Carola Kuhlmann:
Alice Salomon.
Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit.
Weinheim: Deutscher Studienverlag 2000.
373 Seiten, ISBN 3–89271–927–6, € 34,00
Abstract: Carola Kuhlmann hat das Leben und das Werk von Alice Salomon einer kritischen Neubewertung unterzogen und dabei – vor allem im Blick auf die theoretischen und konzeptionellen Arbeiten von Salomon – Aspekte hervorgehoben, welche bei ihrer bisherigen Würdigung weitgehend übersehen oder unterbewertet wurden.
Alice Salomon (1872–1948) gehört mit Sicherheit zu den eher besser erforschten Protagonistinnen der deutschen Wohlfahrtspflege. Immerhin wurden – wenn auch mit jahrzehntelanger Verzögerung – ihre Lebenserinnerungen veröffentlicht (Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen. Aus dem Englischen übersetzt von Rolf Landwehr; herausgegeben von Rüdeger Baron und Rolf Landwehr; Weinheim und Basel 1983); 1958 gab Hans Muthesius das Buch Alice Salomon, die Begründerin des sozialen Frauenberufes in Deutschland heraus und veröffentlichte darin den schon 1948 verfassten Rückblick Dora Peysers auf ihre ehemalige Chefin. Es folgten Arbeiten von Monika Simmel (1981), Rolf Landwehr (1981) , Joachim Wieler (1987), Renate Orywa u. a. (erste nahezu vollständige Bibliographie 1989); Thoman Olk (1991), Merle Hummrich (1996), Manfred Berger (1998), und ebenfalls seit 1998 arbeitet Adriane Feustel mit großer Umsicht an der dreibändigen Ausgabe der Ausgewählten Schriften von Salomon.
Was also ist über Alice Salomon noch zu schreiben, was bisher nicht geschrieben worden wäre? Carola Kuhlmann, die ehemalige Mitarbeiterin von Dieter Sengling an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, hat sich dort mit der jetzt vorliegenden Arbeit über Salomon habilitiert. Sie schließt sich in der Einleitung zu ihrem Buch der Auffassung von Silvia Staub-Bernasconi an, dass über Alice Salomon viel publiziert worden sei, dass ihre Arbeiten aber „inhaltlich wenig und sehr selektiv diskutiert“ würden. (S. 26) Angesichts eines von Alice Salomon hinterlassenen Oevres im Umfang von rund 30 Büchern und über 350 Aufsätzen ist es allerdings nicht verwunderlich, dass sich der überwiegende Teil der Rezeption lieber auf die Autobiographie und die bekannteren Standardwerke beschränkt hat, als sich der Mühe einer Sichtung des Gesamtwerkes zu unterziehen.
Genau dies – eine umfassende Sichtung aller Schriften von Alice Salomon – hat sich Carola Kuhlmann zur Aufgabe gemacht, um eine Reihe von Vorurteilen abzubauen, die ihrer Meinung nach durch die eingeschränkte Rezeption des Werkes zustande gekommen sind und ungeprüft weiter tradiert werden. Vorurteil 1: „Alice Salomon und die Frauenbewegung ‚benutzten‘ die soziale Arbeit in egoistischer Absicht“ (S. 26); Vorurteil 2: „Salomons Konzept der sozialen Mission beruht auf dem undemokratischen Ideal (sublimierter) Mütterlichkeit“ (S. 28); Vorurteil 3: „Salomons Konzept sozialer Arbeit stabilisiert Unrechtsverhältnisse“ (S. 29); Vorurteil 4: „Salomons Konzept der ‚sozialen Mission der Frau‘ behindert die Professionalisierung sozialer Arbeit“ (S. 30); Vorurteil 5: „Salomons Konzept sozialer Arbeit trug zur Pädagogisierung (und damit zur Entpolitisierung) sozialer Arbeit bei“. (S. 31)
Die Aufgabe, diese Vorurteile zu entkräften und Salomon damit vom „Mythos der Konservativen“ zu befreien, kann natürlich nur bedingt gelingen, da im Rahmen einer Monographie den Leserinnen und Lesern wiederum nur Ausschnitte aus einem so umfangreichen Werk präsentiert werden können. Es gelingt Carola Kuhlmann aber immerhin, konfrontativ zu den Textstellen, auf welchen die „Vorurteile“ fußen, Zitate zu präsentieren, welche eine andere Seite von Alice Salomon zeigen und damit veränderte Sichtweisen auf sie eröffnen. Die Figur der Alice Salomon, die als Resümee der Sichtung ihres Gesamtwerkes zutage tritt, ist gekennzeichnet durch das Streben nach der „sozialen Gerechtigkeit zwischen Mann und Frau und Arm und Reich“ (S. 320). Diese von Kuhlmann aus Leben und Werk herausgearbeitete Grundtendenz wird noch durch das Streben nach Friedenssicherung mittels internationaler Zusammenarbeit ergänzt: „Die Verantwortung sozialer Arbeit, soziale Missstände wieder auszugleichen, beinhaltet auch die Verpflichtung zur Hilfe über die Grenzen der Nation hinaus. Für Salomon bestand daher eine sehr enge Verbindung ihres pazifistischen, internationalen und sozialen Engagements. Sie war überzeugt, dass der Friede zwischen den Nationen nur zu sichern sei, wenn im Land selbst der soziale Friede aufrechterhalten würde.“ (S. 322)
Die Darstellung des Werks von Salomon bündelt Kuhlmann unter drei Aspekten: Erstens unter dem Aspekt des Theorieverständnisses und der ethischen Grundpositionen; zweitens unter dem Aspekt der Bedeutung von „Gender“ in der sozialen Arbeit und drittens unter dem Aspekt der Profession und Ausbildung im Bereich sozialer Berufe. Trotz dieser Makrostrukturen verführt die Detailkundigkeit ebenso wie die Detailfreudigkeit Carola Kuhlmann immer wieder dazu, die Grundzüge der Werkanalyse so weit mit Einzelheiten anzureichern, dass der intendierte Einblick in die tieferen Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen des Werks nicht in gebührender Klarheit zutage tritt.
So präsentiert sich am Ende dieses Buches wiederum eine Alice Salomon mit vielen Gesichtern und unterschiedlichen Ausrichtungen. Sie in dieser Vielfalt zu zeigen, ist ein wichtiges Verdienst dieses Buches. Alice Salomon ist mit Gewissheit wirkungsvoll für Frieden und soziale Gerechtigkeit eingetreten, sie hat aber auch entgegengesetzte Standpunkte mit Überzeugung vertreten. Die wechselvolle Geschichte, durch die sie hindurchgegangen ist, hat Spuren in ihrer Sichtweise und ihren Überzeugungen hinterlassen. Alice Salomon hat daraus gelernt – und sie hat am Ende ihres Lebens mit Fug und Recht von sich sagen können, dass die Spuren, die sie ihrerseits hinterlassen hat, von diesem Lernprozess zeugen.
URN urn:nbn:de:0114-qn031132
Prof. Dr. Sabine Hering
Universität Siegen Bereich Sozialpädagogik und Frauenforschung, zur Zeit Gastprofessorin an der Freien Universität in Berlin.
E-Mail: shering@zedat.fu-berlin.de
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