Sabine Klinger:
(De-)Thematisierung von Geschlecht.
Rekonstruktionen bei Studierenden der Erziehungs- und Bildungswissenschaften.
Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2014.
367 Seiten, ISBN 978-3-86388-057-6, € 39,90
Abstract: Sabine Klinger rekonstruiert in ihrer empirischen Studie anhand von vier Gruppeninterviews Geschlechtervorstellungen bei Studierenden der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Dabei werden sowohl der fachspezifische Einfluss auf die Studierenden als auch die Prägung des universitären sozialen Feldes bezüglich des Geschlechterwissens herausgearbeitet. Ebenso kann die Studie verdeutlichen, inwiefern gesellschaftliche Diskurse um rhetorische Modernisierungsprozesse, Geschlechtervertrag und Verdeckungszusammenhänge die Einstellungen der Studierenden hinsichtlich Geschlechterfragen tangieren und damit (De-)Thematisierungsstrategien von Geschlecht(erfragen) konstituieren und legitimieren.
Geschlechter-Ungleichheiten werden spätestens seit der EU-weiten Einführung von Gender Mainstreaming auf allen gesellschaftlichen Ebenen angegangen, so die geläufige Meinung. Ist es also notwendig, sich weiterhin der Geschlechterthematik zuzuwenden ─ wo doch eine Gleichstellung längst erreicht scheint? Nach der Lektüre von Sabine Klingers (De-)Thematisierung von Geschlecht. Rekonstruktion bei Studierenden der Erziehungs- und Bildungswissenschaften ist diese Frage recht eindeutig zu bejahen: Die Autorin zeigt in ihrer als Dissertation an der Universität Marburg eingereichten Studie anhand von Gruppeninterviews mit Studierenden vielfältige (De-)Thematisierungsstrategien in Bezug auf Geschlecht und Geschlechterfragen auf. Dabei stellt Klinger theoretische Verbindungen zu dem schon von Angela McRobbie (2010) konstatierten neuen Geschlechtervertrag her, zur Gegenwartsanalyse des ‚rhetorischen Modernisierungsprozesses‘ von Angelika Wetterer (2002) wie auch zu Wirkmechanismen von Verdeckungszusammenhängen (Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung 2000).
Fokus der Autorin ist die „empirische Untersuchung studentischer Praxen in Bezug auf die (De-)Thematisierung und die Relevanz von ‚Geschlecht‘ und Geschlechterfragen“ (S. 10). Klingers Erkenntnisinteresse liegen folgende Thesen zugrunde: Hängen diese (De-)Thematisierungen ab von gesellschaftlichen Entwicklungen, aktuell in Form einer Divergenz zwischen Gleichheitsrhetorik und sozialer Praxis, sowie vom jeweiligen sozialen Feld, in welchem habituelle Praxen ausgebildet werden? Dem universitären Feld der Erziehungs- und Bildungswissenschaften spricht die Autorin in diesem Rahmen besondere Bedeutung zu, reproduzieren doch Familie, Schule sowie grundsätzlich Bildungs- und Erziehungsinstitutionen Geschlecht(ervorstellungen) maßgeblich und beteiligen sich somit entscheidend an Identitätsbildungsprozessen. Studierende der Erziehungs- und Bildungswissenschaften erkennen die Thematisierung von ,Geschlecht‘ und das Belegen von Seminarveranstaltungen zu diesem Thema zwar als möglich und bisweilen als üblich an, so Klinger ─ sie möchte jedoch die Forschungslücke der Analyse studentischer Praxen anhand ihrer empirischen Studie schließen. Wie wird über Geschlecht gesprochen und welche Relevanz nimmt das Geschlechterthema für die Studierenden ein? Entlang dieser Leitfragen rekonstruiert Klinger die habituellen Praxen der Studierenden. Ebenso möchte die Autorin mögliche individuelle und kollektive Orientierungen sowie eventuelle geschlechterreflektierende Haltungen als studentischen Habitus und Muster der (De-)Thematisierung, „die auf eine Gleichheitsrhetorik hinweisen oder Ungleichheiten und Benachteiligungen zwischen Geschlechtern verdecken“ (S. 14), herausarbeiten. Ihr dichtes Forschungsvorhaben wird methodisch anhand der Rekonstruktion von vier offen zustande gekommenen, geschlechterhomogenen wie geschlechtergemischten Gruppeninterviews mit zwei bis sechs Studierenden realisiert.
Die theoretische Grundlage der größtenteils erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung zu Klingers Studie ist fundiert. Bestimmte ausgewählte Diskursstränge werden von ihr weiterverfolgt und andere ausgelassen bzw. nur kurz abgehandelt, was der Form der Qualifikationsarbeit geschuldet sein wird. Differenziert ist auch Klingers Kritik an der auffällig geringen erziehungswissenschaftlichen Theoriegenese zur androzentrischen Bildungskonzeption, womit sie zu Recht unmittelbar theoretische Leerstellen der Disziplin anspricht. Ebenso reißt sie in ihrem Theorieteil den in aktuellen geschlechtertheoretischen Diskussionen ausstehenden Einbezug sozialer Strukturen an, welche jedoch durchaus die Interaktionen und damit die Herstellung von Geschlechterdifferenz und -konstruktion beeinflussen. Die somit konstatierte fehlende Verbindung innerhalb der Geschlechterforschung zwischen situativem Handeln und sozialen Strukturen generiert Klinger in ihrer Studie: Ansetzend bei Andrea Maihofers Konzeption des Geschlechts als ‚kulturelle Existenzweise‘ kann die Autorin das Gewordensein von Geschlecht sowie die Art und Weise dieses Gewordenseins begreifen ─ und somit auch die habituelle Praxis der Individuen. Ihre Analyse dieser Praxis vor dem Hintergrund des universitären Feldes der Interviewten gibt Auskunft über die Zusammenhänge von (De-)Thematisierungsstrategien bezüglich Geschlecht(erfragen), sozialem Feld und gesellschaftlichen Diskursen.
Dabei erweist sich Klingers Wahl des offenen Verfahrens der Gruppendiskussion nach Bohnsacks dokumentarischer Methode als angemessen: Sie kann somit „die dialektische Verschränkung individueller und gesellschaftlicher Strukturierungsprozesse“ (S. 125) bestimmen und darüber hinaus mittels vergleichender Analyse der Gruppendiskussionen Verflechtungen von kollektiven mit persönlichen Orientierungen aufzeigen. Klingers gründliche und dennoch kurzweilige Falldarstellungen derjenigen Interviewausschnitte, die sich explizit der (De-)Thematisierung von Geschlecht und Geschlechterfragen zuwenden, legen ihre Rekonstruktionsarbeit bezüglich habitueller Orientierungen anschaulich dar. Die Datenauswertung führt zu Klingers zentralem Ergebnis: Neben individuellen und studiumsbezogenen Erfahrungen sind ebenso gesellschaftliche Diskurse und Strukturen leitend für Vorstellungen und Praktiken der Akteure. Präzise expliziert wird dies von der Autorin am von ihr herausgearbeiteten Diskursmodus der Dethematisierung.
In ihrer Zusammenfassung der rekonstruierten habituellen Thematisierungsmuster kommt Klinger hinsichtlich der universitätsbezogenen (De-)Thematisierung von Geschlecht zwar zu dem Ergebnis, dass die (De-)Thematisierung mit studiumsbezogenen konjunktiven Erfahrungsräumen zusammenhängt. Jedoch werden diese vom universitätsbezogenen konjunktiven Erfahrungsraum überdeckt, der geprägt ist von Modernisierungsprozessen im Sinne des neuen Geschlechtervertrags und der Verdeckungszusammenhänge. So zeigt die Rekonstruktion des universitäts- und gruppenübergreifenden Geschlechterwissens, dass dieses von Geschlechterbinarität als heterosexueller Norm geleitet wird ─ trotz gleichzeitiger Bekundung zu Geschlechterpluralisierung und -vielfalt. Geschlechterdifferenz wird in allen vier Gruppen als natürlich begriffen, und dieses Wissen wird auch reproduziert, bei gleichzeitiger Überzeugung von egalitärer Selbstbestimmung und Gleichberechtigung als festem Denkmuster des Geschlechterwissens. Klinger gelingt es an dieser Stelle, Gleichheitsbekundungen als ausschließlich rhetorische Betonung aufzuzeigen, die im Gegensatz zu sozialer Praxis und handlungsleitendem Wissen stehen. Stattdessen wird versucht, die „Gleichstellungen von Differentem“ (S. 333) zu bezeugen und diese Differenz aufrechtzuerhalten. Auffällig ist zudem das absolute Nicht-in-Frage-Stellen eigener geschlechtlicher heterosexueller Identität seitens der Interviewten. Dies stellt die binäre Geschlechternorm abermals verstärkend als habituelle Orientierung und Praxis heraus. Queere Sexualität ebenso wie Transsexualität werden zwar toleriert, allerdings als Besonderes und von der Norm Abweichendes wahrgenommen. Das von Maihofer konzipierte Geschlechterverständnis kann Klinger bei den Studierenden folglich nicht als handlungsleitendes Wissen rekonstruieren, sehen diese doch Geschlecht keineswegs als flexibel und im Werden begriffen, sondern als statisch, eindeutig und kohärent. Es gilt somit vielmehr „zwischen Geschlechterwissen und Geschlechterhandeln“ (S. 334) zu unterscheiden.
Vielfältige Wirkmechanismen von Verdeckungszusammenhängen führen neben der Individualisierung von Problemen auch zur Verhinderung der Thematisierung von Geschlecht(erfragen), so Klingers zweites Teilergebnis. Markanter Mechanismus dieses Dethematisierungsprozesses ist das im alltagsweltlichen Geschlechterwissen vorherrschende Gleichheitspostulat. Dieses treibt die Zusammenführung von Individualisierung und Gleichberechtigung auf eine Art und Weise voran, die geschlechtliche Herrschaftsverhältnisse verdeckt und unsagbar werden lässt. Erfahrene Ungleichheit, die im Widerspruch zur rhetorischen Gleichheit steht, wird von den Interviewten individualisiert bewältigt, z. B. durch Übergehen des eigenen Erfahrens, und schlussendlich nicht thematisiert. Die interviewten Studierenden grenzen sich zudem explizit nicht nur von Personenkreisen in anderen Institutionen und Bereichen, sondern auch von historischen Geschlechterbedingungen ab, um den eigenen aktuellen Status der Gleichberechtigung als Norm und erreichtes Ziel zu bestärken. Im Feld der Erziehungs- und Bildungswissenschaften setzen die interviewten Studierenden außerdem die hohe weibliche Studierendenzahl mit einer Nichtexistenz von geschlechtlicher Benachteiligung gleich. Sie betonen diese statistische Überrepräsentanz sogar, um die Sprachpraxis des generischen Maskulinums als verallgemeinernd und Frauen nicht ausschließend zu begründen. Geschlechtergerechte Sprache wird demgegenüber von den Studierenden als extreme Position eingeordnet und darin die Gefahr gesehen, dass ebenso wie in Quotenregelungen und ‚dem‘ Feminismus allgemein Geschlecht als wichtigste Ungleichheitskategorie zu stark zu Lasten anderer Kategorien der Ausgrenzung betont wird.
Diese hier nur knapp skizzierten Ergebnisse Klingers geben erste Einblicke in ihre Forschung und sollen Lust auf das eigene Vertiefen in die Interviews und Falldarstellungen machen. Es gibt in keiner Weise einen geschlechterreflektierenden studentischen Habitus, die interviewten Studierenden reflektieren nicht die eigene Geschlechtlichkeit. Ihre studentisch-habituelle Praxis ist vielmehr vom sozialen Feld und von alltagsweltlichen populären Diskursen geprägt. Das Verfahren der Gruppendiskussion ermöglicht das Offenlegen dieser gesellschaftlichen Prägung studentischer Verhaltensmuster bezüglich des Geschlechteraspekts. Erziehungs- wie Bildungswissenschaftler_innen sei nahegelegt, disziplinäre Ausrichtungen und Erwartungen zu überprüfen und gegebenenfalls eigene Lehr- und Forschungspraktiken zu modifizieren. Auch Klinger selbst beschreibt ihr Fazit als „ernüchternde[s] Ergebnis“ (S. 339). Sie verweist diesbezüglich auf das nach wie vor vorhandene kritische Potential von Bildungsprozessen im Rahmen des Studiums, welches Lehrende nutzen sollten, um Studierenden die Verbindung von gesellschaftlichen mit pädagogischen Macht- und Geschlechterverhältnissen bewusst zu machen. Eben diese Verbindungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse hinsichtlich Bildung, Erziehung und Geschlecht werden von den Interviewten in keiner Weise thematisiert, was Klingers Ausarbeitung der (De)thematisierungsstrategien stützt. Der abschließenden Folgerung der Autorin, Geschlechterreflexion als Teil pädagogisch-professioneller Haltung innerhalb einer von Geschlecht durchzogenen Gesellschaft zu verstehen und zu deren Förderung die Bereitstellung von Bildungsräumen im universitären Rahmen zu fordern, ist gänzlich zuzustimmen. Geschlechterfragen verstanden als „Triade bestehend aus theoretischer und pädagogisch-praktischer Ebene sowie einer kritischen (biografischen Selbst-)Reflexion“ (S. 341) zu bearbeiten, bedarf einer Studienausrichtung, die die Reflexion der eigenen Geschlechterposition verstärkt fördert. Die geschlechtertheoretische Rezeption im erziehungswissenschaftlichen Diskurs darf deshalb nicht fakultatives Beiwerk bleiben. Sie muss, dies bezeugen Klingers Forschungsergebnisse eindrücklich, Standard universitärer pädagogischer Ausbildung werden, will sie denn der aktuellen gesellschaftlichen Legitimation von rhetorischer Gleichheit und den verdeckten Wirkmechanismen sozialer Ungleichheit entgegenwirken.
McRobbie, Angela. (2010). Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: Springer VS.
Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung e.V. (Bitzan, Maria/Funk, Heide/Stauber, Barbara). (2000). Den Wechsel im Blick. Methodologische Ansichten feministischer Sozialforschung. Pfaffenweiler: Centaurus Verlagsgesellschaft.
Wetterer, Angelika. (2002). Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. „Gender at Work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Jessica Schülein
Stiftung Universität Hildesheim
M.A. Erziehungswissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft
E-Mail: schuelein@uni-hildesheim.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter https://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons