(Un-)Möglichkeiten einer Transnationalisierung feministischer Kritik vom „Standpunkt des Alltags“

Rezension von Heike Kahlert

Iris Mendel:

WiderStandPunkte.

Umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften.

Münster: Westfälisches Dampfboot 2015.

234 Seiten, ISBN 978-3-89691-723-2, € 25,90

Abstract: Die österreichische Sozialwissenschaftlerin und Philosophin Iris Mendel stellt in ihrer nunmehr als Buchpublikation vorliegenden Dissertation einen Entwurf für die Neuvermessung feministisch-sozialwissenschaftlicher Kritik vor. Im Zentrum steht dabei in Anlehnung an die kanadische Soziologin Dorothy Edith Smith die Fokussierung und Weiterentwicklung eines „Standpunkts des Alltags“, den Mendel mit Theorien Schwarzer Frauen sowie des transnationalen und des postkolonialen Feminismus zusammendenkt. Das Ergebnis ist gleichermaßen erfrischend, atemlos und inspirierend, hätte aber durch eine stärkere Fokussierung der Argumentation und mehr empirische Bezüge bzw. Beispiele noch gewinnen können.

DOI: http://doi.org/10.14766/1184

Die umfassende Programmatik der hier zu rezensierenden Dissertation der österreichischen Sozialwissenschaftlerin und Philosophin Iris Mendel umreißt sie selbst wie folgt: „Wenn aus der Perspektive kritischer Sozialwissenschaften Kategorien immer als Teil spezifisch-historischer gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen sind, stellt sich die Frage, inwiefern das begriffliche Instrumentarium feministischer Wissenschaftskritik für eine Analyse gegenwärtiger transnationaler gesellschaftlicher Verhältnisse geeignet ist. Denn einerseits können die Konzepte und Theorien ‚westlicher‘ Feminismen als Teil ungleicher Machtverhältnisse und Austauschbeziehungen nicht einfach in andere Kontexte übertragen werden; andererseits sind diese Konzepte gerade im Zusammenhang intensivierter Globalisierung, in dem Fragen von Rassismus, Imperialismus und Neokolonialismus an Bedeutung gewinnen, auch ‚im Westen‘ auf ihre Angemessenheit zu untersuchen. ‚Westliche‘ feministische Theorie ist nicht nur inadäquat für Frauen im globalen Süden, sondern auch für Frauen im globalen Norden.“ (S. 174)

Mendel sieht Wissenschafts- und Gesellschaftskritik wie auch epistemische und soziale Ungleichheit als eng miteinander verknüpft an. Als Ort, von dem aus die feministische Kritik und Theoriebildung starten soll, identifiziert die Verfasserin in Anlehnung an die kanadische Soziologin Dorothy Edith Smith den Alltag. Gegliedert in fünf Kapitel handelt das grundsätzlich anregende Buch davon, wie vom „Standpunkt des Alltags“ (S. 35) ausgehend feministische Wissenschafts- und Gesellschaftskritik unter transnationalen bzw. globalen Vorzeichen – begrifflich differenziert die Verfasserin hier nicht erkennbar – vorgehen könnte und welche konzeptuellen Hürden dabei wie genommen werden könnten.

Standpunktdenken: Brückenschlag zwischen politischer Praxis und kritischer Theorieproduktion

Der Einfluss der Schriften Sandra Hardings auf die politisch-normative Grundhaltung der Verfasserin ist unverkennbar: „Epistemologien sind aus feministischer Perspektive immer auch politische Projekte.“ (S. 11, Hervorhebung im Original) Soziale Ungleichheiten seien als epistemologisch relevant zu begreifen. Dementsprechend fragt Mendel: „Wie kann das Reflexionspotential feministischer Wissenschaftskritik eine sozialwissenschaftliche Praxis befördern, die Gesellschaft nicht nur beschreiben, sondern in ihren Ungleichheiten auch kritisieren will?“ (S. 11) Wichtig hierfür sei, die epistemologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften hinsichtlich ihrer Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse zu untersuchen und dabei „WiderStandPunkte“ (S. 12) zu suchen. Neben Hardings Arbeiten wird dafür Foucaults Verknüpfung von Macht und Widerstand herangezogen. In dieser Konzeption sieht Mendel die Möglichkeit, „die Brücke zwischen politischer Praxis und kritischer Theorieproduktion zu schlagen“ (S. 13, Hervorhebungen im Original).

Während das erste Kapitel wesentlich dazu dient, die Überlegungen zur „Politik der Epistemologie in den Sozialwissenschaften“ (S. 5) zu entfalten, übt die Verfasserin im zweiten Kapitel recht unerschrocken Kritik an der bisherigen feministischen Wissenschaftskritik. Angesichts der sich transnationalisierenden und globalisierenden (sozialen) Welt seien Erkenntnis- und Gesellschaftskritik auf neue Weise zusammenzudenken, auch im Feminismus. Das Neue an diesem Zusammendenken sieht Mendel darin, über die in den Sozialwissenschaften einsetzende Rezeption feministischer Ansätze hinaus postkoloniale, transnationale und Schwarze feministische Theorie in die Sozialwissenschaften einzuführen. Die feministische Kritik und Theorie könnte hierbei wiederum den Ausgangspunkt bieten und ist folglich laut der Autorin aufgefordert, sich entsprechend selbst weiterzuentwickeln.

Standpunkt(e) des Alltags: Das Private ist politisch – und transnational

Mendel schlägt für die von ihr für notwendig erachtete Weiterentwicklung feministischer Wissenschafts- und Gesellschaftskritik das Ausgehen von „alltäglichen Erfahrungen, Widersprüchen und Kämpfen“ (S. 92) vor. Das dritte Kapitel dient der Ausarbeitung dieser Perspektive: „[D]er Zugang über den Alltag führt feministische Forschung nicht in einen privatistischen Rückzug, der Widerstand und Kritik auf alltägliche Praxen beschränkt und institutionalisierte Herrschaftsverhältnisse unberücksichtigt lässt, wie es insbesondere kulturwissenschaftlich orientierten Gender Studies oft vorgeworfen wird. Im Unterschied dazu ziele ich auf eine Kritik an kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen ab, indem ich die Tätigkeiten der alltäglichen – sozialen und kulturellenRe/Produktion in den Mittelpunkt rücke.“ (S. 94, Hervorhebungen im Original) Im Fokus stehen also die verkörperten Subjekte und deren Tätigkeiten, auch Pflege und Sorge, einschließlich deren politischer und epistemologischer Bedeutung.

Die im Anschluss an Smith eingenommene Perspektive des Alltags, die im vierten Kapitel weiter ausgearbeitet wird, ist nach Mendel des Weiteren mit transnationalen Herrschaftsverhältnissen in Beziehung zu setzen, um neue Begriffsbildungen und theoretische Einsichten zu eröffnen. Zentral hierfür ist nicht nur die Trennung zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit, sondern auch die Tatsache, dass aus den Perspektiven Schwarzer und/oder migrierender Frauen Hausarbeit oft Erwerbsarbeit und unbezahlte Reproduktionsarbeit ist. Alltag meint folglich für ‚weiße‘ bürgerliche Frauen, Schwarze Frauen, Migrantinnen, Frauen des globalen Südens und des globalen Nordens nicht dasselbe. Diese Sichtweise hat auch Konsequenzen für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung, die laut der Verfasserin noch immer weitgehend kolonialen Denk- und Weltbildern verhaftet ist: Die hegemonialen Sozialwissenschaften als spezifische Form institutionalisierter Wissensproduktion beruhten auf einer bestimmten gesellschaftlichen (kapitalistischen, vergeschlechtlichten und rassifizierten) Arbeitsteilung und seien Teil von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, welche vom Standpunkt des Alltags eher bzw. anders in den Blick kommen und kritisiert bzw. reformuliert werden könnten. Einige theoretische Aspekte dieser kolonialen Aufladung der (westlichen) Sozialwissenschaften werden schließlich im fünften Kapitel aus der Perspektive des Alltags umrissen.

Altvertrautes neu gerahmt: Plädoyer für transnationales feministisches Standpunktdenken

Das von Mendel verfolgte Unternehmen einer Neuvermessung feministisch-sozialwissenschaftlicher Kritik wirkt zugleich erfrischend, atemlos und inspirierend: erfrischend in Bezug auf den unerschrocken daherkommenden und doch latent überdimensionierten Anspruch des Entwurfs eines neuen Rahmens für die feministische Kritik, atemlos im Versuch, dieses Projekt zielführend voranzubringen, und inspirierend in den darin liegenden Potentialen für weitere, notwendigerweise präzisierende und erdende Denkbewegungen. Manches ist altvertraut, z. B. die leidenschaftliche Verteidigung standpunkttheoretischen Denkens gegen poststrukturalistische Einwände zur Dislozierung. Insbesondere die Fokussierung auf den Alltag als Ausgangspunkt der Kritik und die Verknüpfungen mit Schwarzen, transnationalen und postkolonialen Denkansätzen sind allerdings innovativ.

Wünschenswert gewesen wären jedoch eine stärkere Bündelung der Argumentation, die zum Teil überflüssige Schleifen dreht und so partiell redundant wirkt, ein expliziter Kompass, der den Weg durch die vielen Verschachtelungen der Gedankengänge der Verfasserin zu bahnen hilft, und eine Art Leitfaden, der eine Umsetzung der Kritikperspektive Mendels auf konkretere empirische – alltägliche (so die Botschaft des Buches!) – Fragestellungen sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung in Zeiten der Transnationalisierung und Globalisierung ermöglichen würde. Möglicherweise hätte hier ein fachbezogenes Lektorat Hilfestellung leisten können, um die sichtlichen Mühen der Verfasserin bei der Verteidigung der Eigenständigkeit ihres Denkens, wie es das akademische Ritual der Dissertation nun einmal verlangt, in der Buchveröffentlichung nicht mehr deutlich werden zu lassen. Umso mehr darf man auf nachfolgende Publikationen der Autorin und auf die weiterführende Rezeption ihrer Denkangebote und deren Übersetzung in die empirische Sozialforschung gespannt sein.

Heike Kahlert

Ruhr-Universität Bochum

Fakultät für Sozialwissenschaft, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie/Soziale Ungleichheit und Geschlecht

Homepage: http://www.heike-kahlert.de

E-Mail: mail@heike-kahlert.de

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