Astrid Baerwolf:
Kinder, Kinder! Mutterschaft und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland.
Eine Ethnografie im Generationenvergleich.
Göttingen: Wallstein Verlag 2014.
320 Seiten, ISBN 978-3-8353-1572-3, € 34,90
Abstract: Im Fokus der vorliegenden Studie stehen die Verschiebungen in den Deutungsmustern um das Narrativ der voll erwerbstätigen Mutter, untersucht im generationellen Vergleich in Ostdeutschland. Folgende Umdeutungen werden festgestellt: Die DDR-Mütter standen diesem Narrativ ambivalent affirmativ entgegen, die Wendemütter hingegen begegneten ihm mit einer inkorporierten Selbstverständlichkeit, Vollzeitarbeit war erwünscht und wurde gelebt. In der Nachwendegeneration steht dies in den Deutungen der Mütter dagegen zur Disposition, ist optional geworden. Astrid Baerwolfs Forschung füllt eine Forschungslücke, indem sie den Mythos der voll erwerbstägigen Mutter in der DDR und in der Gegenwart der neuen Bundesländer unter die Lupe nimmt.
Gegenstand der Studie von Astrid Baerwolf sind die kulturellen Wandlungsprozesse von Mutterschaftskonzepten in Ostdeutschland über den Zeitraum der letzten 40 Jahre hinweg. Dem Thema nähert sich die Autorin aus zwei Richtungen: zum einen über den Modus des generationellen Vergleichs und zum anderen inhaltlich mit dem doppelten Fokus auf weibliche Erwerbstätigkeit und Mutterschaft. In einer historisch-ethnographischen Perspektive analysiert sie die subjektive Dimension von drei Müttergenerationen in Hinblick auf ihre Erfahrungen, Beweggründe und Selbstdeutungen um Mutterschaft. Baerwolf geht es darum, individuelle wie generationsspezifische Eigenlogiken der Entscheidungsprozesse zwischen Mutterschaftskonzepten und Erwerbsbiographien von Müttern offenzulegen. Mutterschaftskonzepte und weibliche Arbeitsbiographien denkt die Autorin als komplexe aufeinander bezogene Diskurse und Praktiken zusammen.
In Anlehnung an Karl Mannheims Generationenkonzept konstruiert Baerwolf drei Müttergenerationen als politische und kulturelle Einheit. Einschlusskriterium ist der biographische Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Untersucht werden folgende drei Müttergenerationen (vgl. S. 26):
Mit Müttern dieser drei Generationen wurden Interviews geführt; die Nachwendemütter wurden zudem in institutionalisierten Mütter-Treffpunkten (‚Elternklön‘, Krabbelgruppen etc.) der evangelischen Gemeinde und des SOS-Familienzentrums des Forschungsortes im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf teilnehmend beobachtet. Die Mütter des Samples, betont die Forscherin hierzu, seien zwar nicht repräsentativ, die skizzierten Entwicklungen würden aber dennoch über den lokalen Kontext hinausweisen: erstens aufgrund des allgemeinen Rückgangs der weiblichen Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland und zweitens, weil die Frauen mit mittlerem Einkommen und Eigenheim in einem städtischen Randgebiet in ihrer Orientierung an bürgerlichen Idealen die Kriterien der normativen Mitte der Gesellschaft und damit deren Ideologie verträten (vgl. S. 15). Untersucht wird nur die Perspektive der Mütter, Väter sind im Design der Studie nicht enthalten. Ausgewertet wurde das Datenmaterial nach der Methode der Inhaltsanalyse und der Grounded Theory und der des ethnographischen Gedächtnisses.
In der Einleitung werden die Erkenntnisperspektive, der Feldzugang und die Analysemethoden vorgestellt, worauf in Kapitel 1 eine Genese der Erzählung um die voll erwerbstätige Mutter erstellt wird. Im nächsten Arbeitsschritt wird anhand von Interviewpassagen gezeigt, wie sich die Deutungen dieses Narrativs in den drei untersuchten Generationen verschoben haben (Kapitel 2). Im vierten Kapitel wird die Perspektive auf die intergenerationelle Rede von der ‚voll berufstätigen Mutti‘ gerichtet. Es folgt eine Diskussion um die ‚schöne Kindheit‘ als hegemoniales Modell (Kapitel 5) und um die ‚vergesellschaftete Kindheit‘ in der DDR (Kapitel 6). Im siebten Kapitel wird die Konzeption von Kindheit nach 1989 analysiert. Resümierend werden gegenwartsanalytische Diagnosen zur aktuellen Deutungskonzeption von Mutterschaft getroffen (Kapitel 8). Abschließend wird erörtert, wie das Konzept der entgrenzten Mütterlichkeit bei gleichzeitiger Vermütterlichung von Berufen (vgl. S. 126) zu einer neuen Care-Ökonomie in Ostdeutschland beiträgt.
Astrid Baerwolf arbeitet sehr lesenswert die unterschiedlichen Narrative der Mütter- Erwerbstätigkeits-Konzepte in Ost- und Westdeutschland heraus, die schließlich als signifikante Unterschiede zwischen der DDR und der BRD gelten, und macht auf die Schnittmenge aufmerksam: Während in der DDR die Biographien der Mütter durchaus auch kinderbezogene Erwerbsunterbrechungen aufwiesen, konnte sich umgekehrt nicht jede West-Familie das Hausfrauendasein leisten. Dennoch gab es für den Osten das wirkmächtige Bild der voll berufstätigen Mutter als dominantes Narrativ.
Portraits von Müttern aus den drei Müttergenerationen stellt die Autorin im dritten Kapitel vor, das mit pointierten Interviewpassagen angereichert ist. Diese Portraits werden entlang des Narrativs der voll berufstätigen Mutter dargestellt. Aus dem, wie Mütter in diesem Generationenvergleich Aneignungen, Tradierungen, Umdeutungen und Transformationen des Narrativs vollziehen, filtert Baerwolf Generationsthemen heraus (vgl. S. 72):
In den Erzählungen der DDR-Mütter tauchen Fragen der Vereinbarkeit als Thematisierung nicht auf. Sie werden eher mit einem schulterzuckenden „Damals war das halt so“ kommentiert. Beispielhaft geschieht dies, wenn eine Interviewte von ihren sehr straffen und langen Tagen spricht und mit dem Kommentar endet: „[…] ich hab das nicht so negativ empfunden, weil man das damals gar nicht anders kannte.“ (S. 74) Besonders spannend ist, dass DDR-Mütter individuelle Auswege aus dem dominanten Narrativ der Vollzeit-erwerbstätigen Mutter fanden, ohne diese aber als Abweichungen von der offiziellen Erzählung zu sehen. Auch in den eigenen Berichten bleibt die DDR ein Staat, in dem Frauen und Mütter voll erwerbstätig waren. In den Erzählungen der Wendemütter stehen Anpassungsschwierigkeiten beim Berufseinstieg der jungen Mütter während des Systemwechsels in Vordergrund. Die Generationenerzählung ist hier die der unhinterfragten Gewissheit der vollen Erwerbstätigkeit. Die selbstverständliche Erwerbstätigkeit wird überliefert, und an ihr wird festgehalten. Bei den ostdeutschen Nachwendemüttern des Samples wird dieses Narrativ brüchig, indem folgender Zwiespalt der Mütter sichtbar wird: Sie heben hervor, dass sie gerne arbeiten, zugleich betonen sie aber auch, dass sie durch ihre Berufstätigkeit Zeit mit ihren Kindern verlieren. So wird aus dem „Das haben doch immer alle geschafft“ der DDR-Generationen ein „Das schafft man doch gar nicht“ der Nachwendemütter.
Im Anschluss an ihre empirischen Befunde zeigt Astrid Baerwolf theorie- und literaturgeleitet auf, wie in den zwei deutschen Staaten die kulturelle Kodierung von Familie, Elternschaft und Mutterschaft unterschiedlich verlaufen ist und wie nun ab 1989 in Tradition des West-Modells wieder eine Annäherung erfolgt. Die Autorin sieht zwei Entwicklungen, die ihre These stützen: Erstens gibt es eine neue Tendenz der Zentrierung auf Mütterlichkeit bei den Nachwendemüttern, und zweitens lösen diese Mütter ihr Vereinbarkeitsproblem von zeitintensiver Mütterlichkeit und Erwerbsarbeit vor allem mit sogenannten Mütterjobs (vgl. S. 119). Diese sind Jobs rund um Mütterlichkeit und bilden den dritten Arbeitsmarktes für Mütter, sie werden von Baerwolf zwischen dem tertiären Sektor der Minijobs und selbstunternehmerischen Tätigkeiten verortet. Außerdem konnte sie über teilnehmende Beobachtung in der Generation der Nachwendemütter konkrete Praktiken und Gestaltungsleistungen von Mütterlichkeit analysieren. Dieses doing mother als Praxis unterliegt Aushandlungsprozessen, die in ‚Peergroups‘ verstärkt werden (vgl. S. 245). Dabei werden die oben genannten Kurse und Treffpunkte als Foren des doing mother begriffen. Die gefundenen Praktiken des doing mother sind zeitintensiv und verabsolutieren die „Aufgabe Kind“ und „die Rolle Mutter“ so stark, dass sie mit voller Erwerbstätigkeit schwer zu vereinbaren sind (S. 258). Dies führe zum einen zu einer weiteren Professionalisierung des Mütterlichen und zum anderen zu einer Vermütterlichung von Jobs, die auf Minijobebene Vereinbarkeit ermöglichen.
Ausgehend von diesen zwei Befunden der Professionalisierung von Mutterschaft und der Vermütterlichung von Jobs wird abschließend auf eine neue Care-Ökonomie im Osten verwiesen (vgl. S. 292): Die neue Marktvermittlung von mütterbezogenen Dienstleistungen (damit sind Dienstleistungen rund um Mutterschaft, z. B. Kurvermittlung, gemeint) ist für die Nachwendemütter eine Möglichkeit, die Überlastung und Überforderung durch die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie individuell zu lösen. Vollzeit-Jobs sind im Gegensatz zur Zeit der DDR-Mütter eine optionale Möglichkeit und keine Selbstverständlichkeit mehr.
Im Buch von Astrid Baerwolf werden Ost-West-Verhältnisse, Geschlechterverhältnisse und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf behandelt. Seine Stärken sind zum einen sehr pointierte Interviewpassagen, die lesenswert sind und die Ergebnisse der empirischen Forschung verdeutlichen, und zum anderen die Literatur- und Theoriekapitel, in denen die Themen Müttererwerbsarbeit und Mütterkonzepte in ein breites Forschungsfeld eingebettet werden.
Die Verschiebung von der voll erwerbstätigen Mutter hin zur kinderzentrierten Mutterschaft mit Teilzeittätigkeit ist plausibel und wird systematisch im Material nachgewiesen. Allerdings ist die Rückkopplung aus den Interviewaussagen auf eine gesellschaftliche Trendwende in Ost-Deutschland hin zu einer neuen Care-Ökonomie gewagt. Weder die Annahme, dass die Interviewpartnerinnen Vertreterinnen der bürgerlichen Mitte seien, noch die Idee, dass über theoretische Verallgemeinerung Spuren des gesellschaftlich Allgemeinen in Einzelbiographien vorzufinden seien, erscheinen vollkommen überzeugend. Hier sind sicherlich die Grenzen qualitativer Sozialforschung erreicht, die aus ihrer Eigenlogik heraus nur bedingt mit Theorien allgemeiner Reichweite wie der von Silke Chorus arbeiten kann. Sicherlich sehr aufschlussreich wäre es, mit quantitativen Daten ─ auch auf regionaler Ebene ─ den ‚Mütterjobs‘ und der neuen Care-Ökonomie auf den Zahn zu fühlen.
Schließlich plädiere ich dafür, die widersprüchliche Entwicklung deutlicher zu machen: Schließlich fördert die bundesdeutsche Familienpolitik seit 2009 mit der Einführung des Kinderförderungsgesetztes auch das Narrativ der erwerbstätigen Mutter. Anzeichen dieser Verschiebung sind vor allem der starke Ausbau der Kinderbetreuung und das sehr umstrittene und von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnte Betreuungsgeld (das jüngst vom Bundesverfassungsgericht aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt wurde). Während im Jahr 2002 im Osten 29% und im Westen 2,3% der Kleinkinder in Betreuung waren, sind es im Jahre 2015 in Ostdeutschland (wieder) 52% und in Westdeutschland 27%. Hier widerspreche ich Astrid Baerwolf, wenn sie eine Angleichung ostdeutscher Betreuungsformen an westdeutsche sieht (vgl. S. 266). Auch das Betreuungsgeld zeigt, dass dieses in Ostdeutschland deutlich weniger als in Westdeutschland in Anspruch genommen wurde (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2002, 2015).
Andererseits kann mit dem Ausbau von Kinderbetreuung durchaus das ‚moderate Ernährermodell‘ ─ also ein Haupternährer und eine Dazuverdienerin ─ gestützt und gefördert werden. Die ─ wenn auch widersprüchliche ─ Aktivierung von Müttern als Teilzeitkraft auf dem Arbeitsmarkt leitet sich aus dem (scheinbar) individuellen Vereinbarkeitsdruck ab. Es folgt vielfach der Ausschluss von karrierefähiger Berufstätigkeit über ‚private Mütterlichkeit‘, die von den Müttern selbst über das Kindeswohl legitimiert wird. Damit nehmen diese Mütter erhebliche Nachteile wie Exklusion von gesellschaftlicher Teilhabe und Altersarmut in Kauf. Baerwolfs Befunde unterstreichen, dass Familienpolitik ohne Gleichstellungspolitik für Frauen deutliche Nachteile produzieren kann: Eine qualifizierte Berufstätigkeit ist für Mütter nicht nur von der Möglichkeit zur Kinderbetreuung, sondern auch von einer Arbeitszeitpolitik abhängig, die auf Zeitsouveränität der Beschäftigten und eine Veränderung von Organisationskulturen zielt (vgl. Funder 2012, S. 357) und nicht mehr auf die Allzeit-Verfügbarkeit setzt. Dies wird vor allem in den Erwerbsbiographien der Wendemütter deutlich, wenn „mütterfreundliche Arbeitsverhältnisse“ im öffentlichen Dienst zur Vollzeiterwerbstätigkeit führen (S. 87).
Die Ergebnisse meiner eigenen Forschung zeigen, dass der Nexus zwischen Erwerbstätigkeit und Mutterschaft regionalen Deutungsprozessen unterliegt (Vidot i.E.) ─ das heißt, es werden regional gültige Vereinbarkeitsmuster generiert. Wenn die Deutungsmuster von Mutterschaft und Erwerbsarbeit aber (nur) regional gültig sind, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass für eine Verallgemeinerung der Ergebnisse mehrere Regionen auf ihre Deutungsmuster untersucht werden müssen, um gesellschaftlich gültige Annahmen treffen zu können. Astrid Baerwolfs Dissertation regt somit zur weiteren Erforschung von Mutterschaftskonzepten im Spannungsverhältnis zur Erwerbsbiographie und zur weiteren Erforschung neuer Care- Ökonomien in Ostdeutschland an.
Funder, Maria/Sproll, Martina. (2012). Symbolische Gewalt und Leistungsregime. Geschlechterungleichheit in der betrieblichen Arbeitspolitik. Reihe: Arbeit, Demokratie, Geschlecht, Bd. 15. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Statistische Ämter des Bundes und der Länder. (2002). Kindertagesbetreuung regional 2002: Ein Vergleich aller Kreise in Deutschland. https://www.destatis.de/GPStatistik/receive/DEHeft_heft_00026971 (Download: 04.08.15)
Statistische Ämter des Bundes und der Länder. (2015). Urteil zum Betreuungsgeld: Vor allem Auswirkungen in Westdeutschland. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ImFokus/Soziales/BetreuungsgeldUrteil.html (Download: 04.08.15)
Vidot, Viviane (i.E.): Lokale Varianz trotz einheitlicher Vorgaben? Der Einfluss impliziter Theorien lokaler Akteure auf den Kinderbetreuungsausbau. In Hellmut Wollmann (Hg.). Variationen des Städtischen ─ Variationen lokaler Politik? Reihe: Stadtforschung aktuell. Wiesbaden: VS Verlag.
Viviane Vidot
Philipps-Universität Marburg
Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft mit dem Arbeitsschwerpunkt Politik und Geschlecht.
E-Mail: viviane.vidot@uni-marburg.de
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