Wie schreibt man Geschichte und Geschlecht?

Rezension von Claudia Daiber

Beate Hochholdinger-Reiterer:

Kostümierung der Geschlechter.

Schauspielkunst als Erfindung der Aufklärung.

Göttingen: Wallstein Verlag 2014.

472 Seiten, ISBN 978-3-8353-1567-9, € 49,90

Abstract: Von geschlechtlichen Einlagerungen in Sprache und deren Funktionen beim Schreiben der Theatergeschichte der deutschsprachigen Aufklärung handelt die von Beate Hochholdinger-Reiterer vorgelegte Habilitationsschrift. Die von ihr aufgedeckten sprachlichen Codes, die als ‚heimliche Archive‘ fungieren, werden auf die durch sie vermittelte symbolische Ordnung der Geschlechter hin analysiert. Prozesse der Literarisierung, Institutionalisierung und Subventionierung führten in dieser Epoche zur Etablierung des ‚einen‘ Theaters. Diese Prozesse verhandelten jedoch gleichermaßen Fragen des Nationalstaates und der Geschlechterordnung mit und konstruierten hinsichtlich letzterer eine ‚patrilineare Genealogie‘, die ‚andere‘ Diskurse mit ‚anderen‘ Ordnungen, die es in den Umbrüchen nachweislich auch gab, stimmlos gelassen haben.

DOI: http://doi.org/10.14766/1185

„Von den Fortschreibungen des Misstrauens, den geschlechtlichen Codierungen und deren Verkörperungen handelt die vorliegende Arbeit“ (S. 29), so äußert sich einleitend und programmatisch die Autorin in ihrer Analyse der Theatergeschichtsschreibung, die sie an der Epochenschwelle Frühe Neuzeit/Aufklärung in den deutschsprachigen Gebieten einsetzen lässt und bis in das postnazistische Österreich fortführt. Schwerpunktmäßig wird diejenige Theatergeschichtsschreibung untersucht, die den Versuch begleitete, ein ‚Nationaltheater‘ unter privater Leitung in der Freien Stadt Hamburg (1767—1769) zu etablieren, ebenso wie diejenige, die die Institutionalisierung des Wiener Burgtheaters als Nationaltheater (ungefähr ab 1750) begleitet. Das Forschungsziel der Autorin besteht darin, in Sprache eingelagerte geschlechtliche Codierungen in der Theaterhistoriografie offenzulegen, deren Zustandekommen anhand von historischen Quellen transparent zu machen und damit vom zeitgenössisch herrschenden Diskurs hervorgebrachte Konstrukte der Theatergeschichtsschreibung als solche zu markieren.

Das Werk, das 2011 als Habilitationsschrift von der Universität Wien angenommen wurde, gliedert sich in drei thematische Hauptteile und in eine überkuppelnde Einleitung. Die drei Hauptteile, so die erklärte Absicht der Autorin, sollen auch als Einzelne verständlich sein und daher losgelöst voneinander, zum Beispiel im Lehrbetrieb, benutzt werden können. Ein innerer Zusammenhang zwischen den drei Hauptteilen ist durch die dargestellte Analyseperspektive gegeben, aber auch dadurch, dass die drei Hauptteile — „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, „Vaterfiguren und Störfaktoren“, „Nation und Erbe“ — chronologisch aufeinanderfolgen.

Literarisierung des Theaters: from page to stage

Im ersten Hauptteil, „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, folgt die Autorin der These, dass geschlechtliche Codierungen der Sprache, einschließlich der damit einhergehenden Formen von Über- und Unterordnung, ihre Anfänge in der Etablierung des griechischen Alphabets haben. Die Entkörperlichung der Sprache in der Schrift und durch die Schrift erlaube es, den Logos als die männliche Repräsentationsform schlechthin zu erfassen, während orale Sprachtraditionen mit ihrer Gebundenheit an das Leibliche als weibliche Repräsentationsform zu imaginieren seien. Dies wiederum lasse eine symbolische Codierung der Geschlechterordnungen in der Sprache zu, bei der konzeptionell eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern zum Nachteil der weiblichen Repräsentationsformen etabliert werde.

Die Autorin sieht diese Hierarchie durch die im 18. Jahrhundert einsetzende Alphabetisierung im Allgemeinen und durch die Etablierung des Literaten-Theaters im Besonderen übernommen und dadurch naturalisiert. Im Hinblick auf die Theatergeschichtsschreibung bedeute dies, dass Traditionen, die an Oralität gebunden sind, das Nachsehen haben, beziehungsweise nur spurenhaft zurückzufinden seien. Folgt man der Argumentation der Autorin, dann wäre es für ihre These naheliegender gewesen, nicht auf die Antike zu rekurrieren, sondern die Ausrichtung der Sprache auf die Schrift hin, vor dem geschichtlichen Hintergrund der Reformation zu eruieren. Bekanntermaßen implementierte diese das sola scriptura-Prinzip, wonach der Glaube durch das in der Bibel geschriebene Wort, vermittelt durch das in der Predigt gesprochene Wort, offenbart wird. Diese paradigmatische Wende hat auch auf dem Terrain des ‚Theaters‘ seine Spuren hinterlassen, und zwar dadurch, dass sie zum Niedergang einer religiösen Aufführungsform insbesondere des ausgehenden Mittelalters, nämlich des geistlichen Spiels, beigetragen hat. Mit anderen Worten, die Reformation hat, ebenso wie das ‚wortzentrierte‘ Theater der Aufklärung, die disziplinierende Gewalt der Schrift entfesselt.

Das ‚Machen‘ von Geschichte impliziert das ‚Machen‘ von Geschlecht

Das zweite Kapitel enthält das Kernstück der Untersuchungen in dem von der Autorin angegebenen historischen Rahmen. Ausgehend von der Annahme, dass „Theater und Schauspiel über das Potenzial verfügen, geschlechtliche Naturalisierungen sowohl einzulösen als auch zu unterlaufen“ (S. 45), stellt Hochholdinger-Reiterer die These auf, dass sich die Mechanismen der Geschlechternaturalisierung an den fundamentalen Umstrukturierungen des Theaters im Verlauf des 18. Jahrhunderts sowie deren historiografischen Tradierungen beobachten lassen.

Hinsichtlich der historiografischen Tradierungen ist das Resultat der quellengeschichtlichen Analyse der Autorin, dass das Theaterprojekt der Aufklärung sich eine „patrilineare Genealogie“ (S. 155) geschrieben hat. Diese wiederum hat geschlechtliche Codierungen benutzt und damit einen Prozess der Naturalisierung der Geschlechter auf das Ideal der Aufklärung hin vorangetrieben. Damit dekonstruiert die Analyse einerseits das diskursive ‚Machen‘ dieser ‚patrilinearen Genealogie‘, andererseits wird die Existenz anderer ‚stimmlos‘ gemachter Diskurse nachgewiesen. In diesem Sinne schreibt die Autorin eine Gegen-Geschichte zur ‚patrilinearen Genealogie‘, wie die Theaterhistoriografie der Aufklärung sie vermittelt.

Anknüpfend an die Schlussfolgerung aus dem ersten Kapitel, dass nämlich die Schauspielkunst der Aufklärung sich auf Kosten anderer, an der Oralität orientierter, Theaterformen etablierte, bedeutet dies, dass das Theaterprojekt der Aufklärung die Textverfasstheit der Schauspielkunst einforderte. Konkret verlangten die Literaten des aufklärerischen Theaters von den Schauspielern, die gelieferten Texte aufzuführen und keine durch Oralität geprägten Adaptionen von diesen, ganz zu schweigen von körperorientierten Produktionen aus dem eigenen Archiv der Schauspieler. Demzufolge war dann auch bezeichnenderweise das Memorieren der Texte ein ständiger ‚wunder‘ Punkt, der zu Konflikten führte und bisweilen eine Verweigerungshaltung der Schauspieler hervorrief.

Hochholdinger-Reiterer widmet einen umfangreichen Teil ihrer Analyse dem Schauspieler Conrad Ekhof (1720—1778). Es gelingt ihr anhand von Quellenmaterial einerseits den Status von Ekhof als „Gründungsvater“ (S. 162) der Schauspielkunst zu dekonstruieren, andererseits den Gegen-Geschichten (!) in dem Diskurs um die Etablierung eines ‚Gründungsvaters‘ eine Stimme zu geben. Im Einzelnen fördert die Untersuchung zutage, dass der Schauspieler Ekhof erst posthum mit der Bezeichnung ‚Vater‘ belegt wurde. Mit anderen Worten, die ‚Macher‘ der Theatergeschichte führten die männliche Codierung schlechthin in den Diskurs ein, wobei die Bezeichnung ‚Vater‘ im weiteren Verlauf des ‚Machens‘ von Theatergeschichte zum Urheber, Stifter und letztlich zur Symbolgestalt der bürgerlichen Schriftlichkeit gesteigert wird.

Die Autorin fördert mehrere Faktoren zutage, die diesen Status des ‚Gründungsvaters‘ und die damit einhergehende männliche Codierung als die ‚einzig mögliche‘ und damit als die ‚natürliche‘ vermittelt haben: So war eine der Paraderollen Ekhofs die ‚bürgerliche‘ Vaterfigur des Odoardo in Gotthold Ephraim Lessings Bühnenstück Emilia Galotti. Damit passte Ekhof ganz offensichtlich in das für ihn von der aufkommenden Gruppe der Literaten und Dramaturgen ‚in Schrift‘ bereitgestellte Kostüm. Wie sah dieses Kostüm aus, das dem Schauspieler Ekhof im Theaterprojekt der Aufklärung angepasst wurde? Indem das Theater der Aufklärung (im Verlauf des 18. Jahrhunderts) sich auf einer gesellschaftlichen Ebene gegen die in der Tradition der Oralität und Nichtsesshaftigkeit stehende Wandertruppenstruktur ebenso wie gegen das höfische und damit feudale (Dilettanten-)Theater abgrenzte, ist es ein identitätsstiftendes Medium des sich konstituierenden Bürgertums geworden. Damit wurde der öffentliche Bühnenraum mit einem bürgerlichen Familienideal besetzt, das eine patriarchalische Vaterfigur aufwies. Die Figur des Odoardo repräsentiert diesen ‚Vater‘, und der Schauspieler Ekhof vermittelte ihn. Die am bürgerlichen Ideal ausgerichtete Theaterhistoriografie verlangte eine derartige Vaterfigur und stilisierte sie daher weiter in ihrem Sinne. Demzufolge wurde sowohl die bürgerliche Theaterliteratur als auch die sie vermittelnde Schauspielkunst männlich codiert. Paradoxerweise hat die Theatergeschichtsschreibung diese Verbindung mit der Metapher der bürgerlichen, und daher idealen, Liebesehe belegt.

Welche Gegengeschichten bot die historische Situation? Die Untersuchung der Autorin ergibt, dass in Bezug auf die Installation einer Gründungsfigur des bürgerlichen Theaters mindestens drei historische Personen zur Verfügung standen, nämlich die als ‚Neuberin‘ bekannte Schauspielerin und Prinzipalin Carolina Neuber (1679—1760), der ‚aus bäuerlichen Verhältnissen‘ stammende Prinzipal Konrad Ernst Ackermann (1710/1712—1771) und Johann Christoph Gottsched (1700—1766), welcher Professor für Poetik, Logik und Metaphysik an der Universität Leipzig war. Die (eventuellen) Gründe für die Ablehnung dieser drei historischen Personen sollen hier nicht referiert werden, doch macht dieser Befund deutlich, dass die Realität divers war. Diesen Eindruck vermittelt die gesamte Quellenanalyse der Autorin, was zwar das Lesen des Werkes bisweilen etwas mühsam macht, andererseits aber in jedem Fall dem Eindruck entgegenwirkt, dass die Befunde glattgebügelt wurden, um in das Narrativ der Autorin zu passen.

Nicht jeder Gedankengang, den Hochholdinger-Reiterer einführt, ist jedoch derart überzeugend wie das eben Dargestellte. So versucht sie sich der Frage anzunähern, warum eine Vaterfigur, im Gegensatz zu einer Mutterfigur (oder gar einer Elternfigur — eine Formation, die die Autorin nicht in Betracht zieht), installiert wurde. Sie im Rückgriff auf die Moses-Studien Sigmund Freuds beantworten zu wollen, erscheint zum einen als eine tautologische Argumentation, da dessen Schriften sich ausschließlich innerhalb eines phallozentrischen Paradigmas bewegen, zum anderen gleitet die Frage mit diesem Rückgriff auf ein empirisch nicht nachprüfbares Feld ab. Viel naheliegender wäre es, in diesem Kontext die verbreitungsbezogene Wirkung der sich zu dieser Zeit etablierenden Massenmedien in Betracht zu ziehen und den Einfluss, den die ‚Macher‘ der Theaterhistoriografie auf diese Medien hatten, zu untersuchen. Eine Tatsache, die auch die Autorin mit dem vielfachen Hinweis auf den Gothaer Theater-Kalender und seine geschlechtliche Codierung durch Text- und Bildmaterial betont.

Im letzten Teil dieses Kapitels, das den unzweideutigen Titel „Störfaktor Schauspielerin“ trägt, wird das ‚Machen‘ von Geschichte und Geschlecht spezifisch auf die weibliche Schauspielerin hin untersucht. Die Analyse weist hier insbesondere auf texteditorische Eingriffe in Ego-Dokumente von weiblichen Schauspielerinnen hin. Dies, so die zutreffende Schlussfolgerung, führt bereits auf der materiellen Ebene der Texte zu einer Theatergeschichtsschreibung, durch die eine symbolische Geschlechterordnung bestätigt wird, die mit einem literarischen Theater korrespondiert und damit andere Formen verdrängt.

Ideologie und Theater

Im dritten Teil werden diejenigen Prozesse beschrieben und analysiert, die das bürgerliche Theater an den Nationalstaat koppeln. Hochholdinger-Reiterer untersucht in diesem Zusammenhang die überaus interessante geschichtliche Konstellation, die dem bürgerlichen Theater maßgeblich zu seinem Siegeszug verhalf: eine begünstigende Kombination öffentlicher Haushaltssteuerung und politischer Umstände. Auf der einen Seite musste sich ein regierender Hof im aufgeklärten Absolutismus von seinem teuren Hoftheater trennen, zum anderen war das Theater die geeignete ‚Anstalt‘, um ein Bürgertum, welchem die politische Teilhabe verwehrt war, an einer ‚deutschen Kulturnation‘ (vgl. S. 396) teilhaben zu lassen und ihm auf diesem Wege die Illusion einer quasi-politischen Teilhabe zu vermitteln. Dies äußerte sich unter anderem im Schreiben einer Theaterhistoriografie, die das Nationale profilierte, während andere Phänomene, die sich nicht in dieses Profil einordnen ließen, verschwanden, im Randbereich zurechtkamen oder ideologisch umgeschrieben wurden. Der ideologische Zugriff wurde mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nationalistisch und dann nazistisch. Das Ende des dritten Kapitels liest sich demgemäß auch wie ein Beitrag zur nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung in der Theatergeschichtsschreibung. Unter dem Aspekt der Einlagerung von geschlechtlichen Codierungen in Sprache ist das unzweideutige Ergebnis der Analyse, dass der nationalistische wie auch der nazistische Sprachgebrauch weibliche Codierungen in die Sprache eingelagert hat, die vollständig ideologisiert sind und damit komplett losgelöst von irgendwelchen historischen Realitäten.

Fazit

Ist das Buch gelungen? Jedenfalls konnte die Autorin das, was sich bisher als Geschichte ‚des Theaters‘ der Aufklärung andiente, im Hinblick auf seine geschlechtlichen Codierungen in der Schrift transparent machen. Ist das Schreiben der Gegengeschichten (!) gelungen? Das Schreiben einer Geschichte, die sich (teilweise) in der Oralität tradiert, erfordert einen veränderten Fragehorizont, der, und darin ist der Autorin zuzustimmen, nach den Störfaktoren, den Unebenheiten im überlieferten Textkosmos fragen muss. Auch dies ist geglückt. In diesem Zusammenhang eröffnet die Arbeit auch die Frage, inwiefern ein Theater, das, so wie zum Beispiel das postdramatische, ohne Textkosmos auszukommen vorgibt, geschlechtliche Codierungen benutzt und wie eine diesbezügliche Theaterhistoriografie aussieht.

Claudia Daiber

Dozentin Duitse taal en cultuur, Universität Amsterdam

E-Mail: claudia.daiber@gmail.com

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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