevanz an, die am Beispiel des Wirtschaftsfeldes Unternehmensverantwortung aufgezeigt werden.
Praktischen Bezug auf ein kontinuierlich aktuelles gleichstellungspolitisches Thema nimmt ebenso Annette C. Antons Ausschnitt aus ihrem Buch Mädchen für alles? Wie Sie die typischen weiblichen Jobfallen vermeiden, welches als Antwort zu verstehen ist auf öffentliche Frauenstimmen, die sich für einen freiwilligen Karriereverzicht zugunsten von Familie, Kindern und Teilzeitarbeit aussprechen. Die Autorin fordert Frauen zwar dazu auf, sich in den Machtkampf im Berufsleben zu begeben, dabei jedoch männliche Verhaltensweisen wie „An-den-Baum-Gepinkel“, „Brusttrommeln“ oder „Imponiergehabe“ (S. 170) nicht zu imitieren, sondern auf vermeintlich weibliche Stärken wie „Kommunikationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen“ (ebd.) zu setzen, die sie Frauen qua Geschlecht zuschreibt. Zwar können einzelne Tipps im Sinne des Empowerment gelesen werden, Antons Annäherung an Themen wie Quotenregelungen erscheinen jedoch fragwürdig bis signifikant ignorant, wenn sie etwa strukturelle Zusammenhänge von Karriereplanung, politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Erwartungen außer Acht lässt und Leserinnen rät, „das Spiel von innen heraus neu zu definieren und nach und nach die Spielregeln umzuschreiben“ (S. 164). Die zuvor im Sammelband mehrmals angesprochene Problematik der Individualisierung erfährt bei ihr keine Aufmerksamkeit, ihre Aufforderung „Rein in die Betriebe, Firmen, Büros und rauf auf die Chefsessel“ (ebd.) lässt vielmehr die Frage offen, wie mit strukturellen und subtilen Hürden denn praktisch umzugehen ist. Schlussendlich bleibt ungewiss, ob Anton nun gegen diejenigen „Postfeministinnen“, welche das weibliche Geschlecht längst jenseits von Ungleichheit sehen, anschreibt, wie sie eingangs anmerkt, oder ob die Autorin nicht eben jenen Frauen in Leitungspositionen zuzurechnen ist, die, oftmals Führungspositionen inne habend, ganz im neoliberalistischen Gefolge ihren beruflichen Erfolg auf rein geschlechterunabhängige individuelle Anstrengungen zurückführen. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob Antons Artikel dem Anspruch der Herausgeberinnen gerecht wird, Praxisbezug zwar herzustellen, sozialstrukturelle Probleme dabei jedoch nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Band schließt mit einem knappen Einblick in die praktische Arbeit der Theater- und Gestalttherapeutin Caroline Gempeler, die mit ihren Workshops während der Wissenschaftlerinnen-Werkstatt einen Austausch in geschütztem Rahmen ermöglicht, in welchem Leiblichkeit als Ressource für die eigene vergangene, gegenwärtige und zukünftige Biographie gilt.
Insgesamt gelingt es den Herausgeberinnen mit ihrem Sammelband, die Vielfalt an inhaltlichen Aspekten nicht nur quer durch die Geschichte der Frauenbewegung, sondern auch in gegenwärtigen Bewegungsströmungen aufzuzeigen. Besonderer Pluspunkt ist diesbezüglich die Darstellung der Kontinuitäten, Brüche und Konfliktlinien innerhalb der Frauenbewegung durch die Generationen, sodass der/dem Leser/-in ein grundlegendes Verständnis für die Bewegungsprozesse als auch eigene Rückschlüsse bezüglich aktueller Entwicklungen ermöglicht werden. Die gesellschaftliche Rückwirkung, die Fallstricke der Institutionalisierung von Geschlechtergleichstellung sowie die sich verändernden Potentiale und Schwerpunkte der Frauenbewegung können vor diesem Hintergrund weitergehend analysiert werden. Dass der überwiegende Teil der Beiträge einen historischen Zugang wählt und sich der Generationenfrage annähert, könnte der Aufsatzsammlung als Einseitigkeit ausgelegt werden. Jedoch sind selbst diese Themen in ihrer Aufmachung und Fragestellung vielfältig angelegt, weshalb der Kritikpunkt ein kleiner bleibt. Das Anliegen der Herausgeberinnen, interdisziplinäre Zugänge sowie Theorie-Praxis-Verbindungen zu ermöglichen, wird ebenfalls erfüllt, hier wäre in der Auswahl der Praxis-Beiträge allerdings eine fokussierte Wahl wünschenswert gewesen, indem Beiträge ausfindig gemacht worden wären, die trotz Praxis-Schwerpunkt die theoretische Ebene nicht missen lassen. Nichtsdestotrotz – einen prägnanten Überblick sowie auch weitreichende Diskussionsanstöße zu vergangenen wie aktuellen Bewegungen rund um Gleichberechtigung, Forderungen und Ziele liefert der Band ausführlich, sodass er als interdisziplinärer Zugewinn feministischer Reflexionsarbeit gewertet werden kann.
Jessica Schülein
Stiftung Universität Hildesheim
M.A. Erziehungswissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft
E-Mail: schuelein@uni-hildesheim.de
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