Heinz Sieburg (Hg.):
Geschlecht in Literatur und Geschichte.
Bilder ─ Identitäten ─ Konstruktionen.
Bielefeld: transcript Verlag 2014.
262 Seiten, ISBN 978-3-8376-2502-8, € 32,99
Abstract: Zwölf Aufsätze enthält der unter der Herausgeberschaft von Heinz Sieburg entstandene Sammelband, dessen Adressaten Dozierende in den Kulturwissenschaften im weitesten Sinne sind. Der Band beginnt mit zwei theoretischen Einführungen in den Genderdiskurs, führt dann weiter zu textanalytischen und linguistischen Beiträgen und schließt mit einem anthropologischen Aufsatz ab. Die textanalytischen Beiträge reichen vom Frühmittelalter bis zur Postmoderne und überraschen durch die bisweilen sehr innovative Herangehensweise, die die didaktische Zielsetzung zwar immer erkennen lässt, jedoch größtenteils nicht im rein Lehrhaften verbleibt. Jede literarische Epoche wie auch jedes Genre hat, so wird deutlich, fächerübergreifend einiges für die ‚forschungsleitende Elementarkategorie‘ Gender zu bieten.
Ausgehend von der Tatsache, dass „Geschlecht […] seit Jahrzehnten eine der forschungsleitenden Elementarkategorien“ ist, entstand unter der Herausgeberschaft Heinz Sieburgs ein Sammelband, der Aufsätze enthält, die ihre Entstehung einer Vorlesungsreihe des Studiengangs „Bachelor en Cultures Européennes“ an der Universität Luxemburg verdanken. Um das Wesentliche vorab zu sagen: Hält man diesen Zweck und diesen Rahmen im Auge, ist der Band eine hochkarätige Fundgrube für alle Dozierenden, denen es um die Vermittlung europäischer Kultur ─ in welcher Disziplin auch immer ─ geht. Der Band ist innovativ und abwechslungsreich auf der einen Seite, auf der anderen wird das didaktische Ziel jedoch stets im Auge behalten.
Franziska Schößler und Christel Baltes-Lohr geben beide eine theoretische Einführung in den Genderdiskurs, in der die notwendigen Begrifflichkeiten geklärt und die wichtigsten Namen (Freud, Beauvoir, Laqueur, Foucault, Butler, Derrida, Deleuze) positioniert werden. Schößler konzeptionalisiert den Genderdiskurs unter dem Aspekt der Wahlfreiheit, Baltes-Lohr unter dem Aspekt des intersektional verfassten Geschlechts. Im zweiten Teil ihres Aufsatzes stellt Letztere eine sozio-historische Kategorisierung der vorherrschenden Geschlechterkonzepte von 1960 bis 2013 vor. Im Rahmen einer Vorlesung muss man sich diesen Teil dann wahrscheinlich mit Powerpoints vorstellen, im Rahmen des Aufsatzes ist er etwas zu schematisch-vereinfachend, ohne dass jedoch sein grundsätzlicher Erkenntniswert in Frage gestellt werden soll. Die Autorin schließt ihren Aufsatz mit der interessanten Wahrnehmung ab, dass die de jure-Situation (in manchen westlichen Ländern, sei hinzugefügt) bisweilen progressiver ist als die gelebte Realität. Ein Befund, der sich sicher für Diskussionen im universitären und vergleichbaren Rahmen eignet. Beide Aufsätze sind uneingeschränkt denjenigen zu empfehlen, die sich ohne Umschweife in das Thema des Genderdiskurses einlesen wollen, um sich möglicherweise für das Unterfangen inspirieren zu lassen, das ganz offensichtlich der erste Zweck dieser Aufsätze war: eine Vorlesung zu halten.
Als ein textanalytisches Glanzstück kann man den Aufsatz von Alexandra Pontzen über Marlene Streeruwitz’ Partygirl. bezeichnen. Beginnend mit der Feststellung, dass es keine literarische feministische Tradition gibt, leitet die Autorin zum diesbezüglichen spezifischen Anspruch der Schriftstellerin Streeruwitz, die sich mit dieser ‚Leerstelle‘ konfrontiert sah. Ganz offensichtlich geboren aus der Erfahrung, dass die ‚Leerstelle‘ auch Luftleere bedeutet, geht der Streeruwitz’sche Anspruch dahin, sich innerhalb der (männlichen) Tradition zu bewegen, sich aber dennoch nicht durch diese vereinnahmen zu lassen; eine Vorgehensweise, die man als die Strategie des Marsches durch die Institutionen bezeichnen könnte und die dann ─ ebenso wie dieser ─ mit gewissen Aporien zu kämpfen hat. Nach diesem einleitenden Teil analysiert Prontzen die Gendered-Narratologie der Schriftstellerin mit einem Rückgriff auf die Modelle Gérard Genettes, wobei sie ─ und dies ist überaus positiv anzumerken ─ jeder verwendeten Begrifflichkeit eine Definition und einen anwendungsbezogenen Rahmen hinzufügt. Schwerpunktmäßig untersucht die Autorin das Verhältnis zwischen dem Hypotext The Fall of the House of Usher von Edgar Allen Poe und dem Streeruwitz’schen Hypertext Partygirl. Unter Einbezug von Rezensionen aus dem literaturwissenschaftlichen Feld zeigt die Analyse, wie man das Verhältnis Hypotext/Hypertext erfassen kann, welche Fallstricke sich hier auftun (auch für die Schriftstellerin Streeruwitz) und wie man Hypotexte und Hypertexte mit dem Wort ‚Palimpsest‘ und der darin materialisierten Idee in den Bereich der Anschaulichkeit überführen kann. Der Begriff ‚Palimpsest‘ erlaubt auch, da geschichtlich aus der Not geboren, im Hinblick auf die Streeruwitz’schen Texte die Assoziation des aus der Not der fehlenden weiblichen Tradition Geborenen. Eine Lektüre des Aufsatzes kann denen empfohlen werden, die sich speziell mit den Werken von Marlene Streeruwitz befassen, aber auch denen, die andere doppel- oder mehrlagige Texte einer Analyse zuführen möchten. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die ─ eher nebenbei ─ eingeführten Bemerkungen zur Intertexualität, die in der Vormoderne eine Selbstverständlichkeit war und erst durch die Postmoderne wieder zum Postulat erhoben wird.
Mehrere Berührungsflächen hat die Analyse von Pontzen mit der Analyse von Sonja Kmec, die sich mit der Konstruktion des Images von Marie-Antoinette in der Buchbiographie Antonia Frasers einerseits und ihrer Adaptation in der Filmbiographie Sofia Coppolas andererseits auseinandersetzt. Der Vergleich zeigt zahlreiche spannende Perspektiven auf, die didaktisch eingesetzt werden können, nicht zuletzt (wiederum) diejenige, dass auch die wissenschaftliche Analyse verbreitungsbezogener Medien aufschlussreich ist.
Spannend wie ein Krimi liest sich der Aufsatz von Uta Stromer-Caysa über den im Frühmittelalter offensichtlich genauso wie in der Postmoderne verzwickten Geschlechterdiskurs. Die Autorin analysiert einen Text von Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) und eine Textstelle von Mechthild von Magdeburg (gest. 1282) aus ihrem Werk Das fließende Licht der Gottheit. Sowohl Bernhard als auch Mechthild haben das Hohelied in einer je eigenen (allegorischen) Lesart rezipiert, um ihren religiös-mystischen Gefühlen Ausdruck zu geben und eine Annäherung ihrer Seele an das Göttliche zu imaginieren. Ausgehend vom grammatikalischen Geschlecht, das in der deutschen Sprache ‚die Seele‘ als weiblich kategorisiert, spürt dieser Aufsatz der Frage nach, wie „Theologenmänner“ (S. 103), wie Bernhard von Clairvaux einer war, dieses Dilemma ─ denn das war es dann wohl doch ─ persönlich-theologisch gelöst haben. Denkt man die Seele daher nicht nur grammatikalisch weiblich, sondern auch in ihrem Verhältnis zum männlichen Gott-Vater, dann, ja dann ist es in der Tat so, dass die Seele eines Mannes plötzlich mit sehr weiblichen Attributen ausgestattet werden muss. Denn ihre (der Seele) Annäherung an das Göttlich-Männliche rekurriert natürlich auf einen binären Geschlechtercode, in dem der Mensch das empfangende Wesen ist und das Göttliche das gebende Element. Bernhard von Clairvaux ist es hier offensichtlich gelungen, alle Hindernisse der Annäherung an das Göttliche im Sinne einer transgender-Lesung zu lösen, während sich dieses ‚Problem‘ für Mechthild aufgrund ihres biologischen Geschlechts und der damit einhergehenden mentalen Vorstellungswelt offensichtlich nicht stellt. Eine Annäherung kann dann auch problemlos im Rahmen der Brautmystik erfolgen, wobei die Braut bei Mechthild offensichtlich die individuelle Begnadung einfordert (vgl. S. 102 f.), während bei ‚Bräuterichen‘ (vgl. Heinz Seiburg in diesem Band, S. 228) die Annäherung eher über leidende Empfindungen erfolgt. Eine in jeder Hinsicht vorlesungsgeeignete Einführung in das Genderthema über zwei mittelalterliche Texte.
Wilhelm Amann geht den Mythos, zugespitzt auf die Gestalt der Penthesilea, thematisch wie auch strukturell in drei Abschnitten an. Im ersten Abschnitt wird überblicksweise sein ‚Ursprung‘ in der Antike und die daraufhin folgende Rezeption in den unterschiedlichsten Genres bis zu Heinrich von Kleists Penthesilea dargestellt. Wie zu erwarten war, bestätigen die verschiedenen Rezeptionen und Adaptionen die dichotomische Geschlechterordnung und sind auf einer psychologischen Ebene als männliche Phantasmen zu bezeichnen, die gleichermaßen Gefühle der Lust als auch der Bedrohung evozieren. Was bei dieser notwendigerweise summarischen Einleitung fehlt, ist die Nennung der Brunhildefigur aus dem Nibelungenlied. Dies hätte sich insbesondere bei der Diskussion des Gürtelraubtopos (vgl. S. 77) angeboten. Ebenso wäre es sinnvoll gewesen, die Übertragungen der Ilias und der Odyssee durch H. J. Voß mit Jahreszahlen zu versehen und auf neuere oder moderne Übertragungen hinzuweisen. Der zweite Teil beschäftigt sich vertieft mit der Kleist’schen Penthesilea, die nach Ansicht des Autors entgegen dem Zeitgeist gestaltet wurde und die eine dichotomische Geschlechterordnung weder offen noch ex negativo bestätigt, sondern Transgression zulässt und insofern als Ausnahmerezeption zu bezeichnen ist. Der dritte Abschnitt analysiert zwei ‚Penthesileagestalten‘ aus den verbreitungsbezogenen Medien der Komik- und Fernsehliteratur. Der Autor bescheinigt den adaptierten ‚Penthesileagestalten‘ regressive Züge gegenüber der Penthesilea von Kleist, die er daraus ableitet, dass diese sich der Weiblichkeit verweigert, während die Kunstfiguren Weiblichkeit geradezu einsetzen und damit selbstverständlich bestehende dichotomische Muster (wiederum) bestätigen. Dieser Gedanke hätte angesichts der Zielsetzung des Aufsatzes ─ die Durchdringung des Mythos ─ sicherlich vertieft werden können. Die Hinweise, mehr sind es nicht, auf Iphigenie auf Tauris, auf die Jungfrau von Orleans, auf die Rezeptionsgeschichte der Kleist’schen Penthesilea-Aufführungen bzw. Nichtaufführungen durch den Expressionismus, Nationalsozialismus und auf moderne Penthesilea-Inszenierungen sind unergiebig, da zu summarisch.
Ebenfalls mit dem Sujet der kriegerischen Frau, an dieser Stelle zu verstehen als die militärisch aktive Frau, beschäftigt sich Michel Margue. Sein Aufsatz eröffnet mit der These, dass im Laufe des 13. Jahrhunderts bis hin zum 15. Jahrhundert die Amazonen als Repräsentantinnen einer Gegenwelt von der (französischen) höfischen Kunst rezipiert, domestiziert und damit als Kunstfiguren im tatsächlichen Sinne des Wortes salonfähig wurden. Als das Beispiel nennt der Aufsatz die Darstellung der ‚Neun Recken‘ und der ‚Neun Reckinnen‘ in der darstellenden und in der bildenden Kunst ebenso wie deren Rezeption in der Literatur. In der Interpretation dieser Rezeption kommt der Autor zu der Schlussfolgerung, dass am Ende des Mittelalters sowohl Männer als auch Frauen Modelle für ritterliche Repräsentationen in der Kunst waren. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird versucht, von der literarischen Rezeption (im weitesten Sinne, das heißt einschließlich der Rezeption in Sachliteratur) von zwei historischen Frauenfiguren, Laurette de Sponheim und Marguerite de Tirol, auf historische Realitäten zu schließen. Dass das Verhältnis zwischen Literatur und historischer Wirklichkeit ein problematisches ist und daher diese Perspektive einer vertieften methodischen Reflexion bedarf, ist anerkannt (siehe hierzu auch die nachfolgenden Ausführungen von Dominik Schuh). Die etwas lapidare Feststellung, dass ‚man immer die Spannung zwischen dem imaginierten Bild und der Realität im Auge behalten müsse‘ (vgl. S. 159), reicht hier nicht aus. Dennoch kommt der Autor abschließend zu der von den Geschichtswissenschaften bestätigten Schlussfolgerung, dass die Akzeptanz der von ihm beispielhaft untersuchten militärisch aktiven ‚Ausnahmefrauen‘ durch eine Männerwelt in keiner Beziehung zu ihrem Status als Frau steht, sondern mit der Übernahme einer Funktion zu erklären ist, die in den meisten Fällen auf ein Machtvakuum zurückzuführen war.
Um das ritterliche Turnier in der literarischen Rezeption wie auch in einer möglichen historischen Praxis geht es in dem Aufsatz von Dominik Schuh. Der Autor zeigt auf, wie das Turnier, als die männliche Kulturpraxis des Adels schlechthin, eine männliche Ordnung installierte, an der die Frauen durch ihren Blick teilnahmen. Der Aufsatz macht deutlich, dass der Blick sich durch eine Doppelnatur auszeichnet, und zwar insofern, als er zum einen durch das Schauen diese männliche Kulturpraxis bestätigt, zum anderen sich ihr aber durch diese ‚schauende‘ Teilnahme unterwirft.
Hart ins Gericht geht der Herausgeber und zugleich Beiträger Heinz Sieburg mit dem Sprachfeminismus. Ja, er bescheinigt dem Sprachfeminismus und damit in erster Linie der Sprachfeministin Luise F. Pusch, dass all ihre Bemühungen einem Eigentor gleichen. Nach Sieburg ist das generische Maskulinum das unmarkierte Geschlecht, das semantisch so zu verstehen sei, dass es jedes Geschlecht erfasse. So profiliere erst die Abweichung von dieser ‚neutralen‘ Form durch die weibliche Form das generische Maskulinum als das spezifisch männliche. Darin drückt sich umgekehrt die Auffassung aus, dass der Sprachfeminismus das generische Maskulinum als ein generell männliches Maskulinum sieht. Inwiefern diese Argumente zutreffend sind, möge jede und jeder für sich selbst entscheiden, jedoch kann frau sich vorstellen, dass dieser Beitrag im Rahmen einer Vorlesung die Lacher und Lacherinnen (?) auf seiner Seite hat. Sicherlich trägt der Aufsatz jedoch zu einer Reflexion darüber bei, was Sprache zu leisten vermag oder eben auch nicht. Er fordert jedoch genauso zu einer dekonstruktiven Lesung heraus, und schon aus diesem Grunde sollte der Aufsatz von Marion Colas-Blaise „La femme et le langage“ gelesen werden, der sich ebenfalls in diesem Sammelband befindet.
Wie diese kurze Übersicht zeigt, hat der Herausgeber Heinz Sieburg die Aufsätze geschickt ausgewählt, da mehrere Perspektiven nuanciert und ausgewogen dargestellt werden. Wie bereits eingangs festgestellt: ein empfehlenswerter Sammelband zum Genderdiskurs.
Claudia Daiber
Universität von Amsterdam
Dozentin am Lehrstuhl Germanistik
E-Mail: claudia.daiber@gmail.com
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