Annette Schlichter:
Die Figur der verrückten Frau.
Weiblicher Wahnsinn als Kategorie der feministischen Repräsentationskritik.
Tübingen: edition diskord 2000.
253 Seiten, ISBN 3–89295–690–1, € 14,00
Abstract: Die repräsentationskritisch angelegte Studie Annette Schlichters setzt sich mit älteren feministischen – literarischen und theoretischen – Texten zum „weiblichen Wahnsinn“ auseinander. Am Beispiel von Sylvia Plaths Roman The Bell Jar zeigt sie die Schwächen des soziokulturellen Zugangs von Phyllis Chesler und Elaine Showalter, der die Analogie von Weiblichkeit und Wahnsinn reproduziert. Einen möglichen Ausweg aus dem Repräsentationsdilemma ermöglicht nach Schlichter das Genre der Theorie-Fiktion, wie es Luce Irigarays Essays „This Sex Which Is Not One“ und „When Our Lips Speak Together“ und Kathy Ackers Roman Don Quixote – which was a dream zeigen. Hier seien Ansätze einer Resignifikation von Weiblichkeit festzustellen.
Über kaum eine andere Figur ist in der feministischen Kritik so stark reflektiert worden wie über die der verrückten Frau. Die Dissertation von Annette Schlichter nimmt sich des „weiblichen Wahnsinns“ nun erneut an. Dabei greift sie jedoch nicht noch einmal auf die Vorstellung vom wandernden Uterus im Corpus Hippocraticum oder auf Charcots Hysterietheater zurück. Sie setzt dort ein, wo die Kritik in der Regel aufhört: bei der Darstellung der Wahnsinnigen „als Ikone der Theorie“ (S. 19).
In fünf Kapiteln erarbeitet die Autorin einen kritischen Blick auf Ansätze der feministischen Theorie bzw. Literatur zum „weiblichen Wahnsinn“. Um das Spiel der feministischen Kritik zu demonstrieren, setzt sie mit Sylvia Plaths Roman The Bell Jar einen mehr als geeigneten Text an den Anfang ihrer Arbeit. Plaths Roman galt der feministischen Kritik immer wieder als typische Darstellung gesellschaftlich bedingten „weiblichen Wahnsinns“. Der Fokus dieser Lesart zielt in erster Linie auf Patriarchatskritik und betont einmal mehr den Opferstatus der Frau, wobei zur Legitimation auf das Konzept der authority of experience – in diesem Fall Plaths eigene Biographie – zurückgegriffen wird. Der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman folgend merkt Schlichter an, dass ein soziokultureller Zugang die Literatur auf einen Ort reiner Widerspiegelung bzw. auf ein Instrument politischer Ambitionen reduziere. Anhand einer Analyse der Erzählerposition und ihrer Verortung auf der Achse Normalität – Wahnsinn will die Autorin nachweisen, dass diese Lesart Plaths Roman verkürzt.
Mit Phyllis Cheslers 1972 erschienener Studie Women and Madness und Elaine Showalters Arbeit The Female Malady (1985) setzt sich Schlichter schließlich mit zwei zentralen theoretischen Texten der feministischen Kritik zum „weiblichen Wahnsinn“ auseinander. Im Zentrum ihrer Kritik steht die Praxis der Essentialisierung und Universalisierung singulärer Erfahrungen im Dienste politischer Handlungsfähigkeit. Um die Thesen vom weiblichen Opferstatus und der soziokulturellen Genese „weiblichen Wahnsinns“ zu stützen, praktizierten die Autorinnen eine „zirkuläre Lesart“ (S. 75): „weiblicher Wahnsinn“ werde zugleich als Symptom und als Metapher der Unterdrückung von Frauen gelesen (vgl. S. 97). Hier zeige sich ein repräsentationstechnisches Dilemma der feministischen Kritik. Indem der Wahnsinn der Frau zur normalen Reaktion auf die Existenz im Patriarchat stilisiert werde, werde auch die Analogie von Weiblichkeit und Wahnsinn einmal mehr reproduziert (vgl. S. 85 ff.).
Cheslers und Showalters Ansätze führen, so Schlichter, aufgrund einer ahistorisierenden Lesart der Wahnsinnigen zu einer Universalisierung der weiblichen Opfererfahrung, die die wahnsinnige Frau zur Repräsentantin von Weiblichkeit werden lasse (vgl. S. 87, S. 90). Sich auf Teresa de Lauretis beziehend, vermerkt Schlichter kritisch, dass die Produktion eines (verrückten) Kollektivsubjekts „Frau“ zwar politische Handlungsfähigkeit ermögliche, jedoch das Heterogene der Existenz von Frauen ignoriere. Zudem betont die Autorin, dass die sozialkritische Lesart eine verkürzte Sichtweise auf den Wahnsinn impliziere (vgl. S. 88 f.).
Schlichter kommt zu dem Schluss, dass die Verrückte nicht als gleichzeitige Repräsentantin von Opferschaft und Protest geeignet sei. Von zentraler Bedeutung sei diese Figur allerdings, wenn sie analytisch eingesetzt werde, um die Konstitution von Weiblichkeit im System der Repräsentation kritisch zu reflektieren (vgl. S. 97).
Im Folgenden zeigt die Autorin, wie fundamental die Analogie von Weiblichkeit und Wahnsinn die Repräsentation der Frau bestimmt. In einem Rekurs auf Platon, Aristoteles und Descartes geht Schlichter auf Grundlagen des dichotomischen Denkens ein. Nicht allein, dass die Frau in der symbolischen Ordnung auf der Seite des Stofflich-Sinnlichen verortet wird; das Weibliche werde „zu einer grundlegenden Voraussetzung der Repräsentation, da es als konstitutives Außen des Diskurses funktioniert“ (S. 119).
An der dualistischen Ordnung, die Rationalität in Opposition zu Irrationalität bzw. Wahnsinn setzt, partizipiere auch der feministische Diskurs in seinen Autorisierungsbestrebungen. Anstelle der immergleichen Reproduktion des Systems der Repräsentation fordert Schlichter daher eine Neuordnung: „Wie kann sie [die Frau] aus dem Zirkel der Assoziation von Weiblichkeit und Wahnsinn befreit werden, ohne lediglich ‚als Spielart der Männer‘ zu sprechen? Wie kann der Ort einer (kritischen) weiblichen Rede konzipiert werden?“ (S. 127).
Mit Luce Irigarays Konzept der hysterischen Mimesis und Kathy Ackers Roman Don Quixote – which was a dream (1985) stellt Schlichter Ansätze vor, die Auswege aus dem Dilemma bieten könnten.
In ihrer explizit anti-essentialistischen Lektüre der Essays „This Sex Which Is Not One“ (1985) und „When Our Lips Speak Together“ (1985) zeigt die Autorin, wie Irigaray die Parallelisierung von Weiblichkeit und Wahnsinn – ergo: die phallozentrische Repräsentationsordnung – zu subvertieren versucht. Speziell Irigarays Figur der Lippen verweise auf eine andere Ökonomie des Denkens und der Wahrnehmung, die eine potentielle weibliche Selbstrepräsentation erkennen lasse. Wenn Irigarays Ansatz jedoch als möglicher Ausweg aus dem Repräsentationsdilemma gewertet wird, bleibt zu fragen, welcher Art diese weibliche Selbstrepräsentation ist. Schlichter stimmt schließlich doch in den Chorus der Kritik ein, der Irigaray die Reproduktion patriarchaler Stereotypien vorwirft (vgl. S. 166). Die Autorin führt dies vor allem auf die Tatsache des theoretischen Sprechens über Verrücktheit zurück (vgl. S. 175). Mit der Hinwendung zu Kathy Ackers Roman vollzieht sie daher einen bewussten Genrewechsel, der einer feministischen Repräsentationskritik andere Möglichkeiten eröffnen soll.
Zwischen Leiden und Widerstand oszillierend, werde der Wahnsinn in Ackers Text zu einer wesentlichen Strategie der Suche nach einer weiblichen Subjektposition. Schlichter kommt zu dem Schluss, dass letztlich auch bei Acker kein Ausweg aus der phallozentristischen Repräsentationsontologie zu finden sei. Jedoch berge die performative Dimension des Textes ein Potential zur Veränderung der Bedingungen der Repräsentation (vgl. S. 222), wie z. B. Ackers Inszenierungen der Denaturalisierung von Geschlecht oder einer möglichen weiblichen Existenz als freak zeigten. Welche politischen Implikationen ein Erzählen besitzt, das sich dem Prinzip der mimetischen Abbildung sperrt, wird von Schlichter jedoch nicht thematisiert.
Annette Schlichter leistet, ausgerüstet mit postmodernem Theorie-Instrumentarium, eine sinnvolle Kritik älterer Ansätze zum „weiblichen Wahnsinn“. Ihre Abrechnung mit der „Verstrickung in den Meisterdiskurs“ (S. 233) bzw. mit einer politisch instrumentalisierten Lesart der Verrückten, wie sie die Arbeiten Showalters und Cheslers kennzeichnet, ist berechtigt, gerät jedoch manchmal zu harsch. Sie verstellt damit den Blick auf grundsätzlich unterschiedliche Kontexte der Theorieentwicklung. Während die älteren Forschungen mehr oder weniger an einer Verrückten aus Fleisch und Blut interessiert waren, arbeitet Schlichter maßgeblich theoriegeleitet auf der Ebene der Repräsentation. Allein die Kritik an der Konstruktion eines „Kollektivsubjekts Frau“ löst jedoch nicht das Problem politischer Handlungsfähigkeit.
Schlichters Resümee, die Figur der Wahnsinnigen sei für die feministische Theoriebildung seit dem Ende der 80er Jahre nicht mehr zentral, verweist auch auf ihre eigene Interessenlage: die Verrückte selbst spielt bei Schlichter kaum noch eine Rolle. Ihre Funktion ist es, Kohärenz in einem Nebeneinander von Re-Lektüren und Neuinterpretationen herzustellen. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Hinwendung zur Genre-Thematik. Es bleibt jedoch fraglich, ob das Genre einer „postmoderne[n] feministische[n] Theorie-Fiktion“ (S. 232), das die Autorin in Irigarays und Ackers Texten erkennt, einen Ausweg aus dem Dilemma der Repräsentationskritik weisen kann.
Der Vorwurf einer ahistorisierenden Lesart des „weiblichen Wahnsinns“, den die Autorin gegenüber Chesler und Showalter äußert, ist letztlich auch auf ihre eigene Arbeit zu beziehen. Schlichter hat sich die Ausformungen konkreter Verrücktheit nicht zum Thema erhoben. Eine solche kontextuelle Verortung würde jedoch den Versuch der Trennung einer politischen und epistemologischen Inanspruchnahme der Figur der Wahnsinnigen erleichtern.
URN urn:nbn:de:0114-qn031150
Claudia Hauser
Absolventin Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz und Literatur“ München
E-Mail: nc-hauserax@netcologne.de
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