Aylâ Neusel (Hg.):
Die eigene Hochschule.
Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“.
Opladen: Leske + Budrich 2000.
222 Seiten, ISBN 3–8100–2958–0, € 15,50
Gesa Heinrichs:
Bildung, Identität, Geschlecht.
Zum Ansatz einer postfeministischen Bildungstheorie. Eine Einführung.
Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 2001.
263 Seiten, ISBN 3–89741–069–9, € 22,50
Abstract: Im Sommer 2000 fand die Internationale Frauenuniversität (ifu) in Hannover statt. Der von ifu-Präsidentin Aylâ Neusel herausgegebene Sammelband dokumentiert Konzept, Planung und Curriculum-Entwicklung der ifu. Was Frauen im akademischen Kontext mit und über Frauen bzw. Geschlechterverhältnisse lernen können und sollen, steht hier im Anwendungskontext zur Diskussion. Gesa Heinrichs liefert in ihrer Monographie eine Analyse des Identitäts-Konzepts und seiner Bezüge zu Geschlecht und Bildung. Das Ergebnis ihrer Theoriekritik korrespondiert mit dem praktischen ifu-Konzept: Frauenbildung soll die Auseinandersetzung mit Identität beinhalten, ohne in Weiblichkeitszwang zu münden.
„Die Frau soll studieren, weil sie studieren will, weil die uneingeschränkte Wahl des Berufs ein Hauptfaktor der individuellen Freiheit, des individuellen Glücks ist.“ Frauenbildung als Glücksversprechen – mit Verve setzte sich die Publizistin Hedwig Dohm (1831–1919) für den Einzug der Studentinnen in die Hochschulen ein. Und zwar schon 25 Jahre bevor erstmals im Jahr 1900 in Baden Frauen das Immatrikulationsrecht erhielten. In den letzten 100 Jahren haben Frauen von ihrem hart erkämpften Immatrikulationsrecht reichlich Gebrauch gemacht (zur Geschichte des Frauenstudiums siehe die virtuelle Ausstellung an der Universität Bonn: http://www.uni-bonn.de/Frauengeschichte/ausstell/ausstart.htm). Heute studieren in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern mehr Frauen als Männer. Wissenschaft und Hochschule sind dennoch in vielerlei Hinsicht Männerdomänen geblieben. Ein Professorinnen-Anteil von weniger als 10% zeugt davon.
Feministische Wissenschafts- und Institutionenkritik produktiv umzusetzen – das war das Ziel der Internationalen Frauenuniversität (ifu). Sie brachte parallel zur Expo 2000 einhundert Tage lang rund 900 graduierte Studentinnen und 230 Dozentinnen aus aller Welt zum gemeinsamen Lernen und Forschen in Hannover und an fünf anderen norddeutschen Hochschulen zusammen. Der von Aylâ Neusel, der emeritierten Professorin an der Gesamthochschule Kassel und Präsidentin der ifu, herausgegebene Sammelband beschreibt das organisatorische Konzept und die inhaltliche Vorbereitung der ifu, die als Virtuelle Internationale Frauenuniversität (vifu) auch im Web präsent ist: http://www.vifu.de/.
Maßgeblich initiiert wurde die ifu von der damaligen niedersächsischen Wissenschaftsministerin Helga Schuchardt. Finanziert wurde sie mit mehreren Millionen DM vom Land Niedersachsen, vom Bund und von weiteren Einrichtungen. Die Vorbereitung der Präsenzphase nahm drei Jahre in Anspruch und ging mit der Entwicklung einer komplexen Organisationsstruktur einher. Neben fünf Querschnittprojekten, die sich etwa mit Evaluation, Studentinnenbetreuung und der Verbindung von Wissenschaft mit Kunst befassten, bestand die ifu aus sechs inhaltlichen Projektbereichen: 1. Arbeit, 2. Information, 3. Körper, 4. Migration, 5. Stadt und 6. Wasser. Diesen sechs Studienschwerpunkten war jeweils eine Dekanin zugeordnet. Insgesamt vierzig Wissenschaftlerinnen aus zwölf Ländern entwickelten im Rahmen von Curriculumsarbeitsgruppen (CAGs) für jeden Projektbereich jeweils ein Studienprogramm.
Die ifu war keine Gegen-Universität, sondern setzte in ihren Reformbestrebungen auf akademische Professionalisierung: Interessierte Studentinnen aller Altersgruppen wurden einem fachlichen Auswahlverfahren unterzogen und von namhaften Dozentinnen durch ein sehr umfassendes englischsprachiges Studienprogramm geführt.
Die Curricula der einzelnen Projektbereiche wiesen dabei ganz unterschiedliche Gender-Bezüge auf: Im Schwerpunkt Arbeit ging es unter anderem um Frauenarbeit oder Frauen in Männerberufen. Der Projektbereich Information stand unter dem Leitbild „Information als soziale Ressource“ und behandelte z. B. die Frage, wie Informationen zur Gesundheitsvorsorge in verschiedenen Kulturen und mit Hilfe unterschiedlicher Informationstechniken einzelnen Bevölkerungsgruppen zugänglich gemacht werden können. Der Schwerpunkt Migration besitzt von Hause aus einen starken Geschlechtsbezug: Weltweit migrieren mehr Frauen als Männer. Neben einer Auseinandersetzung mit zentralen Konzepten wie Migration, Mobilität, Transmigration, Nationalismen, Rassismen, Ethnizismen usw. standen auch studentische Projektarbeiten auf dem Plan, die sich kritisch mit der geschlechtsbezogenen Selbstdarstellung der Nationen auf der Expo 2000 auseinander setzten. Im Projektbereich Stadt wurde anhand von vier regionalen Beispielen (Santiago de Chile, Istanbul, Tel Aviv, Berlin) die Stadt u. a. als Ort von Technologie und Nachhaltigkeit oder als Ort symbolischer Zeichen und Emanzipation rekonstruiert. Im Projekt Wasser ging es nicht zuletzt darum, theoretische Grundlagen und praktische Vernetzung für Wasserversorgungsprojekte bereitzustellen.
„Ich will die Hindernisse beseitigen, die mich von der trennen, die leidet. Aus diesem Grund stellte ich, Barbara Duden, mich gegen alle Versuche, ‚den Körper‘ zu einem curricularen Gegenstand zu machen, denn wir suchen nicht nach ‚Körper‘, sondern nach der, die körperlich leidet.“ (S. 130). Mit diesem Argument verweigerte sich als einzige die Curriculumarbeitsgruppe Körper, die von der Soziologieprofessorin und Historikerin Barbara Duden (Hannover) als Dekanin geleitet wurde, einem Curriculum und schlug stattdessen das Konzept der „gelehrten Akademie“ vor: „Das Semester zum ‚Körper‘ ist deshalb aufgebaut um hervorragende Personen und erst nachgeordnet um Konzepte.“ (S. 132)
Die Frauenuniversität reflektierte sich selbst als „paradoxe Intervention“. Die Paradoxie bestand darin, „Geschlechtszugehörigkeit zum Zulassungskriterium zu machen, wenn gleichzeitig das Geschlecht als Strukturmoment in der Gesellschaft beseitigt werden soll.“ (S. 18) Die Separation von Frauen wurde dabei als Chance betrachtet, „das System der Zweigeschlechtlichkeit auf der Ebene der alltäglichen Praxen und – zumindest teilweise – auch als symbolisches Ordnungssystem außer Kraft zu setzen.“ (S. 18). Ob und wie das gelungen ist, kann nur anhand der Praxiserfahrungen beantwortet werden. Die Internationalität, die durch eine weltregionale Zulassungsquote und ausreichende Stipendien sicher gestellt wurde, mag verhindert haben, dass die Frauenuniversität ihre Mitglieder implizit dem Zwang aussetzte, in homogener Weise „weiblich“ zu sein: Zu unterschiedlich waren die Erfahrungen und Anliegen der teilnehmenden Frauen aus unterschiedlichen Generationen und Berufen, aus dem Norden und Süden, dem Osten und Westen, als dass sich Frausein als fixe Bezugsgröße und Identitätsgarant hätte behandeln lassen.
„In-Differenz-Werden“ ist die Wortneuschöpfung, die Gesa Heinrichs in ihrer Monographie dem Begriff der „Id-enti-tät“ an die Seite stellt. Damit soll Zustandsbeschreibung durch Prozessbeschreibung und jede eindeutige Selbst-Positionierung durch das fluktuierende Wechselspiel von Differenz- und Ähnlichkeits-Wahrnehmungen gegenüber anderen Menschen ersetzt werden. In ihrer „postfeministischen Einführung“ zur Triade „Bildung, Identität, Geschlecht“ geht Gesa Heinrichs in drei Schritten vor: Zunächst rekonstruiert sie (postmoderne) Identitätstheorien. Dann referiert sie kritisch wichtige klassisch-feministische sowie postfeministische Theorien zur Geschlechtsidentität, wobei der soziale Geschlechterkonstruktivismus nach Judith Butler (University of California, Berkeley, http://rhetoric.berkeley.edu/Butler.html) im Zentrum steht. Im dritten Teil schließlich überlegt sie bildungstheoretisch, inwieweit die Ausbildung einer „Ich-Identität“ heute überhaupt ein normatives Ziel im Bildungswesen sein kann und soll.
Identifizierungen – also beispielsweise Selbst- und Fremdzuordnungen zur Kategorie „Frau“ – werden dabei nicht verworfen. Schließlich ist subjektives Erleben auf Prozesse der Identifikation und Abgrenzung angewiesen. Allerdings lässt sich der mögliche Einengungs- und Zwangscharakter von Identifikationen reflektieren. Bildungsprozesse wären dann maßgeblich solche Reflexions- und Dekonstruktionsbemühungen, insbesondere, wenn situationsbezogene Identifikationen zu einheitlichen und stabilen Identitäten hypostasiert und Menschen im starren System der Zweigeschlechtlichkeit verortet werden.
Vor diesem Hintergrund muss etwa Barbara Dudens Plädoyer für die Identifikation mit der körperlich leidenden Frau (s. o.) nicht als Rückfall in die weibliche Opferrolle interpretiert werden. Vielmehr kann dieser identifizierende Zugang im Sinne des „In-Differenz-Werdens“ durchaus auch alternative und changierende Identifikationen integrieren und auch positive Körperbezüge mitdenken, die in der Curriculum-Darstellung immerhin mit einem Halbsatz benannt wurden: „Lust, Vergnüglichkeit, die Liebe und all das, was wir unter ‚Frauen-Autonomie‘ fassen“ (S. 130).
Während die allgemein verständliche Darstellung des ifu-Projektes als Ideenquelle, Kontaktbörse, Argumentations- und Organisationshilfe für ähnlich gelagerte (durchaus auch kleiner skalierte) Veranstaltungen dienen kann, richtet sich Gesa Heinrichs postfeministische „Einführung“ im Grunde doch an ein einschlägig vorinformiertes Publikum. Sie arbeitet den komplexen und vielstimmigen Diskurs um Identität und Geschlechtsidentität, wie er etwa in Soziologie, Psychoanalyse und Sprachwissenschaft geführt wird, sorgfältig und kritisch auf, setzt aber Grundkenntnisse voraus. Dabei zeigt sie, dass und wie gerade klassisch-feministische Theorien trotz emanzipatorischen Anspruchs immer wieder in simplifizierende und essentialistische Konzepte von Geschlecht zurückfallen und Frauen als Frauen den Männern als Männern gegenüberstellen.
Die tradierte Geschlechter-Dichotomie und Geschlechter-Hierarchie theoretisch zu bearbeiten, ohne sie durch kritische Rekapitulation ungewollt zu affirmieren – dies erweist sich als diffiziles Unterfangen. Mit Judith Butler empfiehlt Gesa Heinrichs einen diskursanalytischen Zugang und verteidigt ihn gegen den Vorwurf der Körpervergessenheit. Die Annahme, dass Geschlecht im Diskurs erzeugt wird, speziell durch bestimmte Interpretationen und Wertungen der Verknüpfung von Anatomie, Geschlechtsidentität und Begehren, negiere nicht die Macht körperlicher Erfahrung, sondern analysiere sie gerade. Insbesondere als Ergänzung und Erweiterung zur Lektüre von Butlers Schriften ist Gesa Heinrichs Monographie empfehlenswert. Das von der ifu auf praktischer Ebene als „paradoxe Intervention“ reflektierte Dilemma taucht auf bildungstheoretischer Ebene wieder auf
„Wenn eine zentrale Frage von Bildungstheorie die nach der Konstitution des Subjekts ist, gilt es […] das Problem der Selbstbestimmung immer auch als Problem der Geschlechtsbestimmung zu verstehen. Um dabei eine inadäquate essentialistische Bestimmung von Geschlecht zu vermeiden, wurde eine doppelte Bewegung vorgeschlagen: Einerseits muss Geschlecht in die Bildungstheorie als zentraler Bezugspunkt einbezogen werden, andererseits muss Geschlecht zugleich dekonstruiert werden. Es gilt, die Dichotomie der Zweigeschlechtlichkeit als langfristig zu verändernde zu verstehen und Bildungstheorie, die immer auch Zukünftigkeit entwirft, darauf auszurichten.“ (S. 236)
Es kann heute nicht Ziel einer „postfeministischen“ Bildungstheorie und Bildungspraxis sein, die Kategorie „Frau“ zu eliminieren oder klassisch-feministische Konzepte wie etwa „Frauen-Autonomie“ als Affirmation der Mann-Frau-Dichotomie pauschal zu verwerfen. Vielversprechender scheint es – so letztlich das Resümee beider Bücher – eine reflektiertere Verwendung geschlechtsbezogener Konstrukte gerade auch im Bildungsbereich zu fördern, die den fragmentarischen und widersprüchlichen Charakter von Geschlechtsidentität (die Differenzen zum Eigenen wie zum Anderen) nicht nivelliert.
URN urn:nbn:de:0114-qn031123
Dr. Nicola Döring,
TU Ilmenau, Kommunikationswissenschaft; Homepage: http://www.nicola-doering.de
E-Mail: nicola.doering@tu-ilmenau.de
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