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Rezension von Martina Franziska Beham-Rabanser

Tina Schmid:

Generation, Geschlecht und Wohlfahrtsstaat.

Intergenerationelle Unterstützung in Europa.

Wiesbaden: Springer VS 2014.

222 Seiten, ISBN 978-3-658-04345-2, € 39,99

Abstract: Auf der Basis der SHARE-Studie (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) untersucht Tina Schmid Geschlechterunterschiede in den Unterstützungsleistungen zwischen den Generationen. Dabei nimmt sie Leistungen von Eltern an erwachsene Kinder und gleichzeitig von erwachsenen Töchtern und Söhnen an ihre Eltern in den Blick. Der innovative Charakter des Buches liegt neben dieser simultanen Betrachtung von Unterstützungsleistungen in beide Richtungen darin, dass die Autorin durch die Verknüpfung von Fragestellungen und Konzeptionen der Generationenforschung mit jenen der Geschlechtersoziologie und der komparativen Wohlfahrtsstaatenforschung zu differenzierten Erkenntnissen und zu einer Perspektivenerweiterung hinsichtlich zeitlicher Unterstützungsleistungen beiträgt.

DOI: http://doi.org/10.14766/1158

Geschlechtsspezifische Reziprozitätsmuster in Generationenbeziehungen

Die empirische Studie richtet sich an Leser_innen, die an den Einflussfaktoren von Geschlechterunterschieden in familialen Generationenbeziehungen interessiert sind. Durch die einleitende Einführung in gängige Erklärungskonzepte zur Beschreibung der wechselseitigen Unterstützungsleistungen zwischen Familienmitgliedern und die gut lesbaren Zwischenfazits am Ende jedes Kapitels liefert das Buch interessante Einblicke für eine breite Leser_innenschaft.

Als allgemeinen Bezugsrahmen zur Beschreibung der Unterstützungsleistungen wählt Tina Schmid das heuristische Modell familialer Generationensolidarität von Szydlik (2008). Dabei handelt es sich um ein Mehrebenenmodell, in dem davon ausgegangen wird, dass sowohl Opportunitäts- und Bedürfnisstrukturen der Leistungsgeber_innen und der Leistungsempfänger_innen ─ dazu gehören z. B. der Gesundheitszustand oder die Wohnentfernung der Eltern oder die Erwerbssituation der Kinder ─ als auch die Familienstrukturen das Ausmaß zeitlicher Unterstützung beeinflussen; aber auch kontextuell-kulturelle Faktoren wie kulturelle Vorstellungen über Unterstützungsverantwortlichkeiten in Generationenbeziehungen und wohlfahrtsstaatliche Institutionen spielen hierfür eine Rolle.

Mit Bezug auf dieses heuristische Mehrebenenmodell familialer Generationensolidarität werden ausgewählte, dem Fachpublikum bekannte Erklärungen intergenerationaler Unterstützung bzw. geschlechtsspezifischen Unterstützungsverhaltens knapp zusammengefasst, um daraus die forschungsleitenden Hypothesen abzuleiten. Im Zentrum der Arbeit stehen die Fragen: Welche Geschlechterunterschiede zeigen sich in der Verbreitung, Intensität oder Art der geleisteten Unterstützung zwischen erwachsenen Familiengenerationen in europäischen Ländern? Welche individuellen, familialen sowie kulturellen Faktoren erklären diese Unterschiede?

Diese Fragestellungen beantwortet die Autorin anhand der Daten des Surveys of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), einer interdisziplinären Längsschnittbefragung, die seit 2004/05 in 14 europäischen Ländern mit Personen im Alter 50+ durchgeführt wird. In der ersten Welle wurde die Befragung in elf europäischen Ländern durchgeführt (Schweden, Dänemark, Niederlande, Schweiz, Belgien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien, Italien und Griechenland). In der zweiten Welle kamen die Länder Irland, Tschechien und Polen hinzu. Schmid konzentriert sich in ihren Analysen auf über 50-Jährige, die erwachsene Kinder über 18 Jahre haben. Zur Erreichung einer möglichst hohen Fallzahl wurden die Daten als Querschnittsdaten verwendet, indem die Daten der beiden Befragungswellen gepoolt wurden. Jeweils das erste durchgeführte Interview mit jedem/jeder Befragten wurde in die Analysen einbezogen.

Zeitversetztes Geben und Nehmen in Generationenbeziehungen

Die ─ nicht auf der Individual-, sondern auf der Aggregatebene ─ durchgeführten Analysen weisen auf ein hohes Maß an zeitlich versetzter Gegenseitigkeit in den Unterstützungsleistungen (praktische Hilfen, Reparaturen, Enkelbetreuung, körperliche Pflege u. a. m.) zwischen den Generationen hin. Schmid beschreibt das Muster in Anlehnung an Hollstein (2005, S. 197) als ‚generalisierte Reziprozität‘. Dabei ist der Moment der erwarteten Rückgabe so stark verzögert, dass es zu „einer stärkeren Orientierung an situativen Bedürfnissen und Ressourcen“ (Hollstein 2005, S. 197) kommt. Im Schnitt sind Unterstützungsleistungen ‚nach unten‘, d.h. von den Eltern an ihre erwachsenen Kinder, verbreiteter als jene ‚nach oben‘, von den Kindern an die Eltern. Erst ab dem Alter von 75 Jahren verändert sich in der Regel die Balance zwischen Geben und Nehmen, und Eltern werden von Nettogeber_innen durch zunehmende gesundheitliche Einschränkungen zu Nettoempfänger_innen intergenerationeller Unterstützung.

Unterschiede zwischen den Ländern bilden sich weitgehend entlang der Familialismus-Typologie von Leitner (2004) ab. Die Annahmen hinsichtlich kultureller und kontextueller Faktoren werden dabei bestätigt. „Je egalitärer die Geschlechterverhältnisse in Wirtschaft und Politik sind, desto egalitärer gestaltet sich auch die intergenerationelle Unterstützung.“ (S. 140) Der Grund für die Angleichung der Geschlechter liegt, wie Schmid ausführt, sowohl am stärkeren Engagement der Männer als auch an der weniger zeitintensiven Beteiligung der Frauen.

Partielle Egalisierung durch Ausbau sozialer Dienste

Die Frage, wie sich wohlfahrtsstaatliche soziale Dienste, aber auch Cash-for-Care-Zahlungen in Form von Kinderbetreuungs- oder Pflegegeld auf familiale Unterstützungsleistungen auswirken, wurde in zahlreichen Studien untersucht. Der geschlechtsspezifischen Wirkung unterschiedlicher politischer Maßnahmen wurde dabei aber vergleichsweise selten Beachtung geschenkt. Schmids Analysen stellen diesbezüglich eine begrüßenswerte Erweiterung dar.

Familialistische Cash-for-Care-Zahlungen scheinen Töchter aufgrund bestehender geschlechtsspezifischer Einkommensdisparitäten stärker unter Zugzwang zu bringen als Söhne und erhöhen daher Geschlechterungleichheiten in den intergenerationellen Pflegeleistungen. De-familialistische Maßnahmen, wie z. B. ambulante professionelle Pflegedienste, hingegen gehen zum einen eher einher mit einem Rückzug von Töchtern, vor allem aus der körperlichen Pflege, und einem stärkeren Einsatz von Söhnen in der praktischen Hilfe. Ähnliche geschlechtsspezifische Effekte zeigen sich bezüglich der Unterstützung für erwachsene Kinder.

Tina Schmid konnte mit ihren Analysen die Annahmen des Modells intergenerationaler Solidarität von Szydlik bestätigen. Geschlechterunterschiede in den intergenerationellen Unterstützungsleistungen werden neben individuellen und familialen Faktoren von (de-)familialistischen Normen und Politikmaßnahmen beeinflusst.

Fazit

Das Buch wendet sich an Lehrende sowie Studierende der Familiensoziologie, Gender Studies und der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung, wobei die statistischen Analysen im Mittelteil des Buches allerdings grundlegende Kenntnisse der empirischen Sozialforschung voraussetzen. Die Analysen zur geschlechtsspezifischen Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Politikmaßnahmen liefern zugleich interessante Erkenntnisse zum Weiterdenken und -arbeiten für politische Entscheidungsträger_innen ─ zeigen sie doch, dass von Cash-for-Care-Programmen auf Frauen aufgrund ihrer durchschnittlich niedrigeren Löhne eine deutlich stärkere Anreizwirkung ausgeht, die zur Festigung von Geschlechterungleichheiten in den familiären Pflegearrangements beiträgt.

Da das in der Studie verwendete Mehrebenenmodell sich im Wesentlichen auf eine Beschreibung zentraler Bedingungsfaktoren intergenerationaler bzw. geschlechtsspezifischer Unterstützung konzentriert, erwarten den/die an Geschlechterfragen interessierte Leser_in keine näheren handlungstheoretischen Erklärungen des Unterstützungsverhaltens.

Der Fokus und zugleich der Neuheitswert der Studie liegt nicht in der Integration von konzeptionellen Erklärungen, sondern vielmehr in der Verknüpfung von Fragen der Geschlechter- und Generationenforschung mit jenen der komparativen Wohlfahrtsstaatenforschung. Als weitere Verdienste der Studie sind hervorzuheben, dass Unterstützungsleistungen in vielfältigen Formen nicht nur in eine Richtung untersucht werden und dass durchgängig bei allen Analysen geschlechtergetrennte Auswertungen im Ländervergleich vorgenommen werden. Dadurch wird es möglich, geschlechtsspezifische Unterschiede in den Einflussfaktoren intergenerationalen Unterstützungsverhaltens aufzuzeigen. Zugleich wird durch den komparativen Ansatz illustriert, wie sehr Geschlechterunterschiede auch durch kulturelle hegemoniale Leitbilder und institutionelle Kontexte beeinflusst werden. Änderungen, wie etwa Erhöhungen oder Kürzungen von monetären Familienleistungen, können in der Studie allerdings durch das gewählte querschnittliche Forschungsdesign nicht eindeutig bestimmt werden. Dies ist, wie die Autorin selbstkritisch in den forschungspraktischen Schlussfolgerungen (S. 209) anführt, auch eine der Grenzen der Studie.

Mit Blick auf die Hauptfragestellungen der Studie bestätigen die Ergebnisse das Ausgangsmodell. Geschlechtsspezifische intergenerationale Unterstützungsmuster sind sowohl in unterschiedlichen Bedürfnissen und Opportunitäten als auch unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen und Kontexten begründet und lassen sich „nicht auf die einfache Aussage, Frauen seien stärker involviert, herunterbrechen“ (S. 200).

Literatur

Hollstein, Bettina. (2005). Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen. In: Frank Adolff/Steffen Mau (Hg.). Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. (S. 187─209). Frankfurt am Main/New York: Campus.

Leitner, Sigrid. (2004). Varities of Familialism: The Caring Function of the Family in Comparative Perspective. (S. 353─375). European Societies, 5.

Szydlik, Marc. (2008). Intergenerational Solidarity and Conflict. (S. 97─114). Journal of Comparative Family Studies, 39.

Martina Franziska Beham-Rabanser

Johannes-Kepler-Universität Linz

Institut für Soziologie, Abteilung für Empirische Sozialforschung

E-Mail: martina.beham-rabanser@jku.at

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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