Fanfiction als kreativer Ausbruch aus der Tyrannei der Gewöhnlichen

Rezension von Marcus Felix

Vera Cuntz-Leng:

Harry Potter que(e)r.

Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre.

Bielefeld: transcript Verlag 2015.

488 Seiten, ISBN 978-3-8376-3137-1, € 49,99

Abstract: Vera Cuntz-Leng brilliert mit einer queertheoretischen Untersuchung der Romanreihe um den Zauberlehrling Harry Potter und ihrer Verfilmung, die beide durch eine Form der Fanfiction, dem Slash, einer queeren Auswertung ausgesetzt sind. Mit der Verzahnung von queertheoretischer Relektüre und der Analyse queerer Fanpraxis gelingt es der Autorin herauszustellen, weshalb sich die Septalogie herausragender Beliebtheit bei queerer Harry-Potter-Fan-Art erfreut. Sie erweitert dadurch nicht nur den Blickwinkel auf das Phänomen Harry Potter, das durch das inflationäre Neu- und Weiterschreiben durch Fans ein Eigenleben entwickelt hat. Sie trägt damit auch zur Verwissenschaftlichung des Subgenres Fantasy bei und dem mangelnden Interesse der Queer Theory am popkulturellen Phänomen des Fandom Rechnung.

DOI: https://doi.org/10.14766/1200

Eine interdisziplinäre Annäherung an Fantasy

Infolge der zunehmenden Mediatisierung und der seit den 1990er Jahren sich stetig beschleunigenden Social-Media-Revolution werden internetbasierte und digitale Erscheinungen wie literarische und andere kreative Adaptionen − etwa Fan-Art aller Couleur − zahlreicher und eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen belangvoller. Zu Beginn ihrer Arbeit verweist Cuntz-Leng auf diese Entwicklung am Beispiel des Slash und begründet damit die Aktualität ihrer Untersuchung, die zugleich die erste deutschsprachige Forschungsarbeit zu Fanfiction darstellt.

Bei Slash handelt es sich um ein Fanfiction-Subgenre, in dem fiktive Charaktere in gleichgeschlechtliche romantische und/oder sexuelle Abenteuer verstrickt werden. Slash führt teilweise heteronormative Konzepte ad absurdum und eignet sich, um kreative Ausdrucksformen als Überwindung gesellschaftlicher Begrenzungen zu begreifen. International wahrgenommen wurde Slash erstmals in den 1960er Jahren mit dem Erfolg der Star-Trek-Saga der ersten Generation (eines der ersten Slash-Paare waren Captain Kirk und dessen Commander Spock). Infolge der Social-Media-Revolution wuchs die Bedeutung queerer Fanpraxis. Die Hochphase der Harry-Potter-Fan-Art, die bis heute in ihrem Umfang und ihrer Vielfältigkeit einmalig ist, bildete die lange Pause zwischen dem vierten (2000) und dem fünften Band (2003), in welcher der Plot von Fans weitergedichtet wurde. Die Kreativität der Fans, deren Motor Cuntz-Leng zufolge die serielle Unterbrechung war, wurde maßgeblich durch die Kinofilme (ab 2001) beeinflusst, die einen Konsens im Hinblick auf das Aussehen von Figuren, Plätzen und Räumen stifteten.

Zugleich relativiert die Autorin die Annahme, dass das Massenphänomen, das bis heute seinesgleichen sucht, allein durch den Erfolg der Romane und Verfilmungen sowie durch die Möglichkeiten des Internets erklärt werden könne, und verweist auf das progressive, emanzipatorische Moment des Fantasy-Genres im Allgemeinen und der Rowling’schen Romanreihe im Konkreten. Darauffolgend illustriert sie an einer Vielzahl von Bedeutungsebenen, inwiefern Harry Potter ein queeres Potential bereitstellt, wenngleich das Fantasy-Genre bisher praktisch kaum Berührungspunkte mit queeren Lebenswelten habe. Dies gelingt ihr durch die Verschränkung zweier rezeptionstheoretischer Perspektiven, der kulturwissenschaftlichen und der Fan-Perspektive.

Zur ‚Queerbarkeit‘ von Medientexten

Zunächst kann die Autorin, nach einer einleitenden Zusammenfassung des Plots, sichtbar machen, dass fantastische Medientexte ihrem Wesen nach „über einen erhöhten Grad der Queerbarkeit“ verfügen, da sie „gängige Realitätsvorstellungen brechen und gedankliche Entfaltungsspielräume öffnen“ (S. 76) können. Damit verdeutlicht sie das Potential für Tabubruch und Gesellschaftskritik, das der Fantasy innewohnt, und entfernt sich so von marginalisierenden Darstellungen dieses Subgenres.

Darüber hinaus zeigt Cuntz-Leng im darauffolgenden Kapitel in einem aufwändigen, aber dennoch letztlich entbehrlichen Exkurs in die vorrangig amerikanische Filmgeschichte, dass „oftmals die ausgewiesen heteronormativen Medientexte“ (S. 76) à la Hollywood, etwa jene zu Zeiten des Hays Code (1930 bis 1967), als US-amerikanische Produktionen hinsichtlich sexueller Darstellungen zensiert wurden, zumindest im Subtext deviante oder homoerotische Momente aufweisen und deshalb queer gelesen werden können. Die Erkenntnis, dass transgressive Lesarten hegemoniale heteronormative Interpretationsmuster überschreiten können, hätte allerdings auch ohne die durchaus beeindruckende Vielzahl der ausgewählten historischen Filmbeispiele eingeleuchtet.

Anschließend überträgt die Autorin die Erkenntnis der ‚Queerbarkeit‘ von Medientexten auf die Harry-Potter-Reihe und wendet diese mithilfe des Queer Readings an, wobei sie sich − unter der Voraussetzung der Objektivierbarkeit − von herkömmlichen Deutungen und Topen löst. Sie bedient sich dafür kritisch-feministischer und dekonstruktivistischer Konzepte, die von Butler und Foucault inspiriert sind (Kosofsky Sedgwick, de Lauretis u. a.), um das Unvermögen von überkommenen literatur- und filmwissenschaftlichen sowie medienanalytischen Ansätzen, queere Bedeutungsfolien bereitzustellen, zu überwinden.

Für das Queer Reading macht sie sich dazu die polyseme Natur von Blockbustern wie Harry Potter zunutze, indem kanonische Einheitsinterpretationen zugunsten divergenter Sichtweisen demontiert werden. Die Polysemie äußert sich darin, dass − unter kommerziellen Gesichtspunkten − verschiedene Publikumsgeschmäcker adressiert werden, indem sich verschiedener Genre-Elemente bedient sowie Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen entsprochen wird. Diese komplexen kunstvollen Kompositionen weisen eine große Offenheit für vielfältige bis widersprüchliche Interpretationen auf. Zugleich wird durch diese transgressive Lesart der kurze Weg der queeren Deutung des Prätextes (die der Fanfiction zugrundeliegende Literatur) zur kreativ-außergewöhnlichen Weiterschrift in Form der Fanfiction aufgezeigt. Damit entfernt sich Cuntz-Leng vom Bild des Fans als bloßem, passivem Rezipienten und fasst ihn in Anlehnung an Horkheimer und Adorno als eigenwilligen, produktiven Geist, der Neues schafft, indem er sich den Prätext kreativ aneignet.

Das queere Potential der Saga

Die Attraktivität der Harry-Potter-Serie für queere Fanfiction verdeutlicht Cuntz-Leng überzeugend anhand der ausgeprägten Leerstellendichte − die hohe Anzahl an Textabschnitten, in denen die Aussage durch die Autorin unausgesprochen bleibt und erst aktiv durch die Rezipient_innen hergestellt werden muss – und anhand verschiedener Zugänge zum queerbaren Subtext der Medientexte. Im über 250 Seiten starken Analyseteil gelingt es ihr zunächst, das hohe queere Identifikationspotential des fiktiven Helden herauszuarbeiten, der genretypisch als Außenseiter konzipiert ist, aus der gewohnten Welt aus- und aufbricht, im Laufe der seriellen Narration ein Coming-of-Age erfährt und letztlich triumphiert. Weitere Zugänge erfolgen über die Untersuchung von Settings und Räumen (wie etwa der magischen Welt, dem Schrank unter der Treppe oder der Zaubereischule Hogwarts), in Bezug auf die Figurenkonstellationen, über das Motiv der Verwandlung (mithilfe des Vielsafttranks etwa) und durch die Erfassung exponierter, fantastischer Objekte in der Saga (z. B. der Hogwarts-Brief, die phallischen Zauberstäbe oder die Karte des Rumtreibers). Letztere haben durch Vermarktung Eingang in die reale Welt gefunden und stehen damit zumindest „emblematisch für die Existenz einer […] alternativen Realität“, „in der […] die Devianz zur Norm erhoben wird“ (S. 335). Abschließend weitet die Autorin den Blick auf andere ausgewählte Fantasy-Erzählungen (Lord of the Rings, Game of Thrones) und gibt damit Anregungen für weitere queere Relektüren, wodurch sie ihre Position bestärkt, dass literatur- und filmwissenschaftliche Untersuchungen unter Einbeziehung von Fan-Art einen Mehrwert erfahren können. Im Folgenden sollen anhand ausgewählter Elemente aus Cuntz-Lengs Untersuchung diese ‚Queerbarkeit‘ verdeutlicht werden.

Die ‚Queerbarkeit‘ des Protagonisten

Cuntz-Leng zufolge bildet der Protagonist nicht nur eine queere Identifikationsfigur hinsichtlich der Diffamierung und Exklusion, die er durch sein familiäres, nicht-magisches Umfeld permanent erfährt. Auch das Herauskommen aus dem Schrank (unter der Treppe) und damit die Emanzipation vom Underdog im Muggel-Milieu zum Auserwählten der Hexen- und Zauberer-Welt weist Analogien zum Coming-out und zur tatsächlichen Situation nicht-heterosexueller Menschen auf. Gerade mit dem Bekenntnis zur eigenen (queeren) Identität misslingt in „dem permanenten Eindruck der Andersartigkeit“ oft das erwünschte Normalsein (S. 120), weil queere Identitäten in einer heteronormativen geschlechterbinären Welt immer markiert sind. So gelingt es Harry nie, einfach nur just Harry zu sein, sondern ist in beiden Welten ein gezeichneter Exot und Außenseiter (Blitznarbe, Waise, kann mit Schlangen reden). Dadurch „setzt sich besagter Konflikt zwischen gesellschaftlichen Normen und Devianzen nicht nur in der Gegensätzlichkeit beider Welten fort, sondern er bleibt auch ein wesentliches Merkmal von Harrys persönlicher Entwicklung“ (S. 120). Cuntz-Leng stellt heraus, dass diese Zerrissenheit in mehrfacher Hinsicht für Slash fruchtbar ist. Alleinstellungsmerkmale, innere Konflikte und das Gefühl des Andersseins können genutzt und queer-kreativ verarbeitet, variiert oder addiert werden. Hinzu kommt, dass Rowlings zahme Ausführung oder eher Aussparung seiner geschlechtlichen und sexuellen Entwicklung und von sexuellen Begebenheiten im Allgemeinen ausgedehnte Leerstellen offenlegen, die Nährboden für eine „queere Les- und Slashbarkeit der Figur“ (S. 122) bilden. Queere Fanfiction macht sich, so stellt Cuntz-Leng anschaulich heraus, das Phänomen von „Harrys geschlechtlicher und sexueller Unterdeterminiertheit“ (S. 122) zunutze. Insofern betreibt Fanfiction ein open at the close.

Ein emanzipatorisches Potential komme der Coming-of-Age-Geschichte des Zauberlehrlings zu, indem perfectly normal, thank you very much, zu sein nicht unbedingt als gut oder erstrebenswert erscheine und Normabweichungen positiv konnotiert würden: Etwa, indem sich Harry mit dem Wissen um seine magischen Fähigkeiten gegenüber der zutiefst gewöhnlichen Welt seiner spießigen, vorurteilebehafteten Verwandtschaft abgrenzt, die als Allegorie für das christlich-konservative, homophobe, ‚besorgte‘ Bürgertum gelesen werden kann.

Das queere Potenzial der Settings

Slash-Potential haben ebenso die queer spaces der Romanwelt, wobei die Zaubereischule als „realisierte Utopie“ (S. 151) und ‚liminaler Raum‘ (Victor Turner), an dem vermeintlich alles möglich erscheint, im Slash-Fanfiction ein zentraler Schauplatz darstellt. Dem Internat seien der Regelbruch und die Subversion inhärent, da es jenseits elterlicher Autorität und strikter Raumtrennung fungiere. An diesem ‚Ort außerhalb aller Orte‘ (Foucault) kann „sich das Individuum einer eindeutigen Kategorisierung“ (S. 149) entziehen. Die positive Bewertung von Regelverstößen durch den Schulleiter Albus Dumbledore provoziert geradeheraus „zu Individualität und Devianz“ (S. 150) und stellt damit eine „Ermutigung zum Queersein“ (S. 152) dar. Folglich sind in der Fanfiction nicht nur homoerotische Abenteuer möglich, die ihre Vorläufer in der Internatsliteratur seit dem 19. Jahrhundert haben, sondern auch inzestuöse Verbindungen (zwischen den Zwillingen Fred und George Weasley) oder Lehrer-Schüler-Verhältnisse, die außerhalb von Hogwarts und auch jenseits der Fiktion sanktioniert würden. Eben weil das fiktive Hogwarts „gesellschaftlich geächtete Begehrenskonstellationen temporär zu legitimieren“ (S. 152) scheint, so kann Cuntz-Leng zeigen, finden sich die meisten Slash-Pairings zwischen Figuren innerhalb Hogwarts wieder und ereignen sich diese in den Gemeinschaftsschlafsälen oder in Verstecken, den ‚Closets‘, wie Wandschränken, Toiletten (diese werden bei Rowling konsequent zweckentfremdet) oder dem Raum der Wünsche. Im Hinblick auf die Vielzahl an Slash-Fanfiction über den Raum der Wünsche zeigt sich, dass dieser geradezu prädestiniert für erotische und sexuelle Abenteuer erscheint. Die Autorin erklärt dies mit dem Status ebenjenes Raumes als „temporäre autonome Zone“ (S. 153) und dessen Vermögen, „sich den individuellen Bedürfnissen und Wünschen einer Person anpassen zu können“ (S. 154). So ist der Raum Schauplatz von Harrys erotischen Begegnungen mit Cho Chang und Ginny Weasley. Der Raum gewinnt zudem dadurch an Relevanz, dass er ein sicherer Rückzugsort des Experimentierens und der Vorbereitung auf den finalen Kampf gegen den Erzfeind Voldemort bleibt, auch wenn Hogwarts von Normierung und Repression betroffen ist (infolge der Herrschaft der Inquisitorin Umbridge und später des Lehrers Snape, des vermeintlichen Mörders des Schulleiters Dumbledore).

Die Relektüre der Charaktere und Beziehungen

Anhand von Slash kann Cuntz-Leng ebenso aufzeigen, dass von Fans mitunter queere Aspekte in den Plot eingeschrieben werden, deren sich der Prätext zuvor verweigert hat. So verschenke Rowling nicht zuletzt im Epilog queeres Potential durch „eine enttäuschend konservative Wendung“ (S. 245) mit der Restaurierung der alten Ordnung: Die Muggel- und die Magier-Welt bleiben zwei getrennte Sphären, die Beziehung von Harry und der stets passiven und geradezu marginalisierten Ginny kann nicht überzeugen, und ein Großteil der Charaktere mit subversivem und damit queerem Potential kommt zu Tode (Tonks, Lupin, Black, Fred). Die Autorin stellt heraus, dass es Slash-Erzählungen gibt, die den konservativen Ausgang der Geschichte ‚korrigieren‘ oder ignorieren, indem sie diese umschreiben. In dieser Hinsicht stelle Fanfiction eine Form der Medienkritik dar.

Auch die im Grunde stereotypen Geschlechterbilder und marginalisierten Frauenfiguren weiß Fanfiction mal mehr, mal weniger gelungen neu- oder weiterzudenken und konkret im Slash zu erotisieren. Anknüpfungspunkte sind hier zum einen gleichberechtigte Freundschaften, sogenannte Buddy-Kombinationen (etwa die der Rumtreiber oder des Helden-Trios Ron, Hermine und Harry). Zum anderen wird sich die ungenaue Ausgestaltung von Charakteren der Peripherie (Cedric Diggory, Luna Lovegood), die Außenseiterrolle oder ein deviantes Verhalten und Aussehen einer dramatis persona zunutze gemacht (der Werwolf Lupin, der vermeintliche Mörder von Harrys Eltern Sirius Black). Auch die Antipathie oder Feindschaft zwischen zwei Figuren kann als ungelöste sexuelle Spannung weitergedacht werden. Besonders die Beziehung zwischen Harry und Draco Malfoy, die über alle Bücher hinweg Kontrahenten und zugleich „Gefangene eines Systems sind, auf das sie selbst nur geringen Einfluss haben“ (S. 210), stellt Cuntz-Leng heraus. Zugleich entwickeln beide eine Faszination füreinander − mitunter „widmet er [Harry] jenem [Draco] mehr Zeit als seiner (potentiellen) Liebschaft“ (S. 209). Dass beide sich ihrer Gemeinsamkeiten gewahr werdend Sympathien für einander entwickeln, wird im Slash weitergedacht. Auch die ambivalente Beziehung zwischen Harry und dem Zaubertränke-Lehrer Snape wird im Slash weiterverhandelt, indem etwa Snapes Tod am Ende der Serie ignoriert und die hierarchische Ungleichheit in der Fan-Narration aufgelöst wird.

Während der Buddy-Slash romantische und gleichberechtigte Momente aufweist, herrscht in den sogenannten Enemy-Pairings (z. B. Todesser vs. Ordensmitglied) teilweise sexuelle Gewalt vor. Cuntz-Leng zufolge weist diese Slash-Variante mitunter eine Sexualisierung faschistischer Elemente der Todesser auf, deren Parallelen zum Nationalsozialismus (aufgrund der rassistischen Ideologie) oder des Ku-Klux-Clans (dank der Kapuzenmäntel) ausgebaut werden. Auch BDSM- und Fetisch-Elemente sind hier auffallend häufig zu finden.

Celebrating the deviant − Slash als Medienkritik und Selbstermächtigung

Geschlecht und Begehren sind im Slash oftmals Konzepte, die von Fan-Autor_innen überwunden oder ignoriert, die reflektiert werden und mit denen experimentiert wird. In diesem Zusammenhang bezeichnet Cuntz-Leng das Internet als eigenen queer space, da Fans hierüber ihren „individuell angepassten Zugang zum Harry Potter-Universum“ (S. 154) zu finden und „Rowlings Welt nach ihren eigenen Bedürfnissen zu gestalten“ (S. 156) vermögen. Frauen, die die Mehrheit der Fiction-Autor_innen stellen, können so das Internet als Hort des Ausprobierens und der Selbstermächtigung begreifen, „ohne gesellschaftliche Stigmatisierung befürchten zu müssen“ (S. 101). Insofern sagt die Fan-Perspektive mehr über die Fans selbst „als über die Beziehungsmodelle der Figuren im Slash-Fanfiction oder im Prätext“ (S. 109). Cuntz-Leng konstatiert, dass Slash vor allem Frauen ermöglicht, „ihre Wünsche und Sehnsüchte nach alternativen Formen der Männlichkeit zu verbalisieren und ihre Ängste gegenüber den Grenzen gegenwärtiger Geschlechter- und Beziehungsmodelle zu erkunden.“ (S. 109)

Für gender- und queertheoretische Betrachtungen kann der Fokus auf die Rezipientenperspektive bereichernd sein, auch vor dem Hintergrund, dass poststrukturalistischen, queertheoretischen Positionen eine Entleibung vorgeworfen wird, die sich immer mehr von der Lebenswirklichkeit der Subjekte entferne. Auch deshalb lohnt die Untersuchung, inwiefern innerhalb soziokultureller Normen und Erwartungen Subjekte durch Aneignung von Prätexten sich zu Akteur_innen von Diskursen emanzipieren und dadurch eine gewisse Handlungsmacht erlangen.

Fazit

Durch die queertheoretische Relektüre gelingt es der Autorin überwiegend, sich hegemonialer Interpretationsmuster zu widersetzen und den Prätext zugunsten weiterer Bedeutungsebenen zu öffnen. Sie kann überzeugend die Favorisierung bestimmter Pairings, Räume und Artefakte aufzeigen und illustrieren. Für eine weitere Untersuchung wäre es aufschlussreich, die Objektivierbarkeit der von Cuntz-Leng herausgestellten Elemente zu überprüfen, die die ‚Slashbarkeit‘ des Universums um Harry Potter begünstigen. Was erscheint für Fans als attraktiv und deshalb ‚slashbar‘? Die Motive und Impulse des kreativen Ausbruchs hätten noch stärker an den Fantexten herausgearbeitet werden können, um jene Zwänge und Krisen, die in queerer Fan-Art zum Ausdruck kommen, schärfen zu können. Hierbei wäre ebenso interessant gewesen, Slash-Fiction darauf zu untersuchen, inwiefern Stereotype, heteronormative und dichotome Machtstrukturen reproduziert werden und dadurch ein queering gender und queering sexuality misslingt. Cuntz-Leng verweist immerhin auf die Popularität gleichgeschlechtlicher Hochzeiten und männlicher Schwangerschaften sowie auf den von einigen Autor_innen vollführten Geschlechtswechsel von Figuren, was letztlich wieder „zu einer indirekten Stabilisierung eben jener Strukturen führe“ (S. 91).

Daran werden u. a. die unterschiedlichen Anlässe von Queer Reading und Slash-Fiction deutlich. Während ersterem der Anspruch politisch-analytischer und dekonstruktivistischer Wachsamkeit zugrunde liegt, erfolgt letztere aus einem eskapistischen Impuls und dem Motiv der Lust heraus. Während Slash mitunter phallogozentrische und andere klassische Bedeutungsfolien reproduziert, versucht sich Queer Reading von diesen zu entfernen − somit stehen sich die rezeptionstheoretischen Ansätze mitunter im Weg. Dennoch kann es Slash gelingen, queeres Potential von Texten sichtbar zu machen, heteronormative Einschreibungen zu überwinden und Kritik an etablierten Normen- und festen Identitätsvorstellungen zu verbalisieren. Damit ist dieser Fanpraxis ein Selbstermächtigungsmoment inhärent, das Cuntz-Leng glaubhaft herauszustellen gelingt.

Die Autorin schreibt kurzweilig und nachvollziehbar, allerdings mit einer gewissen Redundanz. Einzig auffällig ist der für queertheoretische Arbeiten ungeläufige Gebrauch des generischen Maskulinums, den die Autorin verwendet (der Fan, der Rezipient). Eine ausgeprägtere Sprachsensibilität wäre zu wünschen gewesen.

Aus geschlechterwissenschaftlicher Perspektive lohnt sich die Interpretation fiktiver Texte über den von Cuntz-Leng aufgezeigten Weg des Rezipienten, der neue Perspektiven aufzeigen und damit Mehrwert für die hermeneutische Arbeit zu haben vermag. Auch eignet sich die Lektüre für Film-, Medien- und Literaturwissenschaftler_innen, die an einem gelungenen Beispiel dafür interessiert sind, wie hegemoniale Interpretationsmuster aufgebrochen und vermeintlich heteronormative Texte queer ‚unterwandert‘ werden können. Allerdings sollte man besagte Buch- und Filmreihe kennen, um einige Gedanken besser nachvollziehen zu können. Unbedarft empfiehlt sich die Lektüre nicht.

Marcus Felix

Stiftung Universität Hildesheim

Graduiertenkolleg Gender und Bildung

E-Mail: felixm@uni-hildesheim.de

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