Hildegard Maria Nickel, Andreas Heilmann, Hasko Hüning, Max Lill:
Geschlechterpolitik in Krisenzeiten.
Eine Fallstudie im Bankensektor.
Berlin: edition sigma 2015.
233 Seiten, ISBN 978-3-8360-8769-8, € 18,90
Abstract: Am Beispiel der LandesBank Berlin zeigen die Autor/-innen konkrete Auswirkungen der Bankenkrise auf in Unternehmen agierende betriebliche Akteur/-innen. Inwiefern diese eigene Handlungsspielräume entwickeln (können) und welche Kontinuitäten betriebliche Vergeschlechtlichungsprozesse aufweisen, belegt die Studie eindrücklich. Der mit dem Wandel von Erwerbsarbeit verknüpfte Eigensinn zeigt sich in den Vorstellungen von Zuständigkeiten der weiblichen Angestellten und in den veränderten Antworten auf Work-Life-Balance-Fragen ─ bei jungen männlichen Angestellten und bei älteren Führungskräften, die jungen Vätern einen Mentalitätswandel unterstellen. So könnten sich neue Kollektivierungen jenseits von Geschlecht bilden, insofern an geteilte Interessen in Krisensituationen angeknüpft werden würde.
Wie gestalten betriebliche Akteur/-innen Vergeschlechtlichungsprozesse in Krisenzeiten? Am Beispiel der LandesBank Berlin arbeiten Hildegard Maria Nickel, Andreas Heilmann, Hasko Hüning und Max Lill aus organisationssoziologischer Sicht heraus, inwiefern aus einer Geschlechterperspektive eine gleichberechtigte Teilhabe von Erwerbstätigen im Betrieb stagniert, die Beteiligten sich dennoch Möglichkeitsräume eröffnen und Handlungsansätze entwickeln. Dabei liegt der Fokus auf Restrukturierungsprozessen, die vornehmlich in Krisenzeiten eingeleitet werden. Die Betriebsfallstudie steht im Kontext des Wandels der Erwerbsarbeit, verstanden als Entgrenzungen und als „doppelte Subjektivierung“ (Nickel/Hüning/Frey 2008) in Krisen. Skizziert werden über zehn Jahre die betrieblichen Entwicklungen, die wiederum eingebettet sind in die makropolitischen Rahmenbedingungen. Dabei verfolgen die Forschenden diverse Grundannahmen, die sich durch eine Forschungsfrage verbinden lassen: Welches Potential bieten geteilte Erfahrungen in Krisensituationen für „geschlechterübergreifende reflexive Handlungsstrategien und Führungsverantwortung“ (S. 17)?
Krisen fordern Neuorientierung ─ nicht nur der Unternehmen, die zumeist eine Umstrukturierung vornehmen, sondern auch der Angestellten. In der Studie wird der Wandel in der Unternehmenskultur detailliert beschrieben und durch zahlreiche Interviewpassagen illustriert. Deren Auswertung wiederum belegt, an welchen Stellen programmatische Veränderungen auf dem Papier verhaftet bleiben, bzw. durch welche Strukturzusammenhänge diese begrenzt sind.
Eine der Stärken der Untersuchung ist, dass die Autor/-innen die unterschiedlichen Perspektiven der Angestellten auf den einzelnen Ebenen im Unternehmen mit- und gegeneinander lesen. In den Aussagen der Befragten manifestieren sich gesellschaftliche Diskursfragmente, insbesondere Perspektivwechsel, Ambivalenzen und Kritik an bestehenden Arbeitsbedingungen. Die den Erwerbstätigen zugesprochene Eigenverantwortung wird zum Eigensinn, wenn es um das Austarieren unterschiedlicher Anforderungen des ganzen Lebens geht. Der Begriff des Work-Life-Balance markiert einen Wandel darin, wie sich die Erwerbstätigen zum Verhältnis des Lebens in der Lohnarbeit und außerhalb dieser positionieren. Konkret verdeutlichen das die Reflexionen der Interviewten zum Zusammenhang von Arbeit und Leben, von Arbeit und Familie und einem hörbaren Nein auch von jungen Vätern, z. B. wenn berufliche Veränderungen eine Balance zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen zusätzlich erschweren (vgl. u. a. S. 168, 174 ff., 194, 201).
Die Forschungsgruppe arbeitet zudem Fragmente zum Diskurs um Eigenverantwortung in den subjektiven Ansprüchen der Befragten an ihren Job, an ihre Tätigkeiten und den beruflichen Verlauf im Unternehmen (vgl. S. 220) heraus: So gehen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in Krisenzeiten einher mit unternehmenspolitischen Prämissen der Verlagerung von Verantwortung in Teams bzw. an die Individuen. Die Delegation von Verantwortung verbinden die Angestellten mit Wünschen nach Anerkennung ihrer Leistungen und einer Gestaltungs- und Entscheidungsautonomie. Praxen der Vergeschlechtlichung finden sich auch im Karriereinteresse. Während in der Aufstiegsorientierung Einzelkämpfertum eher vermännlicht wird, sind sowohl transparente und inklusive Teamentscheidungen als auch Kompetenzerweiterungen ohne Karriere im klassischen Sinn verweiblicht. In der Darstellung gelingt es den Autor/-innen, immer wieder Geschlechterstereotype im Alltagswissen und in der Kommunikation als subjektive Dimensionen von Vergeschlechtlichung zu markieren.
Ein drittes Ergebnis der Studie fokussiert die Gruppe der Führungsmitarbeiter/-innen: Diese stehen unter Druck, Rationalisierungsmaßnahmen zu vermitteln, mit den Ängsten der Beschäftigten adäquat umzugehen und Flexibilisierungsprozesse als Wandel der Unternehmenskultur zu implementieren. Dabei werden institutionelle Barrieren argumentativ gehäuft als Individualproblematik von Frauen gerahmt.
Die Autor/-innen resümieren, dass eine Karriere im untersuchten Unternehmen sowohl von strukturellen Zwängen wie der Internalisierung von Marktlogiken und -geschwindigkeiten, von Kontingenzen als auch von eigensinnigen Ansprüchen der Erwerbstätigen abhänge (vgl. S. 216). Der Eigensinn der Beschäftigten spiele insofern eine zentrale Rolle, als die Frage nach ihrem persönlichen Arrangement von Berufsleben und dem Leben außerhalb der Lohnarbeit auch mit der Ablehnung betrieblich vorgegebener Karriereschritte beantwortet werden könne. Diese Form der Subjektivierung fängt Entgrenzungsprozesse ein und eröffnet den Beschäftigten individuelle Handlungsspielräume.
In einem Zwischenschritt lässt sich festhalten: Die benannten Interessen der einzelnen Beschäftigungsgruppen der LandesBank Berlin bezeugen mehr als gegenderte Vorstellungen von Geschlecht und deren Sozialität. Sie bezeugen den Marktdruck, die Auslagerung der unternehmerischen Verantwortung für die Reproduktionskraft der Beschäftigten und die Begrenzung von Gestaltungsspielräumen. Damit wird implizit die Frage aufgeworfen, wie betriebliche Akteur/-innen in machtvollen Strukturen handeln (können). Krisensituationen, so die Autor/-innen, bieten neben allen Unsicherheiten auch Chancen darauf, nicht nur individuell und im Kontext von Work-Life-Balance-Aspekten zu handeln, sondern auch kollektiv Umstrukturierungsprozesse in Krisenzeiten aktiv mit Teilhabepolitik zu verbinden. Allen Grenzen, Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen zum Trotz könne diese Verbindung als Bestandteil „bewusster arbeitspolitischer Auseinandersetzungen“ (S. 228) zu produktiven Konflikten und einem anderen Weg aus der Krise führen.
Die Ergebnisse zeigen zudem, wie Angestellte in der Landesbank Berlin die diversen Anforderungen in und außerhalb der Erwerbsarbeit sowohl mit sich selbst als auch mit Kolleg/-innen und Vorgesetzten verhandeln. Die Lösungen, die sie individuell finden, entsprechen dabei keineswegs standardisierten Formulierungen in Betriebsvereinbarungen etc. Ganz im Gegenteil: Abhängig von den realen Aushandlungsspielräumen sind insbesondere Orientierungen auf eine reflexive Karriereorientierung zu betonen (vgl. S. 145). Hier schließen die Forscher/-innen an Erkenntnisse einer vorgehenden Studie an, in der sie dieses Muster für Arbeitnehmerinnen und deren Aufstiegspläne herausarbeiten konnten (vgl. Nickel/Fahrenholz/Meißner 2002). Über den Entdeckungszusammenhang reflexiver Karriereorientierungen von Frauen wird hier explizit das kritische Reflektieren von Arbeitsbedingungen in den Blick genommen: Entscheidend ist in der individuellen Analyse weiblicher Beschäftigter der Preis, der für einen unternehmensinternen Aufstieg möglicherweise zuungunsten des Lebens außerhalb der Lohnarbeit gezahlt werden müsse. Trotz eines Aufstiegs- und Leistungswillen überwiegen für die Befragten in der Studie herausfordernde Arbeitsinhalte gegenüber einem möglichen Statusgewinn oder einem höheren Einkommen. Die gesamtgesellschaftliche Dominanz, Karriere zu machen, wird gegen ein individuelles Interesse an einem sinnvollen ganzheitlichen Leben abgewogen. Nicht selten entscheiden sich Frauen, auch ohne Kind, für Tätigkeiten, die keine ständige Verfügbarkeit und exzessive Arbeitszeiten umfassen. Damit wird Karriere weniger als Aufstieg denn als begeisterungsfähige Arbeit narrativiert.
Interessant wird dieses Muster, wenn es mit der Frage zusammengedacht wird, „wie [...] Männer vor dem Hintergrund einer noch immer männlich geprägten Arbeitskultur den Sinnzusammenhang von Arbeit und Leben [reflektieren]“ (S. 199). Festgestellt wurde, dass nunmehr alle Beschäftigten aufgrund der Umstrukturierungen, des möglichen Stellenabbaus und der Rationalisierungen die Erfahrung von Unsicherheit teilen (vgl. S. 214). Nickel, Heilmann, Hüning und Hill kommen zu dem Schluss, dass Frauen und Männer tatsächlich gemeinsame Interessen formulieren, die wiederum Basis einer betrieblichen Geschlechterpolitik gerade in Krisenzeiten sein können. Über die geteilte Unsicherheitserfahrung hinaus konstatieren die Befragten einen Mentalitätswandel bei den männlichen Angestellten: Vermehrt gingen junge Väter in Elternzeit (auch wenn dies zumeist schlicht die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Monate sind), beteiligten sich aktiv an Sorge- und Pflegearbeit oder thematisierten Gesundheit und Lebensqualität (vgl. u. a. S. 168). Während sich auf der einen Seite die ‚neuen Väter‘ mit aufstiegsorientierten Müttern kollektivieren könnten, berge auf der anderen Seite das Thema Kinder neues Konfliktpotential ─ jetzt zwischen kinderlosen Frauen und Müttern.
Interessendivergenzen zeigen sich auch in puncto Planbarkeit: Aufgrund des konstanten Wandels im Unternehmen entspricht ein langfristig angelegter Karriereplan nicht mehr der aktuellen Karrierekultur. Das gilt zwar für Frauen wie für Männer, wenn sie gerade am Anfang ihres beruflichen Lebens stehen. Wenn aber die Entscheidungen für einen Karriereweg und die Perspektive auf Karriere in den Blick genommen werden, zeigen sich erneut Vergeschlechtlichungsprozesse im Handeln der Beschäftigten. So entscheiden sich mehrheitlich Frauen für eine Position im Unternehmen, die Sicherheit und Beständigkeit bedeutet. Kind und Karriere zu vereinbaren, führt bei den erwerbstätigen Müttern dazu, sich für eine Fachkarriere und damit für mehr Berechenbarkeit des Arbeitspensums zu entscheiden. Den horizontalen, offensiv vertretenen Anspruch auf Aufstieg wählen aus Sicht der Befragten eher Männer (vgl. S. 204).
Tendenziell gilt noch immer, so die Forschungsgruppe, dass eher Männer den Aufstieg in höhere Führungspositionen schaffen. Und das aus unterschiedlichen Gründen: Sie träfen häufiger die Entscheidung, weniger Sorgearbeit zuhause zu leisten. Damit ermöglichten sie sich, die bestehenden Ansprüche nach Präsenz, Flexibilität und damit Entgrenzung von Arbeitszeit zu erfüllen. Dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch von Beruf und dem Leben außerhalb des Jobs in der gesellschaftlichen Realität für Männer und Frauen in dem Unternehmen unterschiedliche Herausforderungen bereithält, belegt die Studie nachhaltig. Allein mit Blick auf die Aufstiegsbarrieren für weibliche potentielle Führungskräfte zeigen sich vergeschlechtlichte Selektionsmechanismen: So perspektivieren Vorgesetzte Frauen als zögernd bzw. unentschieden und damit weniger geeignet, um der Präsenzkultur mit der entsprechenden Leistungsbereitschaft und einem Flexibilitätswillen gerecht zu werden (vgl. S. 205 ff., 215). Gatekeeping und Networking charakterisieren die Interviewten als männliche Domänen. Selbstzuschreibungen weiblicher Führungskräfte wichen davon nicht ab: Der Leistungswille hänge von der eigenen Einstellung, nicht jedoch von den strukturellen Voraussetzungen im Betrieb oder der Gesellschaft ab.
Während die permanente Krisenerfahrung in der der LandesBank Berlin für die Angestellten einerseits Altbekanntes, nämlich Planungsunsicherheiten, bereithalte, berge das Neue andererseits sowohl Kollektivierungsmöglichkeiten jenseits von Geschlecht, z. B. über die gemeinsame Erfahrung, Sorgearbeit für die eigenen Kinder zu leisten, als auch jenseits geteilter Lebensziele Differenzlinien innerhalb der Genusgruppen.
Die organisationssoziologische Untersuchung von Nickel, Heitmann, Hüning und Lill zu lesen, lohnt sich vielfach. Gerade in der Empirie zeigt sich, welche Erkenntnispotentiale und welche Erkenntnisgrenzen in der Gender-Forschung liegen. Exemplarisch lassen sich die damit verbundenen Herausforderungen verdeutlichen: Argumentativ legitimieren die unterschiedlichen Akteur/-innen im Unternehmen beispielsweise gleichberechtigte Teilhabe zunehmend als Marktforderung. Frauenförderung repräsentiere eine „humanressourcenorientierte Verwertungsstrategie“ (S. 157). Diesen konstatierten Wertschöpfungsvorteil von Frauen betrachten die Forschenden nicht nur als legitim, sondern auch als offensiv zu nutzendes Argument für die Etablierung einer Geschlechterdemokratie im Betrieb (S. 159). Auf der Metaebene funktioniert die These des „Verlustes[es] der kreativen Kompetenzen von Frauen“ (S. 219) ähnlich.
Hieran verdeutlicht sich die Wirkmächtigkeit der Konstruktion Geschlecht: Die Kategorie Geschlecht umfasst einerseits die „historische Wirklichkeit der naturalisierten und hierarchisierten Zweigeschlechtlichkeit“, so Hanna Meißner (2008, S. 16). Andererseits, und das ist die zweite Herausforderung, muss diese gewordene Realität derart beschrieben werden, dass Reifizierungen vermieden werden. Die Erkenntnisgrenzen sind gleichzeitig auch Erkenntnispotentiale. Erst in einem konkreten Kontextbezug und der damit verbundenen Analyse von Wirklichkeit lassen sich symbolische Ordnungen der Zweigeschlechtlichkeit darstellen und zeigt sich die sprachliche Wirkmächtigkeit der Geschlechterordnung.
Die Stärke dieser Studie ist es, den Eigensinn der Subjekte und deren Eingebundensein in vergeschlechtlichte Strukturen herauszuarbeiten. Es ließe sich jedoch noch einen Schritt weitergehen, indem die spannende Darstellung der äußeren ökonomischen Rahmenbedingungen in Kapitel 2 noch deutlicher an die Sichtweisen der Befragten rückgebunden werden würde. Dann könnte es gelingen, „die Strukturen moderner Machtverhältnisse und kapitalistischer Produktionsweise als konstitutive Momente [der] spezifischen Subjektivität [und des Eigensinns der befragten Subjekte, A. S.]“ (Meißner 2008, S. 16) zu betrachten und die symbolische Ordnung mit der ökonomischen zu verbinden.
Meißner, Hanna. (2008). Die soziale Konstruktion von Geschlecht – Erkenntnisperspektiven und gesellschaftstheoretische Fragen. gender...politik...online. http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/soz_eth/Geschlecht_als_Kategorie/Die_soziale_Konstruktion_von_Geschlecht_____Erkenntnisperspektiven_und_gesellschaftstheoretische_Fragen/hanna_meissner.pdf (Download: 27.11.15).
Nickel, Hildegard Maria/Fahrenholz, Anja/Meißner, Hanna. (2002). Potenzialträgerinnen sichtbar machen. Forschungsprojekt bei der LandesBank Berlin. Hans-Böckler-Stiftung. Auszüge publiziert in: Fahrenholz, Anja/Meißner, Hanna. (2003). Welche Macht wollen Frauen? Reflexive Karriereorientierung von weiblichen Führungskräften. In Regina-Maria Dackweiler/Ursula Hornung (Hg.). Frauen ─ Macht ─ Geld. (S. 207−226). Münster: Westfälisches Dampfboot.
Nickel, Hildegard Maria/Hüning, Hasko/Frey, Michael. (2008). Subjektivierung, Verunsicherung, Eigensinn. Auf der Suche nach Gestaltungspotenzialen für eine neue Arbeits- und Geschlechterpolitik. Berlin: edition sigma.
Annett Schulze
DEKRA Hochschule für Medien
Professur für Kommunikationswissenschaft
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