Frauenbewegung und Zivilgesellschaft in Russland

Rezension von Ilka Borchardt

Britta Schmitt:

Zivilgesellschaft. Frauenpolitik und Frauenbewegung in Russland.

Von 1917 bis zur Gegenwart.

Königstein im Taunus: Ulrike Helmer 1996.

420 Seiten, ISBN 3–927164–97–6, € 25,80

Abstract: Mit diesem Buch liegt nicht lediglich eine weitere Arbeit über die russische Frauenbewegung vor, sondern eine, die tatsächlich einen Beitrag zur Verbindung von Theorie und Empirie in der Frauenforschung leistet. Die aktuelle Frauenbewegung als zivilgesellschaftlicher Aktionsrahmen wird vor dem Hintergrund individueller und kollektiver Lebensentwürfe der Aktivistinnen untersucht.

Britta Schmitt bearbeitet das Thema „lebensgeschichtlicher Hintergrund und persönliche Lebensentwürfe“ (S. 251) russischer Aktivistinnen auf drei bereits im Titel angedeuteten Ebenen. Die formale Gliederung folgt diesem Ansatz: ein gesellschaftspolitisches Modell (Zivilgesellschaft) bildet den theoretischen Hintergrund; der zweite Teil (Frauenpolitik) ist historisch-deskriptiv, die empirische Untersuchung (der Frauenbewegung) mündet in Prognosen für die zukünftige identitätspolitische Entwicklung der russischen Gesellschaft. Im Anhang finden sich die Dokumentation eines Fragebogens und die Antworten von 51 Teilnehmerinnen des Zweiten Unabhängigen Frauenforums in Dubna 1992.

Zivilgesellschaft

„Die Entstehung sozialer Bewegungen hat […] in jeder Gesellschaft die Etablierung von Zivilgesellschaft […] zur Voraussetzung oder ist von der Herausbildung einer solchen zivilgesellschaftlichen Sphäre begleitet.“ (S. 17) Die „Zivilgesellschaft“ bildet einen „gesellschaftlichen Raum freien assozionalen Lebens.“(ebd.) Sie steht zwischen den sozialen Institutionen Staat und Familie. In der Familie wird nicht argumentiert und ausgehandelt. Als Sphäre der Fürsorge gehört sie daher nicht zur Zivilgesellschaft. Veränderungsimpulse müssen also von der Zivilgesellschaft ausgehen. (Vgl. S. 45 f.)

Schmitt untersucht dieses Konzept von „Beziehungen bewusster Assoziation, von Selbstorganisation und organisierter Kommunikation“ (S. 21) auf seine Anwendbarkeit für russische, post-sowjetische Realitäten, die von einer jahrzehntelangen Einparteien-Herrschaft geprägt sind. In der UdSSR sind Reformen durchgeführt worden, „die Frauenrechte, Lebensumstände, Möglichkeiten aber v. a. auch Pflichten von Frauen beträchtlich erweitert haben, die dabei das „Universum der politischen Diskurse“’ aber nicht erweitert und auch die Identitäten von Frauen nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße verändert haben“. (S. 59 f.) Von der Existenz einer Zivilgesellschaft in der Sowjetunion könne, so Schmitt, nicht die Rede sein.

Die gender-Subtexte der Handlungssphären in (Sowjet-)Russland seien auf andere Weise als in West-Europa zu interpretieren. Immerhin seien sie in der Privatsphäre noch ähnlich, es falle aber schwer, für die Rolle des „citoyen“ ebenso wie für die entstehende zivilgesellschaftliche und die öffentliche Sphäre einen männlichen gender-Subtext anzunehmen. „Der Bereich, der vor der Perestrojka eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit der westlichen zivilgesellschaftlichen Sphäre hatte, d. h. der Bereich halbstaatlicher gesellschaftlicher Organisationen, wie etwa die Gewerkschaft oder der Komsomol, war durch den Einparteienstaat vereinnahmt und kontrolliert. Demselben paternalistischen Joch unterworfen konnten hier Frauen und Männer gleichermaßen auftreten und sich öffentlich äußern.“ (S. 60)

Hier deutet sich ein grundlegendes Problem an, dessen Relevanz Schmitt im Folgenden mehrfach aufzeigt: Die in der sowjetischen Öffentlichkeit propagierte Gleichheit der Geschlechter mit realen Unterschieden in den Lebensumständen führt(e) zu einer „lebensweltlichen Maskerade“ auf der institutionellen Ebene der Lebenswelt. Diese resultierte in einer stärkeren Verbindlichkeit sozialer Normen und Werte in Primärgruppen, Familien und Freundeskreisen. Demzufolge dien(t)en „Primärgruppen“ der Konservierung von Werten. (Vgl. S. 65 ff.) Entsprechend müssen die gender-Subtexte hier stärker ausgeprägt sein.

Frauenpolitik

Es existierte bereits eine Fülle an Literatur über sowjetische Frauenpolitik. Schmitt bietet noch einmal eine historiographische Zusammenstellung. Sie unterteilt den Zeitraum von 1917 bis zur Gegenwart (unter Jelzin) in fünf chronologische Abschnitte. Dabei orientiert sie sich im Wesentlichen an den Regierungszeiten einzelner Staatsführer. Für jede dieser Perioden arbeitet die Autorin Leitmotive bzw. Richtlinien der Politik heraus, die nicht nur auf die Lebensumstände von Frauen wirk(t)en, sondern auch auf das (Selbst-)Verständnis und die Vorstellungen von einem den Geschlechterrollen entsprechenden Verhalten.

Der wichtigste Aspekt der offiziellen sowjetischen Frauenpolitik ist die „Reproduktionspolitik“, die Diskussionen um den Schwangerschaftsabbruch, die die Förderung von Mutterschaft und die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Arbeit einschließt. Da tatsächlich ein großer Teil der Politik in erster Linie auf rhetorischer Ebene „realisiert“ wurde, ist Schmitts Analyse der politischen Rhetorik für jede einzelne Phase von Bedeutung. Die Diskontinuitäten im Umgang mit Mutterschaft, Anrufung oder Negierung einer „besonderen weiblichen Kultur“, wirtschaftliche, rechtliche Erleichterungen oder Hindernisse für außereheliche Mutterschaft und Ehescheidung dienen der Autorin dabei als Ausgangspunkt für eine empirische Untersuchung der aktuellen Frauenbewegung vor dem Hintergrund des theoretischen Modells der Zivilgesellschaft.

Frauenbewegung

„Voraussetzung für jede frauenbewegte Identitätspolitik sind jedoch die persönlichen Werte und Orientierungen der Bewegungsakteurinnen selbst. Diese Orientierungen sind m. E. maßgeblich von den jahrzehntelangen demographisch, ideologisch und ökonomisch motivierten Normierungsversuchen des Staates geprägt worden und werden heute durch eine vielfältige zivilgesellschaftliche Diskussion zur Frauenfrage beeinflusst, die ebenfalls Spuren der sowjetischen Vergangenheit trägt.“ (S. 249 f.)

Unter russischen Aktivistinnen lassen sich daher im Wesentlichen zwei Pole identitätspolitischer Ausrichtungen feststellen: so genannte „traditionelle“ (oft auch mit „slavophilen“ gleichgesetzt) und individualistische (vergleichbar westlichen feministischen Ansätzen). Diese beiden Extreme stellen Strategien gegen den bereits erwähnten Widerspruch zwischen propagierter Gleichheit und erlebten Unterschieden zwischen den Lebensrealitäten der Geschlechter dar.

Im Anhang finden sich u. a. die Dokumentation des Fragebogens und die übersetzten Antworten der Teilnehmerinnen des Zweiten Unabhängigen Frauenforums in Dubna 1992. Diese Daten systematisiert Schmitt anhand von sechs Aspekten lebensgeschichtlicher Werte. Mit dieser Strukturierung gelingt es der Autorin, einen großen Bereich weiblicher Erfahrungen innerhalb einer Gesellschaft zu erfassen und zu analysieren. So gehören die „Wahl der Lebensform“ als Ausdruck einer sehr persönlichen Ebene ebenso dazu wie die allgemeinere „Politik der Weiblichkeit“ oder „Vorstellungen von Frauenpolitik, Frauenbewegung und Feminismus“.

Schlussbemerkungen

Schmitt schafft es mit bisher seltener Konsequenz, Gesellschaftstheorie, Historiographie und Empirie zu verbinden. Das Phänomen der Betonung traditioneller Geschlechterrollen und das aktuell zu beobachtende Wiederaufleben entsprechender Beziehungen zwischen den Geschlechtern in Russland wird auf dem Hintergrund ihrer Arbeit verständlicher. Auch wenn ihr Sample mit 51 befragten Aktivistinnen relativ klein ist, bietet es doch sowohl hinsichtlich der geographischen als auch der beruflichen Herkunft der Frauen einen Überblick über die Verteilung und Einflusssphären frauenpolitischer Organisationen.

Damit dürfte eine erste Grundlage geschaffen sein für eventuell folgende Forschungen zu diesem Thema, die wiederum der Frauenbewegung Ansätze für die Anpassung politischer Strategien und die Ausweitung ihrer identitätspolitischen Ziele bieten könnten.

URN urn:nbn:de:0114-qn031164

Ilka Borchardt

Freie Universität Berlin

E-Mail: semykina_ilka_1999@yahoo.de

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