Mechthild Koreuber:
Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra.
Zur Geschichte einer kulturellen Bewegung.
Berlin/Heidelberg: Springer Spektrum 2015.
368 Seiten, ISBN 978-3-662-44149-7, € 34,99
Abstract: Dieses Buch bietet eine sorgfältige Analyse der Arbeitsweise Emmy Noethers und ihrer Wirkung auf die zeitgenössische mathematische Disziplin bis zur Herausbildung der modernen Algebra. Mechthild Koreuber zeigt, auf welche Weise sich von der Mathematikerin ausgehend eine wissenschaftliche Schule bildete, obgleich sie nie die institutionellen Voraussetzungen dazu aufwies. Insbesondere werden die sozialen Voraussetzungen und Wirkungsweisen in den Blick genommen, die bei der Verfertigung mathematischer Forschung als auch bei der Bildung von und dem Bruch mit Denktraditionen bedeutsam sind.
Der Kombination an fachlichen Verschränkungen ist es vermutlich geschuldet, dass die Lektüre dieser Arbeit von Mechtild Koreuber einige Herausforderungen bereithält. Die in dem Buch behandelten Fragestellungen sind im wirklichen Sinne interdisziplinär, indem sie nicht weniger als mathematische, mathematikhistorische, historiographische und wissenschaftssoziologische Kenntnisse voraussetzen und vermitteln; außerdem werden, wenn auch sparsamer, Perspektiven der historischen Frauen- und Geschlechterforschung berücksichtigt. Aufgeteilt in fünf Kapitel, nebst einer knappen Einleitung und einem ebenso kurz gehaltenen Resümee enthält das Buch, den Anhang nicht eingerechnet, 300 breite, relativ dicht beschriebene Seiten Text. Ein erster Tipp an die geneigten Leser*innen wäre, Anfang und Ende vorab zu lesen. In der Einleitung wird ein ausführlicher Überblick über die Kapitel gegeben, im Resümee werden schließlich „Leselinien“ empfohlen, die als Anregungen verstanden werden sollen, sich auf dem je eigenen fachlichen Hintergrund mit dem Buch zu befassen.
Diese Rezension wird aus der Sicht einer Sozialwissenschaftlerin geschrieben, weshalb auch eine sozialwissenschaftlich vorgeprägte ‚Leselinie‘ zu Tage treten wird. Dazu gehört auch, dass die Korrektheit der einbezogenen biographischen Daten vorausgesetzt wird und keiner kritischen Beurteilung unterzogen werden kann. Des Weiteren werden Aspekte hervorgehoben, die für Forscher*innen interessant sind, welche sich mit dem sozialen Zustandekommen epistemischer Umbrüche in disziplinären Feldern beschäftigen.
Obgleich der Name ‚Noether‘ im Titel prominent platziert ist und sich die gesamte Studie letztlich auch um Emmy Noether als Angelpunkt dreht, handelt es sich nur eingeschränkt um eine biographische Herangehensweise an ein Phänomen, das von Koreuber als „kulturelle Bewegung“ herausgearbeitet wird: Es geht um die Entstehung und Entwicklung eines ‚Denkraumes‘ (nach Ludwig Fleck) und eines damit unauflöslich verbundenen Wissensgebietes, das der modernen Algebra. Die Autorin arbeitet insofern sozialwissenschaftlich, als sie die sozialen Grundlagen eines Denkstilumbruchs in der mathematischen Forschung anhand der Entwicklung der modernen Algebra und seines Ausgangspunktes, der „Noether-Schule“, nachvollzieht und analysiert. Moderne Algebra wird als „begriffliche Mathematik“ vorgestellt, ein Ausdruck, der von Noether selbst eingeführt und genutzt wurde. Noch heute fänden sich, so die Autorin, zur Charakterisierung der Noether’schen Mathematik die Beschreibungen „abstrakt, modern und axiomatisch“. Für eine genaue Analyse der Arbeits- und Forschungstätigkeit Noethers seien diese Begriffe jedoch „wenig hilfreich“ (S. 71 f.). Ihre Mathematik war „begrifflich“, sogar „rein begrifflich“, wobei die Begriffe selbst zu Forschungsgegenständen wurden, die durch eben die „begriffliche Methode“ weiterentwickelnd untersucht werden konnten. Dazu die Autorin: „Für Noether sind Begriffe zugleich Untersuchungsgegenstand und Werkzeug.“ (S. 73) Gerade dieser Umstand mache die „Noether-Schule“ zur wissenschaftstheoretischen Herausforderung, denn es gehe hier nicht um eine neue Art mathematischer Beweisführung, vielmehr um neue „Arbeits- und Auffassungsmethoden“, welche von Koreuber als „dialogisch“ charakterisiert werden. Ein, wenn nicht der zentrale Satz, um den die gesamte Untersuchung kreist, ist das folgende Zitat Noethers, das aus einem Brief an ihren Kollegen Helmut Hasse stammt, dessen Rolle ebenfalls als eine zentrale für die Mathematikerin angesehen werden kann:
„Meine Methoden sind Arbeits- und Auffassungsmethoden, und daher anonym überall eingedrungen.“ (Noether an Hasse 12.11.1931)
Koreuber zitiert diesen Satz mehrfach, er bildet das Motto des zweiten Kapitels („Begriffliche Mathematik“) und er ist letztlich die konzentrierte Form der Beschreibung der paradoxen Position Noethers im Feld der zeitgenössischen mathematischen Disziplin: Diese war gleichzeitig extrem einflussreich und extrem marginalisiert. Wie kann das sein?
Um das zu beantworten, hilft zunächst ein Blick auf Noethers biographische Stationen und eine zeitgenössische Einbettung ihrer Arbeit. Dies geschieht im ersten Kapitel, dessen Titel „Biografische Annäherungen“ bereits darauf hinweist, dass die Autorin es sich nicht leicht damit machen wird. Um keine ‚biographische Illusion‘ zu (re-)produzieren, arbeitet sie mit biographisch konstruierten Textformen, die sie als Quellen analysiert und vergleicht. Die Lesenden erfahren dabei nebenbei, „wie lebens- und werksbiografische Elemente miteinander verbunden sind“ (S. 18). Die Autorin nutzt zunächst das Genre der Nachrufe, um „kritisch-reflektierende Fragen aufzuwerfen“ (S. 2), die vor allem verzerrende Sichtweisen auf Noether und ihr Werk betreffen. So steht der offenbar besonders prominente Nachruf von Hermann Weyl in der Kritik, da seine biographische Konstruktion, die u. a. eine „Periodisierung des Werks“ vornahm, den Blick auf eine wesentlich offenere Lesart verstellten ─ und zwar, so die Autorin, nachhaltig: „Seine Interpretation der Arbeiten Noethers“ erwies „sich als äußerst stabil.“ (S. 7) Die zweite Textform ist ein von Koreuber selbst zusammengestelltes, als Dokument fiktives, in den Daten aber quellengetreues Curriculum Vitae. Daraus ergibt sich „schnörkellos“ (S. 9) in tabellarischer Form ein komprimierter Blick auf die Lebensgeschichte der Mathematikerin, auf dessen Grundlage die Autorin zunächst die Besonderheiten und Brüche benennt, die sich augenfällig daraus ergeben: So wuchs Emmy Noether, geboren 1882, als Tochter des Mathematikers Max Noether in einer „assimilierten gutbürgerlich-jüdischen Familie“ (S. 12) in Erlangen auf. Sie entschloss sich nach einer 1900 abgeschlossenen Lehrerinnen-Ausbildung Mathematik zu studieren. Von ihrem Vater wurde sie unterstützt, vor allem finanziell. Dies war auch notwendig, denn Emmy Noether erhielt über lange Zeit für ihre berufliche Tätigkeit kein Entgelt. Ihr Antrag auf Habilitation wurde zweimal abgelehnt, erst der dritte Antrag wurde, unterstützt durch ihre akademischen Lehrer und keinen Geringeren als Albert Einstein, per Sondererlass genehmigt. Professorin wurde sie in Deutschland nie, obgleich sie viele ihrer Schüler bis zu einer solchen Position begleitete und förderte und obwohl sie kontinuierlich forschte, lehrte und Dissertationen betreute, selbst publizierte, regen Austausch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft pflegte und ab den späten 20er Jahren internationale Anerkennung erlangte. „Mit zäher Energie“, so der Mathematiker van der Waerden (zit. nach Koreuber, S. 179) in seinem unterstützenden Gutachten für Noether, als diese durch die Nationalsozialisten 1933 ein Lehrverbot erhielt, habe sie an „ihren eigenen Methoden und Problemstellungen festgehalten“, obgleich diese nicht sofort Anklang fanden, und nicht einmal das ausgesprochene Lehrverbot hielt sie davon ab, ihre Schüler weiter in ihrer Wohnung zu unterrichten ─ in ihrer „Noethergemeinschaft“, wie sie selbst schrieb.
Diese lebensgeschichtlichen „Annäherungen“ tragen zum Verständnis dessen bei, was im Zentrum der hier besprochenen Arbeit steht oder zumindest einen wesentlichen Teil ausmacht: die Entwicklung einer wissenschaftlichen Schule und die Ausbreitung einer „kulturellen Bewegung“ innerhalb der mathematischen Disziplin, die von dieser Schule ausging. Der unbeugsamen Hartnäckigkeit, mit der Emmy Noether ihre Mission verfolgte, ihrer vollkommenen Hingabe an den Gegenstand ist es vermutlich zuzuschreiben, dass ihre Denkweise von einer marginalen Position aus dennoch das Feld nachhaltig beeinflusste und veränderte. Die „Noether-Schule“, so weist Koreuber im vierten Kapitel nach, ist durchaus eine Wissenschaftsschule im formalen Sinne gewesen, trotz der geringen institutionellen Etablierung der Namensgeberin. Aber sie war noch viel mehr, meint die Autorin, der der Begriff „Schule“ als analytisches Werkzeug untauglich erscheint. Für das „Verständnis des inneren Gefüges der Noether-Schule“ (S. 197) zieht sie vielmehr die von Ludwik Fleck stammende Bezeichnung „Denkraum“ heran und begründet dies, indem sie die ebenfalls Fleck’schen Konzepte von „Denkkollektiv“ und „Denkstil(en)“ einführt. „Begriffliche Mathematik stellt sich als eine Denkweise und Geisteshaltung heraus, die in besonderer Weise Denkkollektive und Denkstile verbindet.“ (S. 198) Damit sei die Noether-Schule zu einem „Ort, der Denkstile verbindet, der neues Denken erlaubt und befördert“, geworden (ebd.). Noethers Rolle bestand darin, „diesen Raum herzustellen“ (S. 199). Gerade die Eigenart dessen, was diesen Denkraum ausmachte, ─ indem er nämlich eine „Loslösung von etablierten Denkrichtungen“ nicht nur ermöglicht, sondern „einfordert“ (ebd.) ─ trug wohl, so versteht man jetzt, dazu bei, dass die „Arbeits- und Auffassungsmethoden“ der Wissenschaftlerin „anonym überall eingedrungen“ sind. Gleichzeitig erlebte eine junge Generation von Mathematiker*innen (vorwiegend männlich) diesen durch Noether hergestellten Raum als Befreiung von althergebrachten und zu eng gewordenen Denktraditionen. Über ihre Schüler gelangte die neue Denkweise hinaus in die Welt.
Als eigentlich konstitutives Element des Denkraums der Noether-Schule macht Koreuber „das dialogische Prinzip“ aus. Noethers Denken, die begriffliche Mathematik als solche, waren zu ihrer Zeit suspekt, es galt als abweichendes Denken, als „nicht fruchtbar“, letztlich, weil die meisten Kollegen nicht daran anknüpfen konnten. Somit, argumentiert Koreuber, ist die dialogische Form, in der die Mathematikerin ihre Texte verfasste, einerseits ein eigener Denkstil, andererseits eine „Überzeugungsstrategie“ (S. 97). Sie war ihr Versuch, sich konventioneller Denkweisen zu bedienen, um aus ihnen „Brücken zum Unkonventionellen“ zu bauen (S. 98). Allerdings lasse sich das dialogische Prinzip nicht nur in ihren Texten nachweisen, sondern zeige sich vierförmig: im Schreibstil einerseits, in den Methoden, in ihrem Lehrstil und in der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen (vgl. S. 203). Das Dialogische schließlich begründet auch, weshalb Noethers Ideen sich von ihrem Namen entkoppelten, „anonym überall eindrangen“ und somit ─ trotz der zeitgenössischen Anerkennung, die ihr durchaus zuteilwurde ─ letztlich nicht als ihr originär zugeschriebene Neuerung, sondern als eine „kulturelle Bewegung“ mehr als eine Mathematiker*innen-Generation erfasste. Zudem verdankt sich dieser dialogischen Arbeitsweise Noethers, dass es Koreuber gelingt, aus der Korrespondenz mit Hasse und Brauer die Verfertigung eines mathematischen Theorems zu rekonstruieren (ausführlich im dritten Kapitel behandelt).
Mechtild Koreubers umfassende Beschäftigung mit den Inhalten, den sozialen Zusammenhängen und den epistemischen Grundlagen des Noether’schen Werks und seiner Wirkung ermöglicht einen tiefgreifenden Einblick darin, wie neue Denkformen entstehen und wie sie sozial transportiert werden. Dazu bedient sich die Autorin einer Reihe von Konzepten, theoretisch-begrifflichen Hilfsmitteln, um ihrem vielfältigen Gegenstand auf die Spur zu kommen (die Bezüge reichen dabei von Bachtin über Cassirer bis zu Fleck, Rheinberger und Geertz). Als Sozialwissenschaftlerin vermisst die Leser*in dabei lediglich die Ansätze konstruktivistischer wissenschaftssoziologischer Forschung, was der interdisziplinär angelegten Arbeit jedoch kaum vorzuwerfen ist. Schwerer wiegt, dass auch Ansätze der Geschlechterforschung nur randständig eingeflochten werden, obgleich es vielfältige Anknüpfungspunkte gegeben hätte (zum Beispiel in der oben beschriebenen marginalisierten und gleichzeitig zentralen Stellung Noethers für die moderne Algebra).
Wenn es etwas gibt, was das Lesevergnügen, nicht aber den Erkenntnisgewinn, zuweilen trübt, so ist es die Anlage der Kapitel, die zu mehrfachen Wiederholungen führt. Grundsätzliche Analysen könnte man sich auch kürzer und pointierter vorstellen, eine etwas dichtere „Beweisführung“ in einem Guss wäre lesefreundlicher. Vorteilhaft ist daran allerdings, dass jedes Kapitel auch ohne die anderen auskäme, es sich also um unabhängig voneinander existenzfähige Texte handelt. Sie sind aber nicht zusammenhanglos, im Gegenteil, alle Kapitel sind vollkommen durchgearbeitet und enthalten jeweils Verweise auf andere. Hervorzuheben ist auch der reichhaltige Anhang mit den Kurzviten derjenigen, die zur Noether-Schule zu zählen sind (wobei diese Zurechnung nicht selbstverständlich ist, sondern von Koreuber erst herausgearbeitet wird); des Weiteren sind einige erhaltene Gutachten Noethers zu Dissertationen sowie sehr aussagekräftige Fotografien, die die Mathematikerin in verschiedenen Lebensaltern und teilweise im Kreise ihrer nahen Kollegen und Kolleginnen zeigen, abgedruckt. Das alles ist sehr wohlbedacht und mit liebevoller Sorgfalt ausgewählt. Umso ärgerlicher ─ und dies ist an die Adresse des Verlages gerichtet ─, wenn einem beim Lesen plötzlich lose Seiten in die Hände geraten. Ein Buch, das nicht mit der heißen Nadel gestrickt wurde, verdient eine stabilere Bindung. Gut zu wissen, dass es auch als E-Book erhältlich ist.
Sandra Beaufaÿs
GESIS, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Center of Excellence Women and Science
Soziologin, Schwerpunkte Wissenschafts- und Geschlechterforschung
E-Mail: sandra.beaufays@gesis.org
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
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