Anna-Maria Götz:
Die Trauernde.
Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900.
Köln u. a.: Böhlau Verlag 2013.
418 Seiten, ISBN 978-3-412-21028-1, € 59,90
Abstract: Die Sozialhistorikerin Anna-Maria Götz macht Perspektiven der Geschlechterforschung für die Analyse europäischer bürgerlicher Bestattungs- und Erinnerungskulturen fruchtbar. Am Beispiel der weiblichen Grabplastik erhellt die Autorin das Wirkungsgefüge von Geschlechterbildern, visuellen und materiellen Kulturen und individuellem Repräsentationsbestreben. Entstanden ist eine überaus wertvolle Handreichung für Fragestellungen im Bereich akademischer disziplinübergreifender Sepulkralforschung und Geschichtswissenschaft wie auch für Anwendungsfelder in nichtakademischen Bereichen (z. B. bürgerschaftliches Engagement).
Historische Friedhöfe sind beliebt. Augenfällig inszenierte weibliche Grabplastiken kommen der Lust, pittoreske Dinge zu schauen, entgegen. Eben diese Figurationen unterzieht die Sozialhistorikerin Anna-Maria Götz im Rahmen ihrer Dissertation einer umfassenden Analyse. Im Ergebnis legt sie ein 418-seitiges monographisches Kompendium zur Geschichte sowie zu Bedeutung, Funktion und Wirkung der weiblichen Grabfigur − genannt die Trauernde − vor. Bezogen auf das Zeitfenster von 1870 bis 1920 fragt die Autorin zuspitzend: „Weshalb schmückten insbesondere Männer bürgerlicher Familien ihre Grabstätte mit einer weiblichen Plastik, die keine konkrete Frau darstellte, sondern ein rein idealisiertes Bild von Weiblichkeit?“ (S. 10). Die Trauernde, lautet ihre These, fungierte als ein zeitspezifisches, tiefgreifende Umbrüche indizierendes Schlagbild bürgerlicher Grabmal- und Trauerkultur. Die Autorin sucht ihren Gegenstand auf 19 westeuropäischen in Metropolen und in ländlichen Regionen gelegenen Friedhöfen auf. Angelehnt an das Personendenkmal entwickelte sich das Personengrabmal als eine prestigeträchtige Repräsentation von Person und Leistung. Die Trauernde transformierte diese Form des Gedenkens in einen poetischen Ort projektiver Ängste und Sehnsüchte im Spiegel des romantischen Todes.
In der in fünf Kapitel gegliederten Arbeit wird der Forschungsgegenstand mehrperspektivisch und multimethodial umkreist. Ein multifokaler Gegenstand und ein beständiger Perspektivwechsel erfordern eine stringent ordnende Architektur sowie eine konzise Wegführung durch eine solche Abhandlung. Als Grundpfeiler errichtet die Autorin den räumlichen Zugang (Friedhofskonzepte, Friedhof als Bühne, Lage der Begräbnisplätze, Platzierung der Plastiken), den bildlichen Zugang (bildliche Sinnstiftung, mediale Wirkung, kulturell-kollektives Bildrepertoir) und den mentalitätshistorischen Zugang (Vorstellungsbilder, -welten, Geschlechterverhältnisse, Zeichensysteme). Als stützende Verstrebungen zieht sie Analogiebildungen ein und führt mit gedanklichen Klammern von einem Baustein zum nächsten. Trotz ihrer außerordentlichen inhaltlichen Dichte dürfte die Arbeit nicht zuletzt aufgrund der mitreißenden Gestaltungskraft der Autorin auch für eine interessierte breite Öffentlichkeit lesbar und verständlich sein. Der reflexionsintensive Zugang erhält den Gegenstand in seinem komplexen Gefüge aus Materialität, Medialität, Visualität und Soziabilität.
Götz siedelt ihren schillernden, sich einer festen Verortung in einer Kerndisziplin verweigernden Gegenstand in den durchlässig-produktiven Rändern zwischen den Disziplinen an. Damit trägt sie dem Anspruch einer inter- bzw. transdisziplinären Forschung zwischen den Disziplinen der Kunst-, Bild-, Objektwissenschaften Rechnung − Wissenschaftszweige, die sich prinzipiell fruchtbar auf nahezu alle anderen Wissenschaften beziehen lassen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Autorin die ganze Studie hindurch von unterschiedlichen theoretischen Schulen inspirieren. Herangezogen werden u. a. der bildwissenschaftliche Ansatz von John Thomas Mitchell, die Bildanthropologie von Hans Belting, der theaterwissenschaftliche Ansatz von Erika Fischer-Lichte, der sprachphilosophische Zugang von Judith Butler, der kunstwissenschaftlich-ikonologische Ansatz von Erwin Panowsky sowie der sozialwissenschaftliche Ansatz von Erving Goffmann.
Mit Hilfe der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann betrachtet die Autorin die Grabplastik als ein zeitgenössische Sinnstrukturen materialisierendes Artefakt. Die Sequenzanalyse beleuchtet auf dieser Basis die Wechselwirkung zwischen städtischen Topographien, Friedhofskonzepten, regionalem Bestattungswesen und Grabmalkulturen. Die Diskursanalyse entflechtet die Komplexität des vorliegenden Gegenstands, indem sie dessen konstituierende Elemente und Ebenen lesbar macht. Das eigentliche Zeitfenster fest im Blick greift die Autorin weit vor und darüber hinaus, zeigt die Geschichte jeweiliger Diskurse und bettet sie in die jeweiligen Zusammenhänge ein. Treffsicher zieht Götz diskursive Kernaussagen heran, um sie ihrem Gegenstand anzulegen. Die Habitus-Analyse des Soziologen Pierre Bourdieu ermöglicht ihr, den Kreis der Grabmalinszenierenden einer bestimmten bürgerlichen, mit vergleichbaren Dispositionen und Selbstverständnissen ausgestatteten sozialen Klasse zuzuordnen. Die Begriffe ‚bürgerlich‘ bzw. ‚Bürgertum‘ verwendet sie dabei gemäß ihrem historischen, zeitdiagnostischen Gebrauch und grenzt die so Bezeichneten von der gesamten Gruppe des Bürgertums ab (S. 14). Aus subjektorientierter Sicht nach dem Habitus und der sozialen Distinktion fragend werden Intention, Motivation, wird das Wie des Totenkults beleuchtet. „Die Art der Inszenierung − bestehend aus Ausführung, Material und Lage − spiegelte die soziale Verortung bürgerlicher Familien innerhalb der Gesellschaft.“ (S. 296)
Die weibliche Personifikation der Trauernden wird als ein ‚repräsentatives Zeichen‘ bzw. als eine Repräsentation gefasst, die Vorstellungen erzeugt und darstellt, die etwas herstellt und auf etwas Abwesendes oder nicht Darstellbares verweist. Dreh- und Angelpunkt hierfür bildet das Geschlecht als eine sozial-historische, strukturelle Kategorie. Götz versteht die Repräsentation − so wird im Verlauf der Abhandlung deutlich − im Sinne einer nicht-metaphysischen Tradition. Statt von einer unmittelbar mimetisch-abbildenden Verwandtschaft zwischen Zeichen und Bezeichnetem auszugehen, steht die (relative) Eigenständigkeit der Zeichen, stehen deren Erzeugungs- und Wirkungsmodi im Vordergrund (vgl. Eco 1991). Die semiologische Analyse erhellt den Signifikationsprozess als eine Reihe von Praktiken, wie Bilder, Artefakte und Orte bedeutsam gemacht werden. Die ikonologische Analyse stellt eine Methode dar, um die sinnstiftende Wirkung der Grabplastik als ein visuelles, mit einem Zeigegestus ausgestattetes, Evidenz behauptendes Phänomen zu fassen. Mithilfe des vorgenannten theoretischen und methodischen Instrumentariums werden das Entstehen und das Wechselwirken von etabliertem Bildwissen, Ritualen, Trauerpraktiken und Mentalitäten sowie die Teilhabe bürgerlicher Familien an öffentlicher Selbstdarstellung nachvollziehbar und anschaulich.
Im Folgenden seien wichtige, für den behandelten Gegenstand relevante Elemente der aktuellen Forschungslandschaft genannt. Der mentalitätshistorische Ansatz von Phillipe Ariès, die zivilisationstheoretische Sicht von Norbert Elias, die philosophische Thanatologie von Martin Heidegger sowie das ritualtheoretische Konzept der Rite-de-Passages von Arnold van Gennep zählen zu den Klassikern einer essentialisierenden, androzentrischen Auseinandersetzung mit Tod und Trauer. Häufig sind es Weiblichkeitsbilder, die die Repräsentationen des Todes und deren Sinngehalte aus Magie, Mythe und Ideologie mit dem Assoziationsrahmen einer gottgegebenen Ordnung ausstatten. Van Gennep zufolge ergäben sich Trauerrituale aus psychisch oder genetisch bedingten, naturgesetzlichen Grundbedürfnissen. In seiner Perspektive steht ‚die Frau‘ aufgrund ihrer größeren Naturnähe für das Liminale, Todesnahe, für den Übergang von Natur zur Kultur. Aktuelle Sterbekonzepte verfolgen eine Re-Naturalisierung des Umgangs mit dem Tod, Sterblichkeit wird verhäuslicht, intimisiert und emotionalisiert. Einer frauenforschenden, die Trauer verherrlichenden Strömung zufolge habe das Patriarchat bislang eine wesensgemäße, biologisch-zyklisch und mythisch begründete weibliche Bestattungskultur unterdrückt.
Von natürlichen, geschlechtsbinären menschlichen Anlagen ausgehend belassen es Trauerforschungen häufig bei der Aufzählung von Geschlechterunterschieden, statt die Dimensionen ihrer Erzeugung zu befragen. Die Bereiche Tod und Trauer werden zunehmend interdisziplinär erforscht (vgl. u. a. die Tagungs-Reihe „Transmortale – Neue Forschungen zu Sterben, Tod und Trauer“). Die Geschlechterforschung erhält dabei durchweg den Status einer Sonderdisziplin. Auf diese Weise büßt die Kategorie Gender ihr fächerübergreifendes erkenntnistheoretisches und machtkritisches Potential im Sinne einer Querschnittskategorie ein. Dass die Kategorie Geschlecht (mit-)bestimmt, was, wie und von wem erinnert oder vergessen wird, was intendiert oder beiläufig Präsenz erhält, belegen Forschungen, welche Gedächtnistheorie, Kulturtheorie, Psychoanalyse und Geschlechterforschung zusammenführen (vgl. exemplarisch Eschebach 2002, Helmers 2004). Das kultur- und sozialgeschichtlich Gewordene von Geschlechterverhältnissen, Ritualen und Objekten ist mit der Geschichte der Medien verschränkt. Der Code des kulturellen kollektiven Gedächtnisses, dessen Bild- und Geschlechterstereotypenreservoire, sind unauflösbar verwoben mit dem sozialen alltagsnahen Gedächtnis des individuellen Tätig- und Objektbezogenseins.
In der vorliegenden Studie nun geben Ansätze der Gender Studies, der Visual Studies und der Cultural Studies entscheidende, de-essentialisierende Instrumente und Blickwinkel an die Hand. Geschlecht wird als mit weiteren sozial- und kulturgeschichtlichen Kategorien verschränkt wahrgenommen; diese Kategorie erweist sich als ein erkenntniskritisches Instrument auch im Bereich der Sepulkralforschung. Unhinterfragte Vorannahmen vorgenannter traditioneller Ansätze werden dekonstruiert. Die Autorin fächert das Zusammenspiel von Gedächtnis, Geschlecht und der Geschichte der (Erinnerungs-) Medien auf. Sie verdeutlicht die konstitutive Bedeutung der materiellen und visuellen Kultur für die Konstruktion dichotomer Geschlechterkulturen. Götz zieht in diesem Zusammenhang unterschiedlichste, Vorstellungen und Ideologien von Geschlecht, Tod und Trauer verhandelnde Kulturproduktionen heran.
Gängige Ansätze zur Erforschung des Totenkults bewegen sich im Bereich von Krisen-, Ritual-, Trauer- und Brauchtumsforschung. Anna-Maria Götz bricht die vorgenannten Perspektiven auf; sie befragt die Umgangsweisen mit Tod, Trauer und Gedenken als kontext- und wirkungsgebundene kulturelle Praktiken in symbolischen Systemen und Zeichencodes. Die Begriffe ‚Repräsentation‘ und ‚Zeichen‘ sowie weitere in ihrem Gefolge stehende Begriffe haben disziplinabhängig unterschiedliche, kontroverse Entwicklungs- und Verwendungsgeschichten erfahren und treten vielgestaltig und mehrdeutig auf (vgl. von Hoff 2013). An dieser Stelle kann (und muss) die Autorin die heterogene Binnenarchitektur diesbezüglicher erkenntnistheoretischer Diskurse, wie sie zum Beispiel die Gender Studies und die Visual Studies verzeichnen, nicht aufschließen. Die Repräsentationskritik respektive die Zeichentheorie gerät mitunter in Verdacht, das sozial Tatsächliche, die materiale Präsenz ihrer Gegenstände verschwinden zu lassen. Zudem kann das theoretisierende Ausloten möglicher Sinnstiftungen von Grabinszenierungen den Bedeutung generierenden Entstehungs- und Verwendungszusammenhang ausblenden. Vorgenannten Gefahren entgeht die Autorin, indem sie die Grabskulptur als ein dreidimensionales, bildhaftes Kulturprodukt begreift. Entstehungsprozesse, Kontextualisierungen und Effekte materialer Präsenz werden analysiert und bedeutungstragende materielle und soziale Dimensionen in den Vordergrund gerückt.
In den folgenden Absätzen sollen Blitzlichter auf die Herzstücke der Studie geworfen werden.
Anna-Maria Götz arbeitet eindrücklich Funktionen und Wirksamkeiten des Blicks als Bilderzeuger und als Handelnder geschlechtlicher Einschreibungen heraus. Im ersten Schritt des zweiten Kapitels diskutiert sie − stadt- bzw. kultursoziologischen Ansätzen verpflichtet − den Friedhof zunächst als ein urban informiertes Feld. Herausgeschält wird das Zusammenspiel von Großstadterfahrung und Blickverhalten, von Architektur, Administration, Trauer-Politik und regionaler Besonderheit. In den Friedhofsgartenlandschaften entwarfen Inszenierungen idealer, domestizierter Weiblichkeit einen alternativen Zufluchtsort. Im Gegensatz zum bedrohlich erscheinenden Urbanen erschien Kontingenz gezähmt; Sinnbilder des Mütterlichen heben den Tod ‚von Natur aus‘ (vgl. zum Begriff des ‚Natürlichen‘ Douglas, 1991) in eine sinnvolle Ordnung auf.
Die Autorin lenkt die Aufmerksamkeit auf individuelle Gebrauchs- und Rezeptionsweisen. Die Trauernde ist auf bestimmte, einem historischen Wandel unterworfene Wahrnehmungen und Praktiken hin angelegt, die Götz rekonstruiert. Im Bestreben, geschlechterdifferente gesellschaftliche Überlegenheit und Erinnerungswürdigkeit auszustellen, erwarben bürgerliche Eliten selbstermächtigende Kapitalsorten im Bourdieu’schen Sinne. Die „Trauernden traten dabei zunehmend als eine Art Designobjekt in Erscheinung, welches das ‚Gesamtkunstwerk Leben‘ für das Ableben, den Abschied und das Gedenken konsequent vervollständigte.“ (S. 278) Deutlich werden die Adaption kollektiv bedeutsamer Zeichen und Praktiken zur Ausdifferenzierung individueller Darstellungs-, Wahrnehmungs- und Deutungskompetenzen und auch das Spiel mit Sehgewohnheit und Schaulust, mit optischer Botschaft und der Interpretation des Gezeigten. Die Lage, die Größe, das Material und die Raumwirkung der Plastik, die innere und äußere Haltung Betrachtender erweisen sich als ebenso wichtig wie die Motivik, die Symbolik und die Ikonografie der Grabmalplastik.
Die breit angelegte Motivanalyse zur Trauernden stellt ein Herzstück der Studie dar (drittes Kapitel). Die Grabplastik nährt sich aus Motivtraditionen und Bildfamilien, die sie mit christlichen, profanen und mythologischen Bedeutungen aufladen. Das Ziel ist, Überzeitlichkeit und Natürlichkeit zu behaupten, den Ursprung des Einsetzens jeweiliger Motive und Bedeutungen vergessen zu machen. Die Autorin leitet Prinzipen zur Bebilderung des Todes (z. B. Geschlecht, Körper, Eros, Schönheit, Trauer, Pathos) historisch her und arbeitet deren Niederschlag in epochenspezifisch ausgestalteten Ideal-Konzepten von Familie, Liebe, Gefühl, Natur, Jenseits und Ewigkeit heraus. Traditionell geschlechtsunspezifische Personifizierungen der Grabmalkultur vereindeutigen sich im 19. Jahrhundert zu weiblichen Figuren. Der antike männlich-erotische Todesgenius leitet das moderne Todesbild ein, die weiblich-erotisierte Trauernde treibt es auf die Spitze. Dabei wurde „nicht einfach die Darstellung des männlichen Körpers in die Darstellung eines weiblichen Körpers überführt, sondern auf der Matrix einer Bildtradition der Wechsel vom biologischen Geschlecht (sex) zum sozialen Geschlecht (gender) vollzogen.“ (S. 133)
Götz zeigt die begrenzte Reichweite traditioneller kunstwissenschaftlicher Hermeneutik für die Analyse ihres Gegenstands auf. Sie versammelt und befragt gezielt das aus vorgenannter Sicht Uneindeutige, Übersehene, an der Scheidelinie zum Kunsthandwerk oder zum Populären Befindliche, Auszuscheidende. Die Trauernden, so lautet der Befund, „evozieren eine Rezeptionsweise, die nicht entweder den weiblichen Genius oder den weiblichen Schutzengel, die Pieta oder die Muse, die Mutter Natur oder die ‚trauernde Freundschaft‘ und dergleichen erkennt, sondern jeweils beide bzw. jeweils alle Bildverweise mit ihren Kontexten, Vorstellungen und Sinnstiftungen.“ (S. 203, Hervorhebung im Original) Entstanden ist eine neue geschichtsfähige Bildschöpfung in Form eines Amalgams. Aus Sicht der Rezensentin ergibt sich folgender hervorzuhebender Befund: Das Amalgam lehnt sich zwar an künstlerische Ideen an. Der Ursprung der Bildschöpfung ist jedoch gerade nicht in einer künstlerischen Idee zu suchen, sondern in den Wechselwirkungen von Kunstproduktion, -aneignung und –betrieb, ebenso in kultur- und sozialhistorischen Prozessen, in ideologischen Strömungen und in individuellen, selbstermächtigenden Bewusstseinslagen. Erfahrung, Wahrnehmungskompetenz und Darstellungsinteresse sozialer Akteur/-innen definieren das Feld der Kunst auf eine eigene Weise. Die Autorin präsentiert das Amalgam in Form einer als Daumenkino aufbereiteten ikonografischen Bilderreihe. Diese innovative Präsentation wissenschaftlicher Befunde erweitert den Zugang.
Eine Klammer bildete der europaweit beobachtbare Stilpluralismus künstlerischer Grabinszenierungen im Gefüge historisierender und romantisierender Gegenbewegungen zur Moderne. „Auf die gleiche Weise, wie unterschiedliche Symbole und Bildtraditionen in der weiblichen Grabplastik zu einem sinnstiftenden Amalgam verschmolzen wurden, wurden auch Stile unterschiedlicher Epochen zu einer individuellen Inszenierung hybridisiert.“ (S. 275) „Die Inszenierung von Motiven, Symbolen und Raumwirkung zielte also auf Rezipienten und Rezipientinnen und deren Bilderkenntnisse ab, für welche die Besänftigung des Todes, die Ästhetisierung des Schmerzes und die Kultivierung des Andenkens identitäts- und sinnstiftend waren.“ (S. 205) Die Trauernden verweisen auf einen trauer- und erinnerungskulturellen Wandel; die eheliche Liebe, die freundschaftliche Verbundenheit oder die Tochterliebe bildeten thematische Grundlagen hierfür. Durch diesen Rahmen wird die klassische, genealogische Familien-Memoria in eine emotional besetzte, auf Ausmerzung von Erinnerungskonflikten angewiesene kollektive Erinnerungsgemeinschaft aufgehoben. Diese Ergebnisse – so sei bezogen auf den Fachdiskurs angemerkt – für den gesamten westeuropäischen Untersuchungsraum zu behaupten, relativiert die im Fachdiskurs gängige These, dass Bestattungskulturen auf das ‚Wesen‘ eines Volkes bzw. einer Nation verweisen.
Den vorgenannten sinnstiftenden Prozessen auf der Spur erklärt Götz ihren Gegenstand zur Schnittstelle paradigmatischer Problemstellungen und sozialer Praktiken. Im mentalitätshistorisch orientierten, mit zahlreichen Exkursen versehenen vierten Kapitel widmet sie sich den Akteuren und Akteurinnen als Bedeutungsproduzierende (dem Begräbnis Vorsorgende, Hinterbliebene, öffentliches Publikum, Auftragnehmende). Das Kapitel fokussiert das Verhältnis zwischen der Plastik als Artefakt und zeitspezifischen, historisch hergeleiteten Diskursen. Diskutiert werden zeitgenössische Normen, Gefühlsartikulationen und Denksysteme z. B. im Feld von Architektur, Landschaftsbau, Kostüm- und Stadtgeschichte, Design, Gesellschaft, Politik, Religion, Wissenschaft, Familie, Gesundheit und Alltagskultur. Alltagskulturelle Quellen wie Verkaufskataloge, Friedhofsdokumente, Ratgeber, Anstandsbücher und medizinische Traktate erweisen sich als ergiebig. Die Frage lautet, „wer hinter den Figuren stand, welcher Umgang kultiviert wurde und wofür die Figuren im tieferen Sinne standen.“ (S. 210) Sukzessive wird die diskursive Begründung für das Entstehen geschlechterdifferenter Klischees und Normen herausgeschält. Der Auftragssituation zufolge wählten mehrheitlich männliche Auftraggeber die Plastik. Die Bürgerinnen waren erb-, vertrags-, familien- und bürgerrechtlich vom Graberwerb ausgeschlossen. Vorsorgemaßnahmen entsprachen dem Selbstverständnis männlicher Familienoberhäupter (S. 213 f.).
Die gemeinschaftsbildende und erinnerungsstiftende Funktion von Weiblichkeitsbildern hat eine lange Tradition. Je nach Kontext und Bedarf modernisieren Erinnerungsgemeinschaften entsprechende Erscheinungsbilder und füllen sie mit neuen Symbol- und Sinnwelten auf. Götz identifiziert diesen Prozess an Beispiel der Trauernden im Zusammenlesen zahlreicher Diskurse. „Bürgerliche Familien hatten das ‚Prinzip Denkmal‘ […] verinnerlicht und daraus eigene Kulturpraktiken für den Kontext Tod, Trauer und Gedenken […] entwickelt […]. Das Bürgertum hatte also dem Lebenswerk seiner Verstorbener ein Denkmal gesetzt, wie beispielsweise auch der Einheit der Nation, dem Vermächtnis der Künste oder der Leistung der Wissenschaften eigene Denkmäler zugedacht worden waren.“ Die weibliche Grabplastik stand „nicht selbst für die glänzenden und heroischen Taten des Gatten, sondern als Garantin dafür: Indem der Daseinswert der Frau an die weibliche Harmonisierung des Mannes und der Familie gekoppelt war, strahlte er auf die Verdienste des Familienoberhauptes zurück.“ (S. 254) Repräsentieren weibliche Nationalpersonifikationen eine politische Erinnerungsgemeinschaft, verweisen die Trauernden auf die Familie bzw. das Familienunternehmen als Gemeinschaft. Traditionell verkörpern weibliche Allegorien Tugenden und Wesenszüge männlicher, auf den Sockeln und damit im Zentrum von Personendenkmalen stehender Protagonisten. In dem Moment, da die Allegorie das Bild des Herrschers vom Sockel zu stoßen begann, um sich selbst als ein Sinnbild darauf zu positionieren, entwickelte sie sich in der Grabinszenierung vom Zeichenträger zu einem eigenständigen neuen Zeichen (S. 233). In einer Zeit bereits im Wandel begriffener Geschlechterrollen und -verhältnisse dient sie den Vorsorgenden, den Hinterbliebenen und dem anonymen Friedhofspublikum der Selbstversicherung, Selbsterhöhung, Beruhigung und der geschmacklich-ästhetisierten Vervollkommnung. Galt die Herzensbildung im 18. Jahrhundert noch als ein geschlechterunabhängiges Ideal, differenzierten sich im 19. Jahrhundert weibliche (zwischenmenschliche Bindung, Familie) und männliche (Vaterlandsliebe) Gefühlswelten entlang dichotomer Geschlechtscharaktere heraus. Der repräsentierende, idealisierte Charakter der Witwentrauer spiegelt die bürgerliche Trauer als eine Schnittmenge von Verhaltenskonvention, Selbstvergewisserung, Gestus, Kleidung, Ritual und beobachtendem Umfeld (S. 259). Das Versteinern, das Substituieren trauernder Familienangehöriger durch die Trauernde suchte „einen Zustand festzuhalten, der auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft […] anspielte.“ (S. 264) Den weiblichen Grabplastiken, ihren Pathosformeln, ihrer Bildverwandtschaft mit Schicksalsgöttinnen, Mutterbildern und Siegesallegorien ist die emotionale Bindung zu bzw. die Ehrerbietung gegenüber den Verstorbenen eingeschrieben (S. 330). Das Bild der idealen Frau als das sichtbar Andere versprach in einer fragmentierten modernen Lebenswelt Ganzheit, Vereindeutigung und Ordnung.
Indem die Autorin strukturelle Bedingungen bürgerlicher Lebenswelten im Umbruch der Moderne exemplifiziert und daraus Funktionen der Grabplastik begründet, destilliert sie zugleich sozial- und kulturgeschichtliche Bedeutungen des Friedhofs heraus. Anschaulich werden zum einen historische Wirkungsgefüge von Psycho-, Sozial- und Kulturanalyse und zum anderen sozialkonstruktivistische Aspekte des symbolischen Vermitteltseins menschlichen Handelns. Dabei treten Ursprünge der Psychologisierung von Tod und Trauer, treten die darin eingelassenen geschlechtlichen Zuschreibungen und Symbolisierungen als historischer respektive als unabschließbarer Prozess zutage. Im Zusammenspiel von Individuierung und Gemeinschaftsbildung fungierte der Friedhof seit dem 18. Jahrhundert zunehmend als Ort subjektivierender Praktiken. Im Wege der Selbstbildung galt es, expressive Zeichen verstehen zu lernen, sie mittels Beobachten als Grundlage moralischer Urteilspraxis einzuüben. Der gemeinsame Genuss in der Rezeption des Bildlichen und Materialen löste vergemeinschaftende Empfindungen aus. Empathie und Identifikation entwickelten sich zu sozialpsychologisch bedeutsamen Bausteinen. Das vielschichtige narrative Sujet der Trauernden schaffte Voraussetzungen für ein öffentlichkeitstaugliches Trauern im Fadenkreuz gelenkter Blicke.
Erforderlich wäre − so reflektiert die Autorin gewisse Grenzen ihrer Arbeit − eine über den punktuell geleisteten Vergleich hinausgehende, systematische europäische Gegenüberstellung mittels transnationaler interkultureller Fragestellungen. Das Erschließen weiterer Quellen (Egodokumente, Denkmalschutzmaßnahmen, Patenschaftsgräber, Inventarisierung von Archivbeständen) würde die vorliegende Rezeptionsanalyse auf sicherere Füße stellen. Der multitheoretische Zugang kann den Eindruck theoretischer Unruhe erzeugen. Erfahrungswissenschaft, Kulturempirie, Handlungstheorie, Zeichentheorie, Dekonstruktion und Diskursanalyse als verschiedene Theorieschulen zusammenzuführen, verstärkt die ohnehin angelegten Wechsel von Untersuchungsebenen und akteurbezogenen Perspektiven. Spannend wäre, in diesem Betrachtungszeitraum systematisch das die Geschlechterstereotype Relativierende aufzusuchen. In manchen Grabinszenierungen scheint − etwa als ästhetisierender Verweis auf eine bizarre Biographie − eine Kritik an tradierten Männlichkeitsentwürfen und bürgerlichen Idealen auf. Veränderte männliche Seinsweisen etwa als Dandy, Sportler oder décadent suchten bürgerliche Werte und massenkulturelle Erscheinungen zu unterlaufen. Die Transformation hegemonialer Männlichkeitsentwürfe unter dem Einfluss von Hermik, Homosexualität und Androgynität wäre als eine eigene, auf den Tod und auf vorgenannte Weiblichkeitsideale bezogene Dynamik zu befragen.
Die Autorin erschließt in ihrer Studie die weibliche Grabplastik als einen auf Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten angewiesenen, widersprüchlichen Repräsentations- und Rezeptionsprozess. Dieser Prozess materialisiert sich in Form eines kollektiv sedimentierten, substituierenden Artefakts, das seinerseits neue Praktiken und Vorstellungen generiert. Die Kontingenz des Nichtdarstellbaren, das der Tod ist, verlangt nach immer neuen Narrationen zu ihrer Reduktion. Der Diskontinuität der Trauer- und Erinnerungsmedien steht die Kontinuität bestimmter Darstellungs- und Deutungsmuster gegenüber, mit Hilfe derer sich Erinnerungsgemeinschaften konstituieren und ihr kulturelles Erbe weiterzugeben suchen. Die an der Trauernden explorierten Prinzipien erscheinen zeitlos. Ihre Wirkungen, die sie konstituierenden Prozesse reichen bis in die Gegenwart. Abermals dient das Schlagbild als Projektionsfläche für Geschichtsträchtigkeit, kultivierte Trauer, würdevollen Abschied oder Ewigkeitshoffnung (fünftes Kapitel). In der Forschungslandschaft zu Tod, Trauer und Gedenken sind − neben abstrakt theoretisierenden Arbeiten − hermeneutische Rückbezüge auf konkrete Lebenswelten nicht mehr wegzudenken. Trauer- und Erinnerungsforschung verlangt den Blick auf umfassende sinnstiftende, lebensweltliche, gesellschaftliche Prozesse. Genderimprägnierte Lebenswelten ohne Ansätze der Geschlechterforschung analysieren zu wollen, kommt einer Verweigerung der Komplexität der Wirklichkeit gegenüber gleich. Die vorliegende Arbeit belegt eindrücklich, dass die Geschlechterperspektive blinde, Ungleichheit produzierende Flecken vorgenannter Prozesse, mithin Komplexität zu erhellen vermag. Wir haben es mit einem qualitativen Sprung in der Analyse des Totenkults zu tun.
Douglas, Mary. (1991). Institutionen kennen Erinnerung und Vergessen. In Mary Douglas. (1991). Wie Institutionen denken. (S. 113–132). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Eco, Umberto. (1991). Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München: Wilhelm Fink.
Eschebach, Insa/Jacobeit, Sigrid/Wenk, Silke (Hg.). (2002). Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag.
Helmers, Traute. (2005). Anonym unter grünem Rasen. Eine kulturwissenschaftliche Studie zu neuen Formen von Begräbnis- und Erinnerungspraxis auf Friedhöfen. http://oops.uni-oldenburg.de/124/ (Download: 26.11.2014)
Hoff, Dagmar von. (2013). Performanz/Repräsentation. In Cristina Braun/Inge Stephan (Hg.). (2013). Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorie. (S. 275–295). Köln u. a.: Böhlau Verlag.
Dr. Traute Helmers
Freiberuflich tätige Kulturwissenschaftlerin
E-Mail: traute.helmers@uni-oldenburg.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
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