Waltraud Ernst, Ilona Horwath (Eds.):
Gender in Science and Technology.
Interdisciplinary Approaches.
Bielefeld: transcript Verlag 2013.
262 Seiten, ISBN 978-3-8376-2434-2, € 32,99
Abstract: Mit einer wahrlich trans- und interdisziplinären Sammlung an Artikeln werden im vorliegenden Buch feministische Kritiken und Methoden vorgestellt, die sich auf die Voraussetzungen und Abläufe technologischer Prozesse beziehen. Es wird deutlich, wie geschlechtsbezogene und andere Diskriminierungsformen in die technische Wissensbildung und -vermittlung, in Design- und Produktentwicklungsprozesse sowie in den Konsum und die Nutzung von Technologie eingeschrieben werden. Bedauerlicherweise werden intersektionale Faktoren und queere Identitäten teilweise unzureichend thematisiert. Ein besonders interessanter Aspekt des Buches ist die Konzentration auf Ansätze, die sich auf situiertes Wissen und Handlungsstrategien beziehen und sich lose dem sogenannten New Materialism zuordnen lassen.
Die Schlagwortkombination Gender, Wissenschaft und Technologie stößt im politischen Mainstream der letzten Jahre auf wohlwollende Förderbereitschaft (z. B. UNESCO 2014). Im Zentrum der Zielsetzungen steht dabei der Einbezug unterschiedlicher ‚Dimensionen von Gender‘ (z. B. COST 2014). Bei einer Sichtung entsprechender Motivationspapiere entsteht jedoch der Eindruck, dass es dabei nicht selten um eine quantitative Förderung von Karrieren einer abgrenzbaren Gruppe ‚Frauen‘ in technologischen Berufen geht und dass diese Förderung sich möglichst in patriarchale Kontexte einbetten sollte, deren Machtstrukturen grundsätzlich anerkannt werden. Anhand der Thematisierung des sogenannten ‚Gender Gap‘ in den technischen Wissenschaften lässt sich sehr gut verdeutlichen, wie schwierig es ist, sich von kategorialen Grundannahmen zu lösen und den eigenen, häufig einer mehrfach privilegierten europäischen oder US-amerikanischen Perspektive entspringenden, Tunnelblick auf Genderprobleme zu reflektieren.
Auch das vorliegende Buch Gender in Science and Technology zeigt sich in dieser Hinsicht zunächst nicht übermäßig radikal, seine Herausgeber*innen wagen jedoch den wichtigen Schritt, verschiedene Ebenen sozialer und politischer Kontexte und Positionen überhaupt zu thematisieren. Gleichzeitig wird auf spannende Weise verdeutlicht, dass Fragen zu ‚Gender in Wissenschaft und Technologie‘ Analysen erfordern, die sich keinesfalls nur auf Quoten, Stereotypen und Alltagssexismen in bestimmten Berufsfeldern beziehen, sondern vielschichtige Interaktionen, Prozesse und sogar Produkte mit einschließen müssen.
Die Herausgeber*innen Waltraud Ernst und Ilona Horwath stellen den Band als eine Sammlung von Artikeln vor, die ─ mit Hilfe einer Synthese von Methoden und Erfahrungen aus den Gender Studies und den Science and Technology Studies (STS) ─ der Rolle von Gender in wissenschaftlicher Technologieforschung und in der Entwicklung neuer Technologien gewidmet sind (S. 7). Die Kombination unterschiedlicher theoretischer Perspektiven, die sich an vielen Stellen auf heute oft als New Materialism bezeichnete Ansätze beziehen, beschreibt aktuelle Entwicklungen in der emanzipatorischen Forschung.
Science and Technology Studies (STS) kann grob mit ‚Wissenschafts- und Technikforschung‘ übersetzt werden. Im Buch wird sich dabei vor allem auf Informatik und Ingenieurwissenschaften bezogen; jedoch verdeutlicht die Auswahl pädagogischer, medienwissenschaftlicher und lebensmitteltechnischer Themen den vielfältigen Charakter des Feldes. Die Artikel vermitteln mit Hilfe kreativer Metaphern und nachvollziehbarer Beispiele einen spannenden Eindruck von der Welt, der von uns alltäglich genutzte Produkte entspringen. Dabei wird nicht nur die Reproduktion von Machtverhältnissen in technologischen Bereichen thematisiert, sondern auch versucht, diese grundlegend auf einer praktischen Ebene zu hinterfragen. Könnte ein Gerät auch anders aussehen? Könnten Programmiersprachen auch ganz anders funktionieren?
Obwohl die vielseitigen Themen des Buches für alle, die in irgendeiner Form mit wissenschaftlicher Forschung und/oder Technologie arbeiten oder diese nutzen, höchst interessant und inspirierend sein könnten, erfordern viele Artikel ein Grundwissen oder Vorerfahrungen mit wissenschaftlichen und methodischen Theorien. Daher kann das Buch insgesamt also vor allem Menschen mit wissenschaftlichem Hintergrund und Menschen, die selbst in Design-, Forschungs- und Produktentwicklungsbereichen tätig sind, empfohlen werden.
Die Beiträge sind in drei Hauptteile aufgeteilt, welche sich auf den Designprozess, die den STS zu Grunde liegenden Wissenstheorien und auf Bedingungen der Teilhabe an STS beziehen. In fast allen Artikeln wird deutlich, wie Aspekte von Gender mit unterschiedlichen Facetten von Zugänglichkeit und Zugang, Repräsentation und Repräsentativität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verbunden sind. Es werden verschiedene Interventionsmöglichkeiten aufgezeigt, die auf unterschiedlichen Ebenen wirksam sein könnten: auf der theoretisch-epistemologischen, auf der designbezogenen, methodischen, auf der institutionalisierten, strukturellen Ebene und bezogen auf Prozesse und Räume des Lehrens und Lernens.
Im ersten Hauptteil wird das Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen in den Entwicklungsprozessen neuer Technologien thematisiert.
Während Anne Balsamo (S. 19−39) anhand einer Projektbeschreibung für den Einbezug verschiedenster sozialer Positionen plädiert, gibt Els Rommes’ (S. 41−55) Studienzusammenfassung einen aufschlussreichen Einblick in die Skripte und Entscheidungsabläufe, die technologischen Designprozessen zu Grunde liegen. Anhand dieser Beispiele aus der Praxis wird deutlich, wie die Entwicklung von Geräten oder Programmen vom Hintergrund und von den sozialen Positionen der Designer*innen geprägt ist und dass die vorgesehene Benutzung der Produkte häufig auf stereotypen Generalisierungen basieren. Rommes illustriert außerdem, welche unterschiedlichen gewollten und ungewollten Folgen dies für technische Produkte haben kann, und untersucht die Brauchbarkeit verschiedener Designmethoden für die Entwicklung genderneutraler oder gar feministischer Produkte.
Corinna Bath (S. 57−78) erweitert Rommes’ Darstellung um zusätzliche Analysen und mögliche Interventionen, indem sie Karen Barads Konzept der Posthumanist Performativity (siehe auch Barad 2003) einführt. In diesem Ansatz werden Menschen und Objekte als in komplexer Interaktion stehend und auch jeweils über eine gewisse Agency (Handlungsfähigkeit) verfügend betrachtet. Bath zeigt auf, wie in der Entwicklung von Technologien cis-männliche Positionen auch in die formellen Instrumente, Methoden, Algorithmen und Sprachen einfließen. Schließlich entwirft Bath einige Gegenstrategien und geht auf mögliche Barrieren und Probleme ein. Dabei ist vor allem hervorzuheben, dass Bath als eine von wenigen der im Buch versammelten Autor*innen die Problematik der Reproduktion und Verfestigung alter und neuer Genderkategorien selbstkritisch reflektiert.
Im letzten Artikel des ersten Teils beschreibt Cecile K.M. Crutzen (S. 79−108) anhand von Theater- und Maskenanalogien ihre Analyse (un-)sichtbarer Aspekte menschlich-nichtmenschlicher Interaktionen in der virtuellen Welt. Wie einige andere Artikel des Bandes hätte dieser von einem gründlicheren Revisionsprozess profitieren können. So fällt in vielen Artikeln eine gewisse Kompliziertheit und Redundanz auf, die zum Teil den Effekt der inspirierenden Inhalte ─ in diesem Fall den der hervorragend ausgewählten Theatermetapher ─ schmälert. Diese ‚Kompliziertheit‘ spiegelt möglicherweise auch ein generelles Problem kritischer, interdisziplinärer Ansätze wider: Die sprachliche und methodische Sozialisierung in Informatik, Gender Studies, Kulturwissenschaften, Psychologie und anderen Feldern kann extrem unterschiedlich sein. Dadurch gestaltet sich die Vermittlung von sehr fachspezifischen und abstrakten Inhalten nachvollziehbar schwierig, wodurch wiederum das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Überschneidungen erschwert wird.
Im zweiten Hauptteil des Buches, der sich mit den epistemologischen (erkenntnistheoretischen) Grundlagen von Wissenschaft und Technologie beschäftigt, werden die Inhalte der STS mit sozialen Konstruktionsprozessen von Geschlecht in Beziehung gesetzt.
Rebecca Jordan-Young (S. 111−128) bietet einen Einblick in die biologistisch und deterministisch geprägten Grundannahmen patriarchaler Wissenschaft. Im Artikel wird nachgezeichnet, wie vorherrschende wissenschaftliche Diskurse und Akteur*innen noch immer von grundlegenden Unterschieden zwischen zwei Geschlechtern ausgehen und nie wirklich Abstand von der Vorstellung eines essentialisierten (wesenhaften) Ichs genommen haben. Descartes’ Homunculus scheint lediglich durch andere Konstrukte ersetzt worden zu sein: So werden beispielsweise den sogenannten Geschlechtshormonen deterministische Kräfte zugesprochen, die ─ trotz widersprüchlicher und zum Teil bizarrer Grundannahmen ─ zur Erklärung und Reproduktion stereotyper Vorstellungen angeblicher Geschlechtsunterschiede herangezogen werden.
Jordan-Young fordert neben einer Abkehr von essentialistischen Geschlechtskonstrukten ein radikales Neudenken und stetiges Reflektieren von Forschungsperspektiven. Es ist schade, dass viele Artikel des Buches dieser Forderung nur in Teilen gerecht werden. So fällt auf, dass sich an vielen Stellen zwar theoretisch von (binären) Genderkategorien distanziert, in der Feldforschung jedoch immer wieder mit Maskulinitäts- und Femininitätskonstrukten gearbeitet wird und dass Menschen, deren zugeordnetes Geschlecht nicht ihrer Identifikation entspricht, im Buch fast völlig unsichtbar sind. Von patriarchalen Machtverhältnissen sind hier ganz klar vor allem Cis-Frauen betroffen.
Barbara Orland (S. 129−146) veranschaulicht in ihrem Artikel über die Geschichte ‚natürlicher‘ und ‚künstlicher‘ Babynahrung das Zusammenspiel kultureller und technischer Entwicklungen. Aus feministischer Perspektive ist dabei besonders aufschlussreich, wie sehr patriarchale Akteure Fragen der Reproduktion sogar in diesem Bereich bestimmen. Im europäischen Kontext werden Konstrukte von Weiblichkeit stark an Konstrukte von Mütterlichkeit gekoppelt, welche wiederum durch Legenden von Natürlichkeit verfestigt werden. Im Laufe der Geschichte sind es jedoch vor allem ‚Männer‘ in der Rolle von Ärzten, Ehemännern, Autoren, Fabrikanten, Werbefachleuten, die die Normen und Details der Mutterschaft verhandeln. Orland zeichnet exemplarisch historische Konstruktionen von Natürlichkeit und Unnatürlichkeit, von Bedürfnissen und Notwendigkeiten nach und zeigt auf, dass hinter Narrativen von ‚objektiver‘, ‚rationaler‘ Wissenschaftlichkeit Konstruktionsprozesse stehen, die häufig von subjektiven männlichen Sichtweisen, kapitalistischen Erwägungen und paradoxen Folgen geprägt sind.
Waltraud Ernst (S. 147−163) exploriert in einem spannenden Artikel Forschungsperspektiven, die Butlers Konzept der Performativität mit Barads Agental Realism und Anne Fausto-Sterlings Konzept von Dynamic Biocultural Systems verbinden. Dabei entwickelt Ernst konkrete Ideen zur Umsetzung dieser Perspektiven und macht noch einmal deutlich, dass es wichtig ist, sich das Zusammenspiel all derer, die in den Forschungs- und Designprozess involviert sind ─ Teilnehmer*innen, Forschende, Designende, Objekte, Produkte, Benutzer*innen und Empfänger*innen ─, immer wieder bewusst zu machen. Ernst stellt als einen möglichen Weg zur Überwindung sozialer Kategorien wie Sex/Gender Haraways und Barads Diffraktionsmetapher vor, welche sich auf ein physikalisches Konzept bezieht, das die Überlappungen, Biegungen und Verteilungen von Wellen beschreibt. Mit dieser Art, Butler und Barad „zusammen zu lesen“ (S. 154) und dabei neben einer Zusammenfassung von Anne Fausto-Sterlings Arbeit auch ganz selbstverständlich eigene Analysen einfließen zu lassen, gelingt es Ernst, eine überzeugende Argumentation für eine feministische Wissenschaft ─ einen „materialistischen Feminismus“ (S. 155) ─, die sowohl dekonstruiert als auch konstruiert, zu schaffen.
Lena Trojer (S. 165−183) erläutert Beispiele aus der eigenen Arbeitswelt, welche als Anregungen für feministische Handlungsmöglichkeiten in institutionellen Forschungskontexten gedacht sind. Diese Beispiele beziehen sich auf Schweden und Uganda und sind durch eine gemeinsame Beteiligung von Universitäten, Firmen und Staat an technologiebezogenen Projekten gekennzeichnet. Obwohl die Idee, mit vorhandenen gesellschaftlichen Machtstrukturen zu arbeiten, nachvollziehbar ist, wird hier die eingangs erwähnte Problematik der isolierten Betrachtung von Gender besonders deutlich. So wäre es in einer Welt, in der neoliberale und vor allem neokolonialistische Prozesse klar mit Unterdrückungsmechanismen verwoben sind, wünschenswert, genauer zu hinterfragen, ob zusätzliche Abhängigkeiten von institutionalisierter Macht in Form von Firmen, dem Staat oder (im Falle des Uganda-Projektes) kolonialistischen Akteur*innen feste Bestandteile emanzipatorischer Prozesse sein sollten. Es ist zu vermuten, dass eine Abhängigkeit von bestimmten Institutionen mit dem Risiko verbunden ist, dass entsprechende Projekte vor allem Wissen, Inhalte und Dynamiken reproduzieren, die aus der Position oder Situation derer erwachsen, die bereits Macht haben. Es wäre sehr zu begrüßen gewesen, wenn im Artikel oder an anderer Stelle im Buch auf die Schwierigkeit solcher Gratwanderungen deutlicher eingegangen worden wäre.
Der dritte Teil des Buches konzentriert sich auf genderbezogene Bedingungen im Kontext technischer Bildung und Arbeit.
Wendy Faulkner (S. 187−203) identifiziert anhand eigener Studien auf anschauliche Weise zwei Spannungsfelder, mit denen ‚weibliche‘ Ingenieur*innen alltäglich konfrontiert sind: (Un-)Sichtbarkeit und (In-)Authentizität. So berichten viele Ingenieur*innen, dass sie in ihrem Beruf vor allem als Frau, aber kaum als Ingenieur*in wahrgenommenen werden und dass gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz in beiden Rollen immer wieder angezweifelt wird.
Leider bewegt sich Faulkner ─ wie einige andere Autor*innen des Buches ─ bei der Vorstellung der Studien und der sich daran anschließenden Entwicklung von Interventionsmöglichkeiten innerhalb eines eher binären Geschlechtssystems. Faulkners interessante Analysen können dadurch trotz eines Plädoyers für vielseitige Maskulinitäten und Femininitäten lediglich einen Zwischenschritt darstellen, da das Zurückgreifen auf Konzepte der Maskulinität und Femininität ein Weiterdenken von menschlichem Verhalten außerhalb gegenderter Verhaltensattributionen erschwert. Es drängt sich bei einigen der Artikel die Frage auf, inwiefern es möglich gewesen wäre, das Thema Gender in Wissenschaft und Technologie auf eine Weise zu betrachten, die ‚andere‘ komplexe Macht- und Diskriminierungsprozesse mitdenkt und versucht, bereits im Analyseprozess und in dessen Verschriftlichung Kategorien wie ‚Frau‘, ‚Mann‘, ‚feminin‘ und ‚maskulin‘ nicht als gegeben anzunehmen und dadurch zu reproduzieren.
Ilona Horthwath, Nicole Kronberger und Markus Appel (S. 205−233) berühren in ihrem Artikel teilweise diese Problematik und gehen der Naturalisierung von technischen Fähigkeiten und der selbsterfüllenden Prophezeiung ‚weiblicher Inkompetenz‘ nach. Dabei untersuchen sie zunächst, wie Rollenerwartungen und Attributionen anderer Menschen mit der Entwicklung individueller Fähigkeiten, Performance und Überzeugungen über die eigene Person zusammenhängen. Die Autor*innen arbeiten außerdem anschaulich heraus, wie Literatur zu Geschlechtsunterschieden Konstruktionen von geschlechtsspezifischen Fähigkeiten augenscheinlich unterstreichen kann, dass sich bei näherem Hinsehen jedoch abzeichnet, wie kontextabhängig solche Unterschiede sind. Anhand der vorgestellten Literatur wird deutlich, dass die Diskriminierungskategorie Gender selten in homogenen, isolierten Kontexten zum Tragen kommt, sondern dass sie in einem verwobenen Wechselspiel mit z.B. rassistischen und klassistischen Realitäten steht. Der Artikel zeichnet sich vor allem durch den Einbezug dieser intersektionalen Faktoren und möglicher sozialpsychologischer Wirkmechanismen sowie seinen Fokus auf die Veränderbarkeit von Fähigkeiten aus.
Im letzten Artikel stellen Andrea Blunck, Anina Mischau und Sabine Mehlmann (S. 235−257) ihr sehr gut recherchiertes, evidenzbasiertes Genderkompetenztraining für zukünftige Mathematiklehrer*innen vor. Leider ist dem Artikel nicht zu entnehmen, wie sich das von den Studierenden gut aufgenommene Projekt auf die tatsächliche Lehrtätigkeit auswirkte. Abschließend weisen die Autor*innen darauf hin, dass auf Grund der neoliberalen Umstrukturierung europäischer Universitäten die standardmäßige Aufnahme dieser oder ähnlicher Projekte in universitäre Lehrpläne sehr unwahrscheinlich ist.
Damit wird noch einmal eine der generellen wissenschaftspolitischen Fragen unterstrichen, die sich aus der Lektüre des Buches ergeben: Können isolierte Handlungen, die sich allein auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von Gender ─ das zugewiesene Geschlecht ─ beziehen, ein verwobenes System von innen heraus verändern? Es erscheint gerade in Forschungskontexten notwendig, bestimmte ‚traditionelle‘ Methoden zur Dekonstruktion und systematischen Entkräftung einer Wissenschaft heranzuziehen, die von den Perspektiven weiß und cis-männlich positionierter Menschen dominiert wird. Dennoch bleibt es, wie oben angedeutet, zweifelhaft, ob ein Vertrauen in die strukturellen Dynamiken kapitalistischer Institutionen radikale Veränderungen hervorbringen kann. Wie von einigen Autor*innen des vorliegenden Buches mehr oder weniger deutlich angemerkt wird, hängt der Zugang zu STS mit der An- und Abwesenheit intersektionaler Diskriminierungsfaktoren zusammen. Interventionen innerhalb des vorhandenen Systems können ohne Zweifel sinnvoll sein. Aber es ist ebenso unbedingt notwendig, die Nachteile, welche Menschen erleben, die zum Beispiel als arm, behindert, illegal, Person of Color, trans* und/oder weiblich markiert sind, nachdrücklich zu politisieren und Probleme des Zugangs zu Wissen nicht nur aus der Sicht einer bestimmten als homogen wahrgenommenen Gruppe namens Frauen zu betrachten. In vielen der besprochenen Artikel hätte sich also eine tiefergehende Reflexion globalerer hegemonialer Strukturen sowie intersektionaler und situativer Faktoren angeboten.
Trotz einiger Erweiterungsmöglichkeiten ist das Buch aus wissenschaftlicher Perspektive sehr bereichernd, da es einen Einblick in faszinierende Forschungsperspektiven und unterschiedlichste technologische Gebiete ermöglicht. Es enthält methodische und praktische Beispiele, die sich in bestimmten Kontexten als brauchbar erwiesen haben und dadurch für andere Kontexte inspirierend sein können. So bietet es sich an, bestimmte Appelle der Autor*innen aufzugreifen und auch in Forschungskontexten, die nicht direkt auf technologische Entwicklungen abzielen, sowohl die sozialen Positionen und Kontexte der Forschenden und Designenden als auch die der Nutzer*innen einzubeziehen und alle menschlichen und nichtmenschlichen Einheiten des Prozesses als sichtbare und unsichtbare Akteur*innen zu betrachten. Dabei sollte es durchaus möglich ─ wenn nicht gar unabdingbar ─ sein, einen Schritt weiter zu gehen und Gender nicht mehr losgelöst von anderen sozialen Markierungen und Positionen zu betrachten.
Obwohl Inter- und Transdisziplinarität häufig Schlagworte neoliberaler Gefälligkeiten sind, ergibt sich aus ihnen eine einzigartige emanzipatorische Möglichkeit: Durch ein Auflösen isolierter Expertise kann illustriert werden, wie fragil wissenschaftliche Konstruktionen sein können und wie sie anders gedacht werden können. Spannend an und in dem vorliegenden Buch ist die Synthese von radikalem Konstruktivismus und den naturwissenschaftlichen Referenzen des New Materialism. Gerade hier liegt abstraktes und praktisches Potential: An vielen Stellen wird deutlich, wie sich scheinbar widersprüchliche Ansätze kombinieren lassen, um Feminismen in den Wissenschaften praktisch werden zu lassen. Während uns Autor*innen aus eher geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen auf einer theoretischen Ebene längst davon ‚überzeugt‘ haben mögen, dass gesellschaftliche Prozesse Kategorien produzieren und reproduzieren, bieten sich in den materiellen Wissenschaften neue Handlungsmöglichkeiten. Dadurch wird, zumindest inhaltlich, jeder Artikel des vorliegenden Buches zu einer Quelle von Inspiration für greifbare feministische Interventionen in Wissenschaft und Technologie.
Barad, Karen. (2003). Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. Signs: Journal of Women in Culture and Society, 28 (3). (S. 801−831).
COST (European Cooperation in Science and Technology). (2014). Gender, Science, Technology and Environment – genderSTE. http://www.cost.eu/about_cost/strategy/targeted_networks/genderste (Download: 07.09.2014).
UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization). (2014). Science Policy and Capacity Building: Gender, Science and Technology. http://www.unesco.org/new/en/natural-sciences/science-technology/sti-policy/gender-issues/ (Download: 07.09.2014).
Diana Schellenberg
Technische Universität Berlin
Diplom-Psycholog*in; promoviert in Psychologie. Schwerpunkt: Rolle der Wissenschaft und ihrer Methoden in der Aufrechterhaltung von Machtstrukturen.
E-Mail: dischellenberg@mailbox.tu-berlin.de
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