Praxisforschung: Mädchenfußball in Schul-AGs

Rezension von Robert Claus

Ulf Gebken, Söhnke Vosgerau (Hg.):

Fußball ohne Abseits.

Ergebnisse und Perspektiven des Projekts ‚Soziale Integration von Mädchen durch Fußball‘.

Wiesbaden: Springer VS 2014.

302 Seiten, ISBN 978-3-531-19763-0, € 19,99

Abstract: Seit 2006 wurden im Rahmen des vom Deutschen Fußball-Bund durchgeführten Modellprojektes „Soziale Integration von Mädchen durch Fußball“ an über 200 Standorten Schul-AGs in sogenannten Brennpunktbezirken aufgebaut. Im vorliegenden Sammelband beleuchten die Autor/-innen ausführlich die Funktion von Sport für die pädagogische Kompetenzvermittlung. Zudem erbringen sie einen umfassenden Projektbericht und leisten ein Plädoyer für die Modernisierung des Verhältnisses zwischen Schule und Vereinen, Lehrplan und Ehrenamt. Somit stellt das Buch, wie auch das Projekt, einen enorm wichtigen Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit im Sport dar. Gleichzeitig jedoch liest sich eine Reihe an Texten etwas zu sperrig für den Bericht einer Praxisforschung, und Begriffe im Feld der ‚Integration’ bleiben schwammig.

DOI: http://doi.org/10.14766/1154

Es begann 2006 im oldenburgischen Brennpunkt-Viertel Ohmstede. Aus einer Initiative von Lehrkräften, Studierenden und Vereinsvertreter/-innen heraus wurde eine schulische Fußball-AG für Mädchen gegründet, um die Barrieren zum organisierten Sport zu verringern und athletische Aktivitäten zu fördern. Seither hat sich das „Ohmsteder Modell“ mit Unterstützung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zu einem bundesweiten Modellprojekt entwickelt, in dessen Rahmen ein präziser Projektbaukasten sowie eine Vielzahl an Mädchenteams, die in Vereinen Fußball spielen, entstanden sind. Dabei richtet sich, wie die Herausgeber Ulf Gebken und Söhnke Vosgerau in ihrem Überblick über das Praxisforschungsprojekt Fußball ohne Abseits darlegen, das Angebot der AGs an Mädchen, die oftmals mehrfachen Diskriminierungen sowie „geschlechts-, bildungs-, und migrationsbedingten Benachteiligungen“ (S. 27) unterliegen.

Dementsprechend bleiben diese laut Statistiken im Vereinssport erheblich unterrepräsentiert: So liegt der Organisationsgrad von Mädchen mit Migrationshintergrund im Deutschen Olympischen Sportbund nur bei der Hälfte im Vergleich zu Mädchen ohne Migrationserfahrung. Gleichzeitig sind 57% der Jungen mit Migrationshintergrund in einem Sportverein organisiert, jedoch nur 28% der Mädchen (vgl. S. 39). Die Gründe hierfür sind vielfältig: Sie reichen von fehlenden zielgruppenspezifischen Angeboten, in denen auch die Sicherheitsbedürfnisse der Eltern ihren Kindern gegenüber Beachtung finden, bis hin zur Dominanz hegemonialer Männlichkeit im Feld des Fußballs, weshalb Schul-AGs für Mädchen auch Räume der Selbstverwirklichung darstellen und eine „Neujustierung von Anerkennungsverhältnissen“ (S. 42) bewirken. Vor diesem Hintergrund ist der Sammelband zur vielseitigen Projektbeschreibung in drei Abschnitte unterteilt: Im ersten Teil werden Hintergrund und Konzeption des Modellprojektes erläutert, im zweiten die Perspektiven in Bezug auf Inklusion, Qualifizierungsmaßnahmen und Schulkooperationen beleuchtet und im dritten Teil aus der Projektpraxis an den einzelnen Standorten berichtet.

Ein detaillierter, überzeugender Projektplan

Um das Ziel einer nachhaltig höheren Partizipation von Mädchen im organisierten Sport und das Ziel des Empowerments zu erreichen, haben die Herausgeber/-innen einen detaillierten Plan entwickelt. Dieser besteht aus vier Projektstufen (S. 49─53): Im ersten Schritt werden Schul-AGs in Kooperationen mit Sportvereinen eingerichtet, die sich mit einem niedrigschwelligen Trainingsangebot in geschlechtshomogenen Gruppen an die Mädchen wenden. Niedrigschwelligkeit bedeutet an dieser Stelle nicht allein, dass die Teilnahme möglichst offen gestaltet wird, sondern ebenso z. B., dass keine Voraussetzungen bezüglich der Trainingsmaterialien und Ausstattungen der Spielerinnen gemacht werden. Zudem sind die AGs beitragsfrei. Erst in einem zweiten Schritt wird der Übergang von der Schul-AG in den leistungsorientierteren Vereinssport mit Training und Spielbetrieb oder zumindest in Turniere angestrebt, wobei jede Teilnahme mit einer Medaille belohnt wird. Liegt das Ziel der ersten Stufe noch in der Schaffung von Anerkennung, Teilhabe und Zugehörigkeit, geht es nunmehr um die explizite Stärkung des Mädchenfußballs.

Doch ist das Projekt nicht auf die Teilnahme am Training beschränkt, sondern konzentriert sich im dritten Schritt auf die Ausbildung zur Fußballassistentin, um die Grundlage für ehrenamtliches Engagement in AGs, Vereinen oder Schulturnieren zu legen. Hier steigen sowohl die soziale Verantwortung als auch die Mitbestimmung und das Prinzip des ‚Peer-Teachings‘, der Förderung von Vorbildern. Wenn dies glückt, besteht im vierten Schritt die Möglichkeit, den Mädchen eigenständige Funktionen als Übungsleiterinnen zu übertragen, um wiederum zu gewährleisten, dass die AGs geschlechtshomogen stattfinden. Die jeweiligen Projektstufen werden in Bausteinen umgesetzt, wie den Schul-AGs, Turnieren, Ausbildungslehrgängen für die angehenden Assistentinnen oder Fußballcamps für Mädchen.

Neue Wege des Ehrenamts

Besonderen Stellenwert innerhalb dieses umfangreichen Programms nimmt die Ausbildung der Fußballassistentinnen ein. Das Konzept hierfür wurde aus der Kritik heraus entwickelt, dass die konventionellen Qualifizierungssysteme zu verschult seien, wie Bastian Kuhlmann in seinem Beitrag zu „Chancen und Perspektiven des Qualifizierungsansatzes von Fußball ohne Abseits“ (S. 125) schreibt; sie spielten sich zu selten im Sozialraum ab, richteten sich zu wenig auf Jugendliche aus, erreichten Menschen mit Migrationshintergrund zu wenig und begleiteten den Übergang in die Lehrtätigkeit nicht ausreichend. Demgegenüber finden diese Ausbildungen an den jeweiligen Schulen statt und lassen viel Raum für Feedback und Reflexion. So stehen am ersten Tag Kennenlernspiele, Bewegungs- und Spielformen sowie Fußballtechniken im Vordergrund. Der zweite Tag dient der gemeinsamen Entwicklung von Übungen und Übungsstunden, die anschließend besprochen werden. Am dritten Tag wird die Durchführung von Spielen und Turnieren behandelt. Jede Teilnehmerin erhält ein Zertifikat.

Letztlich werden mittels dieses Projekts sowie seiner Ausbildung neue Wege des Ehrenamtes aufgezeigt. Denn will der organisierte Breitensport auf diese Ressource weiter zurückgreifen können, muss er flexibilisiert werden. Dementsprechend gilt es, eine zeitgemäße und praxisnahe Ansprache an junge Interessierte vor Ort zu finden, anstatt etwas staubig daherkommende Lehrgänge weit außerhalb des eigenen Einzugsbereiches abzuhalten. Eine weitere Modernisierung besteht darin, die Kooperation zwischen Schule und Vereinen voranzutreiben. Stehen sich hierbei der schulische Lehrplan einerseits und der informell geregelte Vereinssport aufgrund verschiedener Leistungsbewertungen und Verbindlichkeiten manchmal etwas ratlos gegenüber, soll mit diesem Projekt Mädchen der Weg in den organisierten Sport geebnet werden, um sie somit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung auch in ihrer Freizeit zu fördern.

Dementsprechend kommen Gebken und Vosgerau in ihrer Bilanz zu dem Schluss, dass sich „insbesondere das vertraute Schulumfeld, die Verlässlichkeit, Kostenfreiheit und Freiwilligkeit, der geschlechtshomogene Raum, eine weibliche AG-Leitung und die Einbettung in den Schulalltag als förderlich erwiesen“ haben (S. 295). Und der Erfolg gibt ihnen Recht: In den vergangenen Jahren entstanden nicht nur eine Vielzahl an Schul-AGs, vorrangig in Westdeutschland, sondern auch eine Reihe an Teams, die aus ihnen heraus am regulären Spielbetrieb teilnehmen. Einige dieser Projekte, wie die ‚Kicking Girls‘ aus Bremen, ‚Mädchen mittendrin‘ aus Siegen oder ‚Bunter Mädchenfußball‘ in Offenbach und Kassel werden von sieben Autor/-innen in kompakten Kurztexten vorgestellt (S. 261─276).

Diskrepanz im Begriffsapparat: ‚Integration‘ vs. ‚Subjekte‘?

Die Herausgeber des Bandes zeigen sich der Tatsache bewusst, dass viele Werke im Forschungsbereich ‚Migration/Integration‘ schlichtweg daran kranken, keinen fundierten und kohärenten Begriff von ‚Integration‘ aufweisen zu können. Vielmehr drohen diese damit einem Verständnis von Assimilation auf den Leim zu gehen und die lange Geschichte des Aufstellens von ‚Forderungen an Migrant/-innen‘ blindlings fortzuschreiben. Gebken und Vosgerau versuchen diesem Fallstrick auszuweichen, in dem sie eine differenzierte Einführung zu ihrem „dynamischen Integrationsbegriff“ leisten und zugleich seine Schwierigkeiten offenlegen. Sie definieren ihn als „beständigen, mehrdimensionalen und wechselseitigen Interaktionsprozess [...], der die unterschiedlichen Ressourcen, Bedürfnisse und Kompetenzen der Betroffenen zum Thema macht und sich im praktischen Handeln vollzieht.“ (S. 28) Die Herausgeber zielen darauf ab, eine Verengung auf „kulturelle Differenzen“ zu vermeiden, und heben hervor, dass der Begriff „Mädchen mit Migrationshintergrund“ eine Homogenität der Gruppe nahelege, die keinesfalls gegeben sei (S. 40).

Es bleibt dennoch fraglich, ob das Festhalten an dem äußerst belasteten wie besetzten Begriff der ‚Integration‘ produktiv ist, geht mit ihm doch, gewollt oder nicht, der Ballast einher, oftmals mehr über als mit Migrant/-innen zu reden. Ferner verwundert auch der Begriff der ‚Betroffenen‘: Er birgt die Zuschreibung von Passivität, der mit der Definition als ‚Subjekte‘ aus dem Weg gegangen worden wäre. So ist bei aller feinfühlig intendierten Einführung im Gesamtwerk auffällig, dass an keiner Stelle eine Spielerin aus einer der AGs zu Wort kommt, geschweige denn eine, die von Rassismus betroffen sein könnte, weder ein Elternteil noch ein/e Vertreter/-in eines beteiligten Migrant/-innenvereins, z. B. des KSV Vatanspor aus Bremen. In die gleiche Richtung zielt die Kritik, dass zwar von einer Reihe sozialer Ungleichheiten und Diskriminierungen geschrieben wird, der Begriff des Rassismus jedoch nirgends Erwähnung findet, die eher schwammige Formulierung „migrationsbedingter Benachteiligungen“ (S. 27) dafür umso häufiger. Diese jedoch werden nicht genauer definiert. Hier hätte eine konsequentere Reflexion des begrifflichen Apparates dem Werk deutliche und notwendige Konturen verliehen.

Ein zukunftsweisendes Projekt

Letztlich legen die Autor/-innen des Sammelbandes einen äußerst ausführlichen Bericht zu einem innovativen Projekt vor, der dem Ziel der Geschlechtergerechtigkeit im Sport allgemein sowie im Fußball speziell nur gut tun kann. Die detaillierte Beschreibung des Projektplans und seine Bausteine bieten Orientierung für zukünftige Vorhaben, mit ihnen liegen sinnvolle Instrumente zur Öffnung des Männersports Fußball für Mädchen vor. Gleichzeitig verdeutlicht der Band die Notwendigkeit einer weiteren Schärfung der eigenen Begrifflichkeiten im Feld ‚Migration/Integration/Partizipation/Antidiskriminierung‘, um die Ziele und Bedarfe klarer abzustecken. Jenseits dessen besticht der Band vor allem in den ersten Beiträgen durch inhaltliche Präzision, später zeigt sich eine zunehmende Redundanz, da in nahezu jedem Text mit statistischem Material über die Organisierung von Mädchen im Vereinssport begonnen und für ein offeneres Verhältnis zwischen Schule und Ehrenamt plädiert wird. Das ist inhaltlich richtig, die stete Wiederholung erhöht jedoch nicht die Leseaufmerksamkeit oder den Spannungsbogen des Bandes. Abseits der ausführlichen und hilfreichen Projektpläne wäre dem Bericht dieser Praxisforschung ein wenig mehr Blick auf den Transfer zu Praktiker/-innen zugute gekommen. Denn hierin steht eine Reihe an Beiträgen dem zukunftsweisenden Projekt selbst noch etwas nach.

Robert Claus

Leibniz Universität Hannover

M.A. der Europäischen Ethnologie sowie der Gender Studies, Mitarbeiter in der „Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit“ (KoFaS) am Institut für Sportwissenschaft.

E-Mail: robert_claus@gmx.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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