Gender als Pathogen ─ kulturwissenschaftliche Annäherungen an das diskursive Wechselspiel zwischen Medizin und Literatur

Rezension von Steffen Loick Molina

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.):

Krank geschrieben.

Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin.

Bielefeld: transcript Verlag 2014.

430 Seiten, ISBN 978-3-8376-1760-3, € 32,99

Abstract: Im vorwiegend kulturwissenschaftlich-orientierten Band widmen sich die Autor_innen dem Wechselverhältnis von literarischen und medizinischen Diskursen mit Blick auf die dabei generierten Wertsysteme. Neben der erzähltheoretischen Perspektive auf die literarische Kommunikation pathogener Phänomene fokussieren sie auf die Bedeutung von Literatur für krankheitsbezogene Verständigungs- und Neuordnungsprozesse in deutschsprachigen Gesellschaftsgefügen des 18.─20. Jahrhunderts. Ein zumeist impliziter Schwerpunkt liegt dabei in den sozialen Dynamiken der geschlechtlichen Positionierung in den untersuchten Texten. Wenngleich das Gros der Beiträge bezüglich der untersuchten Gegenstände und Fragestellungen gendertheoretisch unterkomplex bleibt, bietet die Zusammenstellung methodisch innovative Ansätze als auch interpretative Neu-Einsichten in die historische Wandelbarkeit von Gesundheits- und Krankheitsverständnissen im Kontext der jeweiligen kulturellen Felder.

DOI: http://doi.org/10.14766/1181

In der Deutungsperspektive des vorliegenden Sammelbandes kommuniziert Literatur kulturell verankerte Auffassungen des Pathologischen im Schnittfeld von Medizin und Gesellschaft. Als „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Rudolf Käser, S. 38) bringe sie Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit nicht nur medial zur Darstellung, sondern gestalte darüber hinaus die interdiskursiven Austauschprozesse eigendynamisch mit. In ihren wirkungsbezogenen Strategien berge sie, so Käser weiter, das Potenzial von Intervention und Neuentwürfen kultureller Wertsysteme. In literarischen Bearbeitungen medikaler Komplexe werden dabei mehr oder weniger explizit auch Konzepte von Gender im Kontext der jeweils kulturspezifischen und zeithistorischen Bedingungen bedeutungsstiftend verhandelt.

Die Autor_innen setzen mit ihren als Einzelanalysen angelegten Beiträgen an dieser Stelle an. Käser und Schappach folgend, besteht das gemeinsame Anliegen darin, die wirkungsästhetischen Strategien und Potenziale von Literatur im Umgang mit medizinischen Themen zu beschreiben. Dazu wurden die insgesamt 16 Studien in vier thematischen Cluster zusammengefasst. Sie alle widmen sich der literarischen Aneignung medizinischen Wissens primär anhand von Texten der westeuropäischen, deutschsprachigen Kulturen des 18.─20. Jahrhunderts. Die im Abstraktionsniveau variierenden Ausführungen gehen mehrheitlich auf eine gleichnamige Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften aus dem Jahr 2009 in Zürich zurück ─ weitere Studien aus dem Forschungsumfeld wurden aufgenommen. Der disziplinäre Hintergrund der Autor_innen liegt schwerpunktmäßig in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften wie auch der Geschichtswissenschaft.

Methodologischer Referenzrahmen

Rudolf Käser spannt einleitend das übergeordnete Thema des Bandes in seinem Aufsatz auf, der als Ankerpunkt theoretischer und methodisch-reflexiver Suchbewegungen der Einzelstudien gedacht ist. Der Autor legt seinen Ausführungen eine kulturwissenschaftlich orientierte Lesart von Literatur zugrunde. Als „Spuren zeichenhaften Handelns“ (S. 15) seien die literaturwissenschaftlich analysierten Texte demnach stets innerhalb von Alltagskontexten verortet und weniger als isolierte Werkeinheiten zu betrachten. Es stelle sich daher die Frage nach der Funktion von literarischer Kommunikation im Netz kultureller Praktiken sowie ─ auf das Themenfeld zugespitzt ─ den Wirkweisen, mit denen Krankheitserfahrungen literarisch zugänglich gemacht würden. Der den Leser_innen angebotene Bezugsrahmen zur Bearbeitung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin umfasst sieben Methodenansätze, die eine Einordnung der nachfolgenden Beiträge ermöglichen.

Käser führt durch einen Blick auf die Metaphorologie in das Spektrum methodischer Ansätze der Literaturanalyse ein. Seit Susan Sontags Ausführungen sei die Kritik an metaphorischen Krankheitsmodellen ein Allgemeinplatz (vgl. S. 17). Demnach gingen mit dem Gebrauch von Metaphern Schuld- und Handlungszuweisungen an die individuellen Patient_innen einher. Doch nicht nur in Bezug auf destruktive Effekte, sondern auch im Sinne produktiver Gegenstrategien gegenüber der Wissenschaftssprache z. B. in der Sprache von Kranken über sich selbst, seien Metaphern über den Ansatz von Sontag hinaus grundlegend für soziale Wirklichkeitsverhältnisse (vgl. S. 18 f.).

Neben kursorisch betrachteten hermeneutischen Untersuchungsperspektiven erläutert Käser die theoretische Entwicklungslinie der Foucault’schen Diskursanalyse und stellt daran anschließend mehrere methodologische Vorschläge für die Mikroanalyse literarischer Texte vor (hierunter u. a. Ansätze der Differenz- und Stereotypenanalyse sowie der wirkungsästhetischen Erzählanalyse). Diese Vorgehensweisen vereine der gemeinsame Fokus auf den semantischen Gehalt von Literatur, aber auch die auf die Lesenden zielenden Darstellungsstrategien und „persuasiven Effekte“ (S. 26 f.).

Als weitere Analysestränge werden „Soziologie und Sozialgeschichte des Medizinalwesens“ (S. 30─32) und Studien angeführt, die unter die Stichworte „Symbolischer Interaktionismus/Kulturkritik/Gender Analysis“ (S. 33─35) subsumiert werden. Während ersterer Bereich makroanalytische Perspektiven auf machtbezogene Strukturkontinuitäten und kollektive Handlungsdynamiken aufrufe, setzt Käser für kulturkritische und gendertheoretische Arbeiten die Auseinandersetzung mit Ungleichheitsentwicklungen und Kontrollpraktiken im Zuge der Modernisierungsgeschichte der Medizin zentral. Im Abschluss der Einleitung führt er zurück auf seine eigene systemtheoretisch inspirierte Perspektive auf das Diskursfeld von Literatur und Medizin. Nach dieser wird ─ wie eingangs erwähnt ─ das gesellschaftliche ‚Tun‘ von Literatur als Beobachtung als zentral angesehen.

Geschlechterdifferenzierende Romanwelten

Die Autor_innen widmen sich in dem ersten und mit sechs Beiträgen ausführlichsten der thematisch geordneten Kapitel der „Konstruktion weiblicher und männlicher Identitäten“. Der gemeinsame Fokus der hierunter gefassten Studien liegt auf den kulturellen Herstellungsmodi von Geschlechterdifferenzen, die exemplarisch mit Blick auf Dis/Kontinuitäten analysiert werden (sollen). Mehrheitlich gehen die Autor_innen dabei textvergleichend vor. So untersucht beispielsweise Susanne Balmer anhand von vier Romanen Konzepte von „Krankheit in literarischen Entwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts“. Die untersuchten weiblichen Entwicklungsgeschichten werden dabei vor dem historischen Hintergrund medizinischer Umbrüche und der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Geschlechterdiskurses gelesen. In allen Texten werde die Entwicklung der Protagonistin über Erkrankungserfahrungen prozessiert, wobei die perspektivischen Darstellungsmittel und Wertungen dieser Erfahrungen für die entworfenen Geschlechtervorstellungen zentral seien (vgl. S. 58). Während die Romane des ausgehenden 18. Jahrhunderts gesellschaftliche Geschlechterkonstellationen in der Plotstruktur noch nicht über negativ konnotierte medizinische Organe erzählten, würden in den späteren Romanen die medizinischen Akteure zum Korrektiv der Geschlechterrollen (vgl. S. 59). Nach Ansicht Balmers lässt sich dabei eine zunehmend kritische Kommentierung der biologisierenden und somit sozial-positionierenden Bezüge auf Krankheit im Kontext der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herauslesen. Krankheit, so die Autorin, „wird in den Romanen zur Kritik an einer gattungsmäßigen Bestimmung der Frau, denn Krankheit wird in diesen Texten als Folge einer gesellschaftlich verhinderten Individuierung inszeniert“ (S. 48).

Um gesellschaftlich geprägte Werthaltungen und das Potenzial von Literatur, diese zu hinterfragen, geht es auch in dem systemtheoretisch orientierten Beitrag von Rahel Leibacher. Mit Blick auf einige bürgerliche Romane des 18. Jahrhunderts verfolgt sie die These, dass sich die Sinnzuschreibungen zu Auswirkungen der sogenannten Lesesucht system- und genderspezifisch ausdifferenzierten (vgl. S. 63). Dabei trete Literatur als System hervor, das an vorhandene Bedeutungsschemata des Erziehungs- und des Medizinsystems anschließe, um eigene Semantiken zu kreieren. Begründe die zeitgenössische Lesepädagogik über das Bild der ‚lesenden Frauʻ und die damit prognostizierten Gefahren normative Rollenmuster, so werde im Medizinsystem die Lektüre fiktiver Literatur als Frauenkrankheit selbst entworfen. Das Literatursystem synthetisiere demgegenüber beide Bedeutungskomplexe und zeige so in der Neukombination aus Lesarten alternative Blickwinkel auf das Thema Romanlektüre im 18. Jahrhundert auf (vgl. S. 83).

Anhand einer Kontextualisierung des Sturm-und-Drang-Dramas Der Hofmeister (1774) von J.M.R. Lenz im Rahmen medizinischer, juristischer und moraltheologischer Diskurse entwickelt Käser im folgenden Beitrag eindrücklich eine Neuauslegung des Werkes wider „verfestigte Interpretationsmuster“ (S. 87). In einer detektivischen Historisierung des Dramas führt er im Text dargelegte Krankheitssymptome mit zeitgenössischen Onanie-Diskursen zusammen. Er legt so dar, dass die Schlüsselszene der Selbstkastration der Hauptfigur weniger als Selbstbestrafung zu lesen sei, sondern womöglich als eine therapeutische Handlung gegenüber der erkannten Zeugungsunfähigkeit als Folge von Onanie zu deuten ist. Plausibel werde diese Interpretation vor dem Hintergrund des moraltheologischen Modells der Kastratenehe, welches die asketische Lebensform zur Steigerung des eigenen Handlungsvermögens nutzbar mache (vgl. S. 110 f.).

In ihrer literaturhistorischen Analyse des Schauspiels Dämmerung von Elsa Bernstein (1893) befragt Gaby Pailer den Text im Entstehungskontext des Naturalismus auf intertextuelle Bezüge und Verweisebenen. Ähnlich wie im Beitrag von Balmer scheint weibliche Entwicklung hier (in Form von Erblindung) durch Krankheitsprozesse kodiert zu sein. Anhand textinhärenter Elemente von Erzählstruktur und Motivik zeigt sie detailreich die „Präparationstechniken“ (S. 138) auf, mit denen es der Autorin Bernstein gelinge, trotz des adaptierten männlich-hegemonialen Literaturstils das geschlechtergeschichtliche Modell von sozial beengenden ‚Vater-Tochter-Bindungen‘ zu problematisieren.

Kann in Bernsteins Schauspiel die naturwissenschaftlich aufgeklärte Nebenfigur der Ärztin als Gegenentwurf zu der letztlich ‚krank‘ machenden Familienkonstellation gedeutet werden, so findet Gabriela Schenk weitere Bilder von Ärztinnen in der populären Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihr Analyseschwerpunkt liegt in Konfliktthematisierungen innerhalb der fiktionalen Welten und den damit verbundenen hypothetischen Wirkungspotenzialen auf die zeitgenössischen Leserinnen (vgl. S. 144). Das ‚Scheitern‘ der Ärztinnen in den literarischen Texten könne unter den gegebenen diskursiven Bedingungen als Überlebens- und Ermutigungsstrategie interpretiert werden. Die dabei identifizierten Narrative umfassen die literarische Konstruktionen von Protagonistinnen als „Medizinstudentinnen, die eigentlich keine sind, Ärztinnen, entweder sehr unattraktiv oder überaus schön und begabt sowie Autoritätspersonen“ (S. 158). Letztlich verwiesen die Romane über vermittelte Konfliktbewältigungsstrategien auf außerliterarische Lösungsmodelle im Umgang mit der sozialen Irritation ‚Frauen(medizin)studium‘.

Im abschließenden Beitrag des Themenkomplexes wendet Virginia Pinto den Blick von der ärztlichen Figur auf „Kranke Protagonistinnen“. Am Beispiel zweier Romane von Gabriele Reuter und Elfriede Jelinek geht sie der Frage nach, welche erzählerischen Mittel eingesetzt werden können, um eine Romanfigur als ‚krankhaft‘ darzustellen (vgl. S. 163). Mit einer Analyse der formalen Erzählstrategien der untersuchten Texte verdeutlicht Pinto, wie über Erzählform und Erzählinstanzen eine Überzeichnung des Verhaltens der Protagonistinnen angesteuert wird. Diese Strategie ziele auf die impliziten Wertsysteme der Rezipient_innen, die möglicherweise eine Abwehrhaltung gegenüber der pathologisierenden Rhetorik aufbauen würden. Denn, so die Autorin nüchtern schlussfolgernd, „der einzige Hoffnungsträger ist der Leser“ (S. 176).

Wirkmacht der Texte

Während der thematische Schwerpunkt des ersten Kapitels explizit auf der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten liegt, werden Fragen nach Geschlecht im folgenden Kapitel eher implizit verfolgt. „Einschlüsse und Ausschlüsse“ rücken in den drei Beiträgen des zweiten Teils titelgebend in den Mittelpunkt. Das zu analysierende Problemfeld sind Machtprozesse der Pathologisierung und die damit verbundenen Identifizierungsmomente. Aus einer Reihe eher schematisch vorgehender Beiträge sticht der Text von Martin Stingelin sowohl inhaltlich als auch stilistisch hervor. In theoretisch fundierter Analyse geht er wechselseitigen Prozessen des Wissensaustausches und der Transformation „zwischen Wahn und Theorie“ (S. 182) anhand von Freuds Krankheitsmetaphern nach. Stingelin spürt dabei ein ‚Mehrʻ an Bedeutung in den literarisch gewendeten Vorgehensweisen und Referenzen Freuds auf. Anhand von Texten des Autors Karl Kraus dokumentiert er den „Kredit“ der Sprachbilder in ihrer produktiven „Rückübertragung“ aus der Freud’schen Psychopathologie. Dieser liege unter anderem darin, dass erst unter Rückgriff auf die Normalitätsmodelle Freuds für individuelle Entwicklungsfreiheiten plädiert werden konnte (vgl. S. 191).

Lotti Wüest fragt anschließend, wie Psychiatriediskurse über Raumrepräsentationen in literarischen Textausschnitten der Autoren Alfred Döblin, Friedrich Glauser, Heinar Kipphardt und Reinald Goetz im 20. Jahrhundert mitstrukturiert werden (vgl. S. 201). Über eine kursorische Betrachtung der narrativen Gestaltungen und darin verarbeiteter Standorte, Perspektiven und Grenzziehungen kommt sie zu dem Schluss, dass sich die Darstellung der Architektonik psychiatrischer Kliniken im Inneren der Texte spiegele. Diese Verräumlichungen zeigten sich an Phänomen der Machtausübung wie sie beispielsweise in der literarischen Bezugnahme auf Diskurse der Psychoanalyse deutlich würden (vgl. S. 219).

Diskursiven Formationen widmet sich auch Dave Schläpfer, indem er bedeutungsbezogene Entwicklungslinien und Brüche im Zusammenhang mit der Metapher der ‚Typhoid Maryʻ beleuchtet. Als „Stereotypenbündel aus den Bereichen disease, race, class und gender“ (S. 225) werde diese Figur einer gefährlichen Person ─ der nicht-erkrankten Überträgerin ─ in diversen Kontexten pathogener Krisen wiedererzählt. Am Beispiel zweier Versionen einer Erzählung von Jürg Federspiel demonstriert Schläpfer auf gelungene Weise die Wirkmächtigkeit des Sprachbildes in Bezug auf ethische Fragen der Schuld sowie die Verhältnismäßigkeit von behördlichen Interventionen.

Die Sprache über Seuchen

Das Spannungsfeld von diskursiven Selbst- und Fremdbezügen wird im dritten Kapitel weiter aufgefächert und auf systematische Mechanismen der „Eskalation und Konsolidierung“ von Seuchen ausgeweitet. Am Beispiel von HIV/AIDS befassen sich die vier Autor_innen mit gesellschaftlich erzeugten Diskursmustern, welche die Sprache über krankheitsbezogene Krisen rahmen. Marco Pulver und Beate Schappach arbeiten in ihren Texten paradigmatische Redeweisen über das Krankheitssyndrom heraus. Pulver formuliert die These, dass die gesellschaftliche Funktion der Seuchenrhetorik in der „Re-Kalibrierung“ von sozialen Positionen und Verhältnissen liege (vgl. S. 259 f.). Er zeichnet die literarischen Wurzeln der Rhetoriken in einer charakteristischen Motivik von Weltzerstörung und -wiederentstehung sowie Strategien der Mystifizierung und Dramatisierung nach. Hieran anknüpfend fokussiert Schappach die Metaphorik als „Ausgangspunkt der genderdifferenten Vertextung von AIDS in der Literatur und im Film“ (S. 293). Über einen systemtheoretischen Analysezugang zu exemplarischen Diskursfragmenten (Präventionsmaterial, dokumentarische als auch autobiographische Texte) verortet sie die Funktion von Bezügen auf ‚Geschlechtʻ und zieht dabei einen kontrastierenden Vergleich: Während das erzählerische Motiv (‚weiblicherʻ) Entsagung und Aufopferung in den deutschsprachigen Textbeispielen auf eine kulturell anschlussfähige Passing-Strategie hinweise, stehe Gruppenengagement und nicht die geschlechtliche Inszenierung im Vordergrund der US-amerikanischen Texte (vgl. S. 310).

Ruth von Rotz untersucht in ihrem Beitrag erzählerische Elemente des krankheitsbezogenen Identitätsfindungsprozesses in Patrick Kokontis’ Erzählung Entgleisungen (2001). Sie rekurriert dabei auf ein (normatives) sozialpsychologisches ‚Phasenmodellʻ der Identitätsfindung und des Coming-Out-Prozesses aus den 1980er Jahren als Referenzrahmen und ergänzt dies um Algirdas Greimas’ semantisches „Modell der drei Prüfungen“ sowie einen erzähltheoretischen Textzugang. Demzufolge äußere sich die Identitätsentwicklung des homosexuellen Protagonisten angesichts dessen Krankheit nicht nur in seiner Verhaltensweise, sondern auch in der bewertenden Haltung der Erzählinstanz (vgl. S. 335). Über eine Kommentierung der jeweiligen Entwicklungsphasen werde der Prozess der Selbstfindung so zwischen Protagonist und Erzählstimme bis zu einer „auch für den Leser annehmbaren Lösung“ (ebd.) ausgehandelt.

Vera Landis analysiert anschließend die identitätsbezogenen Reflexionen eines an AIDS erkrankten Mannes in Hugo Loetschers Erzählung Die Einwilligung (2002). „Die Erzählung zeigt dem Leser die Wirklichkeit einer randständigen Figur, die unerwartete Entscheidungen bezüglich ihrer Krankheit fällt und diese als Möglichkeit erlebt, ihren Werten treu zu bleiben.“ (S. 351) Die so vermittelten Wertstrukturen und die akzeptierende Haltung gegenüber der Krankheit breche nach Landis mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und löse potenziell Irritationen der Leser_innen hervor, die Raum für Gesellschaftskritik ließen (vgl. ebd.).

Krankheit und Gesundheit in populären Medien

Im Mittelpunkt der drei Ausführungen des abschließenden vierten Kapitels ─ vereint unter den Stichworten „Popularisierung und Breitenwirksamkeit“ ─ stehen Krankheitsbezüge in medialen Repräsentationsformen, die auf die Entfaltung von Wissensdynamiken befragt werden. Ingrid Tomkowiak untersucht dementsprechend Wissenschaftsdokumentationen der 1990er Jahre über Forschungen zur Lebensverlängerung. Sie identifiziert Figuren und Motive aus Literatur und Mythologie, die als „Sprachrohr kollektiver Einstellungen“ (S. 356) fungierten, wenn es um naturwissenschaftliche Entwicklungen im Zusammenhang mit der Grenze zwischen Leben und Tod gehe. Die Funktionen dieser Rückgriffe auf Figuren wie etwa den Homunkulus, literarische Versatzstücke aus dem Gilgamesch-Epos oder Filmreferenzen lägen in der unterhaltsamen Kontextualisierung der Forschungen zwischen Faszinationskraft und Schrecken. Eine kritische Auseinandersetzung mit Wissenschaft werde durch die mediale Vermischung von Fakten und Fiktion jedoch letztlich verunmöglicht (vgl. S. 376 f.).

Um Popularisierung ─ in diesem Fall ─ des sexualmedizinischen Wissens geht es ebenfalls im Beitrag von Annika Wellmann, in dessen Zentrum journalistische Medienberichte am Beispiel einer Boulevardzeitung stehen. Sie zeigt anhand der Analyse von Ratgeberrubriken, wie sich die breitenwirksame Aufbereitung von sexualwissenschaftlichen Themen immer stärker auf anwendungsbezogene Kriterien ausrichtete. Der Einsatz effektvoller Sprachspiele und Einblicke in die Gefühlswelten der Lesenden fungiere dabei im Sinne der Leser_innenbindung und generiere zudem einen für das Format spezifischen Bedeutungsmehrwert in Bezug auf das vermittelte medizinische Wissen (vgl. S. 390). Die einhergehende „Wissensbasierung des Sexuellen“ (S. 392) werde dabei zum Ansatzpunkt von Praktiken der alltäglichen Selbstoptimierung.

Zum Abschluss des Bandes geht Sara Lüssi in ihren Ausführungen auf Darstellungen von AD(H)S in Texten der Kinder- und Jugendliteratur ein. Sie geht davon aus, dass medizinwissenschaftliche und literarische Diskurse zu dem Thema stark voneinander abweichen. Die in den untersuchten Texten vermittelte Ablehnung medikamentöser Behandlung und die Forderung nach selbst induzierter Entwicklung der Kinder und Jugendlichen folgten den kulturinhärenten Vorstellungen von natürlicher Ordnung und menschlichen Grenzen (vgl. S. 412). Lüssi folgert in einem anklagenden Fazit im Namen Betroffener: „Inkongruente Ansichten über Ad(h)s können im gültigen Wertesystem nicht plausibel erzählt werden, tut man es trotzdem, so ist das Resultat Unbehagen und Provokation.“ (S. 414)

Fazit

Der Sammelband von Rudolf Käser und Beate Schappach bietet alles in allem ein facettenreiches Spektrum an Anwendungsbeispielen textwissenschaftlicher Analyse zum Verhältnis von Literatur und Medizin, das über den dezidiert kulturwissenschaftlichen Entstehungskontext hinausweist. So hält die Sammlung auch für interdisziplinär angelegte sozial-, sprach- und diskurstheoretisch-orientierte Fachperspektiven eine inspirierende Werkzeugkiste erzählanalytischer Instrumente, innovative Lesarten und Interpretationsvorschläge als auch gesellschaftskritische Fragestellungen zum Diskursfeld bereit. Letztere gründen in dem sozialkonstruktivistisch ausgerichteten Literaturverständnis des Bandes, in dem literarische Texte als „kommunikative Akte“ (Käser/Schappach, S. 9) angesehen werden. Auf dieser Basis lässt sich die sozial-produktive Rolle von diversen Texten (wie Romane, Ratgeberliteratur oder journalistische Darstellungen) für differenzbildende Prozesse um gesundheits- und geschlechtsbezogene Kodierungen befragen.

Die Autor_innen konzentrieren sich dabei in ihren Beiträgen mehrheitlich auf die historisch wandelbaren Bilder des Medikalen im Medium der Literatur. Eine weiterführende Perspektive ließe sich mit der stärkeren analytischen Berücksichtigung der rhetorisch-narrativen Verfasstheit medizinischer Kulturen, ihrer diagnostischen Konzepte und interpretativen Verfahren eröffnen, wie sie z. B. von Martin Stingelin vorgenommen wird. So scheinen in den Analysen einzelner Beiträge normative Konzepte von Identitäts- und Subjektmodellen (wie z. B. Coming Out) durch, die aus dem medizinischen Bedeutungskontext übernommen werden. Eine fruchtbare Ergänzung wäre hierzu der stärkere Einbezug theoretischer Bezüge aus dem interdisziplinären Feld der Gender Studies. Insbesondere die im Band ausgesparten dekonstruktivistischen und queer-theoretischen Zugänge zum Diskursfeld bieten hinsichtlich differenzgenerierender Gesellschaftsnarrative und den Sprachpraktiken des Pathologischen einen breiten Fundus vorhandener Studien und Einsichten. So wird ‚Genderʻ in vielen Texten zwar als dual-konstruktivistische Analyseschablone angelegt, jedoch anders als der Dreiklang aus Literatur, Geschlecht und Medizin im Titel des Bandes vielleicht vermuten lässt, kaum systematisch oder entlang weiterer Differenzierungskategorien positioniert und für die Gegenstandsanalyse theoretisch eingeholt.

Steffen Loick Molina

Deutsches Jugendinstitut

M.A., Soziologie und Gender Studies, Wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut und Promovend am Soziologischen Institut der LMU, München

E-Mail: steffen.loick@soziologie.uni-muenchen.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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