Männliche Sexarbeit neu denken

Rezension von Helga Amesberger

Victor Minichiello, John Scott (Hg.):

Male Sex Work and Society.

New York u. a.: Harrington Park Press 2014.

507 Seiten, ISBN 978-1-939594-01-3, $50

Abstract: Die Herausgeber wollen mit diesem Sammelband vor allem eines erreichen: Männliche Sexarbeit in ihrer Heterogenität und Komplexität zeigen und somit aus den bislang oftmals simplifizierenden und stereotypisierenden (wissenschaftlichen) Betrachtungen von Prostitution, nämlich als Devianz und soziales Problem, herauslösen. Mit der Auswahl der Beiträge aus verschiedenen Kontinenten ist es ihnen gelungen, einen umfassenden Einführungsband in die Welten männlicher Sexarbeit zusammenzustellen. Eine breite Palette an Themen ─ vom historischen Umgang mit männlicher Prostitution über gegenwärtige Arbeitsbedingungen bis zu den Auswirkungen neuer Kommunikationstechnologien ─ macht dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu einer aufschlussreichen Quelle.

DOI: http://doi.org/10.14766/1164

Die beiden Herausgeber des Buches treten mit dem Anspruch an, männliche Sexarbeit (MSA) neu zu denken (S. XV ff.). Darunter verstehen sie, den Diskurs über MSA aus den bis zur Jahrtausendwende vorherrschenden Sichtweisen von Prostitution als sozialem Problem und als Devianz herauszulösen und in der Analyse andere Aspekte in den Vordergrund zu rücken bzw. den vielfach simplifizierenden und vorurteilsbeladenen Darstellungen ein komplexeres Bild von den Arbeits- und Lebensrealitäten der männlichen Sexarbeiter gegenüberzustellen. Zu Recht erachten sie das Neudenken von MSA aufgrund der strukturellen Herausforderungen, die mit dem technologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel im Kontext eines globalisierten Arbeitsmarktes sowie einer vollständig kapitalisierten Gesellschaftsordnung einhergehen, für notwendig.

Soviel sei vorweggenommen: Den Herausgebern, Victor Minichiello und John Scott ─ beide ausgewiesene Experten in der Forschung zu MSA ─ gelingt es in beeindruckender Weise, mit ihrer Zusammenstellung der Beiträge die Heterogenität und Komplexität des Arbeitsfeldes wie auch die Verschiedenartigkeit der Sexarbeiter in Hinblick auf ihre soziodemographischen Merkmale, der Motive, in der Sexarbeit tätig zu sein, ihrer sexuellen Orientierung etc. darzustellen.

Aufbau und Gestaltung

Die insgesamt siebzehn Artikel in diesem Sammelband sind vier großen thematischen Abschnitten zugeordnet: MSA im soziohistorischen Kontext, Marketing von MSA, soziale Fragen und Kulturen sowie MSA im globalen Kontext. Jedem Artikel ist eine Synopse der Herausgeber vorangestellt, die den Leser/-innen nicht nur einen schnellen inhaltlichen Überblick bietet, sondern in der auch der Beitrag im größeren Rahmen des Buches positioniert und ─ soweit dies auf einer Seite möglich ist ─ im Kontext der wissenschaftlichen Forschung verortet wird. Wenn auch von den Herausgebern nicht als Einführungswerk ausgewiesen, verweisen diese Zusammenschauen auf einen solchen Charakter (im positiven Sinne des Wortes). Sechs von siebzehn Beiträgen sind keine Erstveröffentlichungen, einige davon wiederum schon älteren Datums (z. B. Friedman 2003, Kaye 2006); auch dies entspricht dem Einführungscharakter. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die eingehefteten Notizblätter und ein umfassendes Glossar (14 Seiten), in dem nationale oder subkulturspezifische Ausdrücke, wenig gebräuchliche Fremdwörter, Abkürzungen und Eigennamen gelistet sind, was zur Verständlichkeit der Texte beiträgt.

Die Autor/-innen nähern sich dem Thema „Männliche Sexarbeit und Gesellschaft“ mit den Methoden verschiedener Wissenschaftsdisziplinen an. So finden sich neben kultur- und sozialanthropologischen Ansätzen (Castañeda, Boyce) kriminologische (Crofts, Ellison, Laing), psychologische (Disorga, Isaacs, Koken, Scott, Smith), politikwissenschaftliche (Crofts), soziologische (Kaye, Kong) und historische (Friedman, Kaye) Perspektiven. Beleuchtet wird das Thema außerdem vor dem Hintergrund von Ökonomie (Logan), Stadt- und Regionalplanung (Maginn) sowie der filmischen Repräsentation (Sheaffer).

Ungewöhnlich für ein akademisches Werk ist die ästhetisch-bildliche Gestaltung. Ein wohlgeformter Männerkörper auf dem Cover illustriert bereits, worum es den Herausgebern auch geht, nämlich Sexarbeit nicht ausschließlich als Problem zu skizzieren, sondern auch das Lustvolle und den Reiz zu zeigen, den sexuelle Dienstleistungen für Anbieter wie Käufer beinhalten können. Jedem Abschnitt und jedem Artikel ist in Folge eine Abbildung eines meist jungen, durchwegs athletischen und fitten Mannes ─ vorwiegend mit nacktem Oberkörper ─ vorangestellt, teils sind es Ganzkörperbilder, teils Torsi. Gerade die Auswahl von unversehrten, makellos schönen Körpern und die ästhetisierende Bildersprache verdeutlichen zum einen, dass Männer mittlerweile ebenso wie Frauen dominanten Schönheitsvorstellungen unterworfen sind, und zum anderen verweisen sie auf den Warencharakter des Körpers. Die Herausgeber bedienen sich damit genauso wie die Sexarbeiter, wie Trevon D. Logan in seiner ökonomischen Analyse der Marketingstrategien von männlichen Escorts in diesem Band beschreibt (S. 137), hegemonialer Stereotype und Bilder von Maskulinität. Es war von den Herausgebern nicht beabsichtigt, derartige Bilder zu dekonstruieren; eine kritische Auseinandersetzung ─ zumindest in der Einleitung ─ wäre aber allemal wünschenswert gewesen.

Thematische Konjunkturen

Die Forschung zu MSA kennt drei zentrale Paradigmen: soziale Devianz, Gesundheit und Prostitution als Arbeit (Bimbi 2007, Minichiello/Scott/Callander 2013). Die Beiträge des Buches sind eindeutig in den beiden letztgenannten Paradigmen zu verorten.

Während in Bezug auf Sexarbeiterinnen Prostitution schon seit mehr als einem Jahrhundert als Gesundheitsproblem thematisiert wird, ist dies bei Männern erst mit dem Aufkommen von AIDS zu einer „Obsession“ (Dennis 2008, S. 18 f.) in der wissenschaftlichen Beschäftigung geworden. Die Dominanz, die das Thema Gesundheit in diesem Buch einnimmt, ist zum einen vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Hälfte der Autor/-innen Expertenwissen in diesem Bereich aufweist. Zum anderen mag sie als Reaktion auf die gängige wissenschaftliche Auseinandersetzung gelesen werden, in der bislang mehrheitlich auf die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit/ ‚Volksgesundheit‘ durch MSA fokussiert wird. Die Autor/-innen setzen in diesem Band andere Akzente. Sie stellen die körperliche wie psychische Gesundheit der Sexarbeit Ausübenden und die Ursachen für gesundheitliche Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt ihrer Forschung (vgl. Koken/Bimbi, Laing/Gaffney, Niccolai und Castañeda). Gefährdungen aufgrund der Arbeitsbedingungen (Gewalt durch Kunden, Arbeitgeber, Vermittler, Polizei), Stigmatisierung und strukturelle Gewalt (z. B. Illegalität, fehlende Unterstützungseinrichtungen, kein Zugang zum anderen Arbeitsmarkt) sind hier zentrale Themen.

Im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen in der MSA ─ derzeit primäres Forschungsinteresse in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ─ werden in den Beiträgen des Sammelbandes vor allem die Veränderungen durch neue Kommunikationstechnologien wie Internet und Handy (z. B. Kaye, Tyler), durch Migration (Castañeda, Kong) und durch die größere gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität sowie schwuler Subkulturen (Grov/Smith, Crofts) aufgegriffen. Durch die Rückbindung an gesellschaftliche Strukturen wird ein äußerst differenziertes Bild von Sexarbeit gezeichnet. Es wird aber auch evident, wie rudimentär die Forschung hierzu noch ist.

Hervorheben möchte ich den Beitrag von Paul Boyce und Gordon Isaacs („Male Sex Work in Southern and Eastern Africa“), der durch das innovative Forschungsdesign besticht, das ihm zugrunde liegt: Die Forschung bot durch ihren partizipativen Zugang, in dem Sexarbeiter nicht nur beforscht wurden, sondern auch in Hinblick auf Fragestellung und Methoden gestaltend eingebunden waren, den Sexarbeitern eine Basis für den Kampf um Rechte, den Zugang zu Gesundheits- und Sozialeinrichtungen und vieles andere mehr, zudem kamen sie selbst ausführlich zu Wort. Dieser transdisziplinär-partizipative Zugang resultiert in einem ‚anderen‘ Wissen, gibt Sexarbeiter/-innen Definitions- und Interpretationsmächtigkeit und reduziert diese nicht auf ihre Tätigkeit, die ja lediglich einen Teil ihres Lebens darstellt.

Homosexualität ─ männliche Sexarbeit ─ Stigma/tisierung

Eine der anregendsten und gleichzeitig verstörendsten Schlussfolgerungen findet sich bereits im ersten Artikel des Sammelbandes. In einem historischen Aufriss über die Ausgestaltung männlicher Sexarbeit von der Antike bis zur Gegenwart kommt Mack Friedman zum Schluss, dass homophobe Gesellschaften Männern in der Sexarbeit/Prostitution möglicherweise bessere Arbeitsbedingungen oder zumindest keine schlechteren boten, als dies moderne Gesellschaften tun, die Wert auf die Wahrung der Menschenrechte legen und in denen der Status von Sexarbeitern kontinuierlich sinke (Friedman bezieht sich hier auf die USA) (vgl. S. 28 f.). Gegenüber Homosexualität intolerante Gesellschaften hätten männliche Sexarbeiter im besten Fall ignoriert, im schlimmsten Fall hätten diese unter dem allgemeinen Stigma, das mit homosexuellem Verhalten verknüpft ist, gelitten. Heute sei durch die Verdrängung von MSA aus dem öffentlichen Raum, durch veränderte Haltungen in der homosexuellen Community gegenüber MSA sowie durch die neuen Kommunikationstechnologien die männliche Sexarbeit unsichtbar geworden, was für die Sexarbeiter in erster Linie negative Effekte mit sich brachte. Daraus schließt Friedman: “Paradoxically, we seem to be right back where we started.” (S. 29) Obwohl mir diese Schlussfolgerung zu kurz greift und diese These wohl auch ein genaueres historisches Arbeiten erfordert hätte, stellt sich doch die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen dem Ausmaß der gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität und dem Grad der Stigmatisierung von MSA gibt. Erfahren männliche Sexarbeiter lediglich in liberaleren Gesellschaften ─ wie dies von Friedman nahegelegt wird ─ die doppelte Stigmatisierung aufgrund von Homosexualität und aufgrund von Prostitution? Oder ist dort, wo das Stigma der Homosexualität noch ungebrochen ist, dieses so überwältigend, dass alles von der gesellschaftlichen Norm Abweichende ─ auch kommerzieller Sex ─ als Ausdruck der sexuellen Devianz betrachtet wird? Und welchen Unterschied macht das im Endeffekt für die Betroffenen? Im Widerspruch zu Friedmans These konstatieren andere Autoren (Crofts, Sheaffer, Grov/Smith) in diesem Buch zumindest graduelle positive Veränderungen in den Einstellungen zu MSA im Verlauf der Geschichte bzw. sehen einen direkten positiven Zusammenhang zwischen Gewährung von Menschenrechten einerseits und der Entkriminalisierung von Homosexualität und/oder Sexarbeit und guten Arbeitsbedingungen (Bimbi/Koken) andererseits. Diese widersprüchlichen Befunde werden leider von den Herausgebern nicht aufgegriffen. Damit bleibt auch die Frage offen, ob, und wenn ja, welche Effekte Prostitutionspolitik auf die Lebensrealität von männlichen Sexarbeitern hat.

Globale Verhältnisse

Der Großteil der Forschungen zu MSA stammt aus dem anglophonen Raum und bezieht sich auch auf diesen. Dies wird in diesem Sammelband dahingehend aufgebrochen, dass sechs Beiträge auf Länder und Kontinente fokussieren, aus denen über MSA bislang wenig bekannt ist (Lateinamerika, Süd- und Ostafrika, China, Deutschland, Russland und Irland). Irreführend ist zunächst der Abschnittstitel „Male sex work in its global context“, suggeriert er doch, dass Sexarbeit im Kontext von transnationaler (Arbeits-)Migration und Weltwirtschaft diskutiert wird. Mit Ausnahme von Heide Castañedas Beitrag über migrantische Sexarbeiter in Deutschland wird diese Erwartung jedoch nicht erfüllt. Im Großen und Ganzen handelt es sich um ‚Länderstudien‘, ohne dass Bezüge über den nationalen Rahmen hinaus hergestellt würden. Diese Fallstudien sind, trotz ihres vielfachen Thesencharakters, der dem mangelhaften Forschungsstand zu MSA generell und der Zusammenschau mehrerer großer Länder in den Beiträgen geschuldet ist, dennoch überaus spannend zu lesen. Sie zeigen auf beeindruckende Weise Ähnlichkeiten über Länder und Kontinente hinweg, aber ebenso kulturelle und soziopolitische Unterschiede. Damit werden die soziale Konstruktion von Männlichkeit, Gender, Sexualität etc. und deren nichtsdestotrotz reale Auswirkungen auf das individuelle Leben veranschaulicht.

Abschließende Bewertung

“The aim of this book has been to open and clarify a new, conceptually broader perspective on the male sex industry”, schreiben Minichiello und Scott in ihren Schlussfolgerungen (S. 462). Diesem Anspruch wird das Buch durchaus gerecht. Die Komplexität und die Heterogenität männlicher Sexarbeit werden durch die vielfältigen Themenfelder und nicht zuletzt durch die unterschiedlichen disziplinären Annäherungen sichtbar. Durch die differenzierte und sachliche Analyse vermeiden die Autor/-innen sowohl Skandalisierung als auch Beschönigung der Verhältnisse. Die beiden Herausgeber schließen den Band mit der Benennung offener Forschungsfelder ab. Insbesondere als Einstieg ins Themenfeld MSA ist das Buch besonders zu empfehlen, da es einen kompakten Überblick zum Forschungsstand gibt.

Literatur

Bimbi, David S. (2007). Male Prostitution: Pathology, Paradigms and Progress in Research. (pp. 7−35). Journal of Homosexuality, 53 (1─2).

Dennis, Jeffrey P. (2008). Women are Victims, Men Make Choices: The Invisibility of Men and Boys in the Global Sex Trade. (pp. 11−25). Gender Issues, 25.

Minichiello, Victor/Scott, John/Callander, Denton (2013). New Pleasures and Old Dangers: Reinventing Male Sex Work. (pp. 263−275). Journal of Sex Research, 50 (3─4).

Helga Amesberger

Institut für Konfliktforschung, Wien

Homepage: http://www.ikf.ac.at/m_amesb.htm

Forscherin, Mitglied in der österreichischen Arbeitsgruppe „Länderkompetenzen Prostitution“ und im EU-COST-Forschungsnetzwerk „Comparing European Prostitution Policies: Understanding Scales and Cultures of Governance“

E-Mail: helga.amesberger@ikf.ac.at

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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