Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.):
Abtreibung.
Diskurse und Tendenzen.
Bielefeld: transcript Verlag 2015.
330 Seiten, ISBN 978-3-8376-2602-5, € 29,99
Abstract: Der interdisziplinäre Sammelband bietet eine facettenreiche Auseinandersetzung zu Schwangerschaftsabbrüchen, wobei die Situation in deutschsprachigen Ländern fokussiert wird. Analysiert werden dabei mit hauptsächlich sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden die historischen, gesellschaftlichen, juristischen und ethischen Dimensionen der Thematik. Moralpolitische und religiöse Einflüsse, die Konstruktion und Deutung von Abtreibungen, reproduktionsmedizinische Entwicklungen, die Situation von Professionellen im Handlungsfeld und die ärztliche Sicht der Abtreibungsfrage finden Beachtung. So bieten die Beiträge einen gelungenen, umfassenden Einblick in die aktuellen Spannungsfelder der Debatte und zeigen die Relevanz einer neuen, sachlichen Diskussion des alten Themas Abtreibung auf.
Für einen Blick auf die vielfältigen Facetten des Themas Abtreibung ─ 20 Jahre nach der letzten rechtlichen Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland ─ war die Zeit schon lange reif, denn während sich in öffentlichen Diskursen ein eher problematisierender Blick auf Abtreibungen etabliert hat, sind in den letzten zwei Jahrzehnten keine größeren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen explizit zu diesem Thema mehr geführt worden (vgl. S. 7). Die entstandenen Lücken möchten die Herausgeberinnen Ulrike Busch und Daphne Hahn mit ihrem interdisziplinären Sammelband schließen. Dabei wird eine vom Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie von Selbstbestimmung ausgehende Perspektive eingenommen. Erklärungen im Vorwort verweisen darauf, dass der in Titel und Text verwendete, bedeutungsgeladene Begriff ‚Abtreibung‘ die weltanschaulich-moralischen und politischen Auseinandersetzungen rund um das Thema sichtbar machen soll (vgl. S. 8). Inhaltlich gliedert sich der Sammelband in drei thematische Schwerpunkte, deren Überschriften für die vorliegende Rezension übernommen wurden und denen insgesamt 15 Beiträge zugeordnet sind.
Insbesondere die jüngere Geschichte von Abtreibung wird im ersten thematischen Schwerpunkt des Buches betrachtet. Das erste Kapitel, in dem Ulrike Busch einen umfassenden Überblick zur historischen Entwicklung und zum aktuellen Stand der Debatte liefert, bildet dabei gewissermaßen das Kernstück des Sammelbandes. Die Autorin beschreibt, dass weltweit die Zugänge zu medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbrüchen durch die Kirche und die Verbindung von Politik, Moral, Recht und Religion beeinflusst sind. Auch in Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch heute noch als ‚Straftat gegen das Leben‘ im § 218 des Strafgesetzbuches verortet, der 1871 eingeführt wurde. Der vorhandene Strafkontext ist aufgrund von Fristen- und Indikationsregelungen im Alltag jedoch kaum noch spürbar. Ulrike Busch veranschaulicht in ihrem historischen Exkurs zum Umgang mit ungewollten Schwangerschaften eindrücklich, dass es „in der jahrhundertelangen Geschichte nicht primär um moralische Wertschätzung ungeborenen Lebens ging, sondern andere Interessenslagen von zentraler Bedeutung waren“ (S. 19). Restriktive Tendenzen sind demnach häufig verbunden „mit einem extremen Konservatismus in familien-, sexualitäts- und beziehungsbezogenen Werten“ (S. 17). Es wird deutlich, dass die Kontroverse um Abtreibung nur in ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext greifbar ist.
Auf diesen Erkenntnissen aufbauend bietet der Beitrag von Daphne Hahn eine diskursanalytische Betrachtung medizinischer und juristischer Wissenschaftstexte zum Schwangerschaftsabbruch ab 1945 und macht dabei auf wechselnde Konstruktionen von Abtreibungen aufmerksam. So wird die Existenz fließender Deutungsmuster in ihren jeweiligen Kontexten hervorgehoben: Beeinflusst vom bevölkerungspolitischen, feministischen oder ostdeutschen Diskurs sowie von Individualisierungstendenzen veränderte sich die Wahrnehmung von Abtreibungen über die Zeit. Beispielsweise beschreibt die Autorin einen Gesundheits- und Geschlechterdiskurs, „in dem Frauen als hilfebedürftige Personen eingeführt werden, die Unterstützung bei ihren Entscheidungen benötigen“ (S. 49). Psychische Verarbeitungsprobleme nach einem Abbruch werden als normal konstruiert und stellen eine Verhaltensnorm auf, während Unweiblichkeit und fehlende Sensibilität impliziert wird, wenn Frauen keinerlei Schwierigkeiten mit der Entscheidung für eine Abtreibung haben. Die Reproduktion von traditionellen Geschlechterrollen ist deutlich in den Diskurssträngen zu Abtreibung erkennbar.
Auch Cornelia Helfferich analysiert empirische Studien zu Schwangerschaftsabbrüchen. Dabei geht es nicht um die Richtigkeit der einzelnen Forschungsergebnisse, sondern wissenschaftsgeschichtlich um die Frage, „warum zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Ansätze und Menschenbilder in der Forschung auftauchten und favorisiert wurden, während andere Fragen und Perspektiven keine Beachtung fanden“ (S. 64). So wurden Abtreibungen im 20. Jahrhundert unter anderem als rationale Reaktionen auf soziale Notlagen betrachtet, in die Nähe von Krankheit und Pathologie gerückt oder mit Aufkommen der Anti-Baby-Pille als Verhütungsfehler und Unvernunft sowie fehlende Eigenverantwortung gedeutet. In den 1990er Jahren beginnt eine differenzierte Betrachtung des Themas: Es geht nicht mehr um die „typische Frau, die eine Schwangerschaft abbricht“ (S. 75), vielmehr werden Entscheidungen zunehmend als biographische Prozesse mit komplexen Vorgeschichten wahrgenommen.
Anja Hennig nimmt in ihrem Beitrag einen Ländervergleich vor und isoliert die Rolle von Religion in den nationalen Abtreibungskontroversen Polens, Italiens und Spaniens. Sie zeigt auf, dass es für eine erfolgreiche Protestmobilisierung gegen Schwangerschaftsabbrüche weniger auf den Religiositätsgrad einer Gesellschaft ankommt „als auf die Existenz einer sehr religiösen, moralpolitisch restriktiv eingestellten und politisch aktiven Minderheit“ (S. 95). Wie das Beispiel Italiens zeigt, vertreten Liberalisierungsgegner/-innen oft einstimmig eine klare Position, während die politischen Stimmen im Mitte-Links-Lager vielstimmiger und schwieriger zu bündeln sind. Hier setzt auch Katja Krolzik-Matthei an, die auf Grundlage qualitativer Interviews mit vier jüngeren und vier älteren Aktivistinnen Generationenfragen im Feminismus thematisiert – ein relevanter Bereich angesichts der Tatsache, dass die Kämpfe um das Recht auf Abtreibung einen Großteil ihrer Triebkraft aus der Frauenbewegung erhielten. Auch wenn sich jüngere und ältere Aktivistinnen nicht feindlich gegenüber stehen, attestiert die Autorin: „Feministisch-emanzipatorische Bestrebungen leiden unter den Verquickungen der historisch bestehenden Diskurse mit postmodernen Entgrenzungen und Diversifizierungen. Die gegenwärtige Gesetzgebung bietet kein ausreichendes ‚Feindbild‘, die Auseinandersetzung mit radikalen Abtreibungsgegner/-innen ist auf Dauer frustrierend.“ (S. 115)
Insgesamt bildet der erste Themenschwerpunkt des Sammelbandes ein eindrucksvolles Gerüst für die weitere Analyse, die nur in einem komplizierten Spannungsfeld historischer, gesellschaftlicher, nationaler und internationaler Debatten möglich zu sein scheint. Mit der aufgezeigten Stigmatisierung und Kriminalisierung von Abtreibungen im Kontext von Retraditionalisierungstendenzen wird die Aktualität und Relevanz des Themas unterstrichen.
Im zweiten thematischen Schwerpunkt des Sammelbandes werden ethische und juristische Positionierungen in der Debatte zusammengefasst und erläutert. In diesem Zusammenhang wird wiederholt mutig das in diesem Kontext moralische Minenfeld ‚Behindertenrechte‘ angegangen. Dagmar Herzog verweist auf säkulare wie religiöse Verfechter/-innen des Rechts auf Abtreibung, die in den 1960er und 1970er Jahren überzeugt davon waren, „es sei eine Zumutung des Schicksals, ein behindertes Kind austragen und aufziehen zu müssen“ (S. 121). Diese aus heutiger Sicht befremdliche ‚eugenische‘ Begründung von Abtreibungen überrascht insbesondere in Verbindung mit christlichem Glauben und unterstützt Dagmar Herzogs These eines „Sexual-Konservatismus, der sich auf religiöse Traditionen bezieht, wenn dies nützlich ist“ (S. 135). Aber der Verweis auf Behindertenrechte drängt die Befürworter/-innen von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung auch in die Ecke; zwei eigentlich progressive Gruppierungen ─ Behinderten- und Abtreibungsrechtler/-innen ─ werden auf diese Weise gegeneinander ausgespielt (vgl. S. 136).
Dass diese Fragen im Kontext der heutigen Fortpflanzungsmedizin dringender denn je sind, stellt auch Hartmut Kreß in seiner sozialethischen Analyse der Präimplantationsdiagnostik (PID) heraus, in der er Schwangerschaftsabbrüche im weiteren Kontext betrachtet. In seiner Argumentation konstruiert er, dass die PID nicht als Abwertung von Menschen mit Behinderung zu interpretieren sei, da sie vorgeburtlich stattfindet. In unserer globalisierten, diversen Welt, in der zahlreiche Weltanschauungen nebeneinander existieren, seien unterschiedliche Standpunkte zur Inanspruchnahme der PID von Dritten und vom Staat zu akzeptieren. Auch Sabine Berghahn bestätigt in ihrem Beitrag, in dem es hauptsächlich um die „dogmatisierte Rechtsprechung“ (S. 166) zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland geht, eine Fortsetzung des alten Abtreibungsstreits in Diskussionen über Spätabbrüche und Pränataldiagnostik. Die zwei gegenüberstehenden Ansichten, PID als Erweiterung reproduktiver Freiheit versus PID als ‚eugenisch‘, haben sich auch im feministischen Kontext herausgebildet. Sabine Berghahn macht auf Zwischentöne aufmerksam, nur um dann festzustellen, dass „[a]ll diese rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Widersprüche und Streitpunkte […] letztlich nicht ausgeräumt und versöhnt werden [können]“ (S. 189). Einem Wunsch nach Auflösung kann das Buch naturgemäß nicht nachkommen.
Nachdem diese ethischen Dilemmata aufgeworfen wurden, endet der zweite Themenschwerpunkt mit einem nüchterneren Beitrag zu juristischen Situationen. Edith Obinger-Gindulis unterscheidet zwischen „drei Grundformen der Gesetzgebung“ (S. 196) mit Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche in OECD-Ländern: Die Indikationslösung, bei der beispielsweise aufgrund einer medizinischen Indikation wie Gefahr für die Gesundheit der Mutter eine Abtreibung legal wird, die Fristenlösung, bei der bis zu einem festgesetzten Zeitpunkt eine Abtreibung stattfinden darf, oder eine Mischform aus beiden Lösungen. Die Ergebnisse des internationalen Vergleichs sind nicht überraschend, ähnlich dem bereits vorangegangenen Ländervergleich mit Bezug auf Religiosität wird eine generelle Liberalisierungstendenz festgestellt. Staaten mit einer traditionell stärkeren Regierungsbeteiligung von Linksparteien haben dabei liberalere Abtreibungsrechte als Länder mit starken Rechtsparteien; christdemokratisch geprägte Ländern wie Deutschland wählen typischerweise rechtspolitische Mittelwege.
Anschauliche, erfahrungsbasierte Beschreibungen relevanter Akteure aus Deutschland und Österreich folgen im abschließenden Themenschwerpunkt. Hier werden auch nähere Einblicke in die Lebens- und Gefühlswelten von Frauen gegeben, die sich gegen das Austragen einer Schwangerschaft entscheiden. Auf Grundlage von Daten aus der Studie frauen leben 3 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gehen Cornelia Helfferich und Heike Klindwort in ihrem Text auf den Entscheidungskontext bei Schwangerschaften ein, die ohne aktuellen Kinderwunsch auftreten. Sie betonen die auch von Berater/-innen oft vorgebrachte Unterscheidung zwischen ungeplant und ungewollt (vgl. S. 217) und belegen, dass bei einer Entscheidungsfindung insbesondere der Partnerschaftskontext, aber auch die berufliche und finanzielle Situation eine große Rolle spielen. Die Autorinnen zeigen auf, dass sogar mehr als die Hälfte der explizit ungewollten Schwangerschaften trotzdem ausgetragen wird, und möchten so „Vorurteilen und unrealistischen Ängsten beim Thema Schwangerschaftsabbruch entgegen treten und die Diskussion versachlichen“ (S. 232).
Eine solche Versachlichung gelingt auch Petra Schweiger, die auf das Erleben und Bewältigen von Abtreibungen aus psychologischer Sicht eingeht und die drei Phasen der Entscheidungsfindung, der medizinischen Behandlung sowie der Zeit danach beschreibt. In ihren Darstellungen spart sie mögliche negative Emotionen wie Traurigkeit nicht aus, betont aber, „dass in unserer Gesellschaft der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft als Stressfaktor deutlich überbewertet wird im Vergleich zu anderen Belastungen, die Frauen erleben“ (S. 246). Für die Existenz des von Abtreibungsgegner/-innen oft vorgebrachten ‚Post Abortion Syndroms‘ gibt es keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte. Petra Schweiger bezieht außerdem Stellung für die Abschaffung von juristisch vorgeschriebenen Bedenkzeiten.
Auch Jutta Franz führt in ihrem Beitrag die in Deutschland vorgeschriebene Pflichtberatung vor einer Abtreibung ad absurdum. Die gesetzliche Bestimmung steht im Konflikt mit dem professionellen Beratungsverständnis, das auf Freiwilligkeit beruht. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz ist in sich widersprüchlich: Einerseits soll die Beratung dem Schutz des ungeborenen Leben dienen, andererseits soll sie ergebnisoffen bleiben (vgl. S. 266). Und die Dreiecksbeziehung zwischen Klientin, Berater/-in und Gesetz ist vielen Klientinnen nicht bewusst. Da kann sich die Autorin „des Eindrucks nicht erwehren, die Pflichtberatung habe weniger mit den persönlichen Konflikten und Bedarfen der betroffenen Frauen zu tun, als viel mehr mit der gesellschaftlichen Ambivalenz und Hilflosigkeit gegenüber dem Thema Schwangerschaftsabbruch“ (S. 261).
Immer wieder kommt in diesem Kontext auch die Diskriminierung von Fachpersonal durch sogenannte ‚Lebensschützer/-innen‘ zur Sprache. Die ‚Lebensschutz-Bewegung‘ rückte im deutschsprachigen Raum erst kürzlich in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung (vgl. Knecht 2006, Sanders et al. 2014). Die Beschreibungen im Sammelband decken sich dabei mit den neu gewonnenen Erkenntnissen. Erschreckender Höhepunkt ist der Verweis im Beitrag von Christine Czygan und Ines Thonke auf Übergriffe in den USA, die für Ärztinnen und Ärzte teilweise tödlich endeten (vgl. S. 286). In Deutschland werden in der Gynäkologie Schwangerschaftsabbrüche als „unliebsames und tabuisiertes Feld“ (S. 288) beschrieben, das nicht ausreichend in der Aus- und Weiterbildung oder in entsprechenden Fachgesellschaften thematisiert wird. Auch Helga Seyler berichtet in ihrer persönlichen Sicht auf Schwangerschaftsabbrüche von einer mangelnden Anerkennung der eigentlich häufig durchgeführten Eingriffe. Sie verweist auf die Wichtigkeit eines unterstützenden und offenen Umfeldes auch für das Fachpersonal, denn „das gesellschaftliche Schweigen erschwert es zudem, die eigene Haltung zu reflektieren“ (S. 310).
Der letzte Beitrag des Sammelbandes steht im Kontrast zu den umsichtig formulierten vorangegangenen Texten, hier werden keine subtilen, sondern forsche Forderungen gestellt. Nach Widerlegung von insgesamt acht Argumenten verlangen Christian Fiala und Joyce Arthur die Abschaffung der Verweigerung aus Gewissensgründen (der sogenannten ‚Conscious Objection‘), Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen (vgl. S. 311). Zusammenfassend erklären die Autor/-innen: „[W]enn Gesundheitssysteme ihr Gewissen als Grund dafür anführen, dass sie die Abgabe von Verhütungsmitteln oder die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verbieten, dann diskriminieren sie die von dieser Behandlung abhängige Bevölkerungsgruppe und missachten das Gewissen derjenigen Mitarbeiter_innen, die zur Durchführung bereit sind oder dies sogar als ihre Aufgabe sehen“ (S. 321).
Der Sammelband bietet eine facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Thema Abtreibung. Durch die interdisziplinäre Herangehensweise ist das Buch dabei für ein breites Publikum, insbesondere in der Geschlechterforschung, aufschlussreich. Herausragend gelingt die Verknüpfung der unterschiedlichen theoretischen und methodischen Herangehensweisen einzelner Beiträge, denn immer wieder beziehen sich die Analysen auf die gleichen Themenbereiche: An der Verbindung historischer, gesellschaftlicher, moralisierender, re-traditionalisierender und feministischer Einflüsse geht in dieser Diskussion kein Weg vorbei. Im Zeitalter der Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin gehen die Autor/-innen einen Schritt zurück und verweisen auf ungelöste Fragestellungen im Zusammenhang mit Abtreibungen, die sich in anderen Bereichen fortsetzen. Ethische Dilemmata wie der Einfluss von Abbruchsmöglichkeiten auf die Geburt von Kindern mit Behinderungen werden dabei nicht ausgeklammert, auch wenn an einigen Stellen Fragen offen stehen bleiben. Wichtig ist, dass Deutschlands Schwangerschaftskonfliktgesetz, mit dessen Widersprüchen sich alle arrangiert zu haben scheinen, erneut auf den Prüfstand kommt. Auch eine fehlende Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Männern im Zusammenhang mit Schwangerschaftskonflikten oder eine Fokussierung auf das Erleben von Berater/-innen und Ärztinnen und Ärzten ist dem Buch kaum vorzuwerfen, denn hier werden eher Forschungslücken aufgezeigt als Themen übergangen.
Interessant ist die Betrachtung des Sammelbandes zusätzlich auf einer Metaebene. Denn auch wenn die Herausgeberinnen nicht ohne Grund in ihrem Vorwort darauf hinweisen, dass sie „nicht alle Standpunkte […] gleichermaßen in den Details“ (S. 10) teilen, ist ihnen genau das gelungen, was in den einzelnen Beiträgen wiederholt als Herausforderung beklagt wird: Erfolgreich setzt das Buch den Abtreibungsgegner/-innen im deutschsprachigen Raum eine Sammlung reflektierter Beiträge aus den vielstimmigen, liberal-selbstbestimmten feministischen Positionen entgegen.
Knecht, Michi. (2006). Zwischen Religion, Biologie und Politik: Eine kulturanthropologische Analyse der Lebensschutzbewegung. Berlin u. a.: LIT Verlag.
Sanders, Eike/Jentsch, Ulli/Hansen, Felix. (2014). „Deutschland treibt sich ab“. Organisierter ‚Lebensschutz‘, christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus. Münster: Unrast Verlag.
Johanna Özogul
Hochschule Merseburg
Masterstudentin „Sexualwissenschaft ─ Bildung und Beratung im Kontext von Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung“, Honorarkraft bei pro familia und studentische Hilfskraft in der Genderforschung
E-Mail: johanna.oezogul@gmx.de
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