Alles prekär? Eine Einführung in die soziologische Prekarisierungsforschung

Rezension von Martin Spetsmann-Kunkel

Mona Motakef:

Prekarisierung.

Bielefeld: transcript Verlag 2015.

184 Seiten, ISBN 978-3-8376-2566-0, €14,99

Abstract: Mona Motakef gibt in ihrem Buch einen guten Einblick in die aktuelle soziologische Prekarisierungsdebatte. Prekarisierung meint jene Prozesse sozialen Wandels, die mit einer Erschütterung bisher gültiger gesellschaftlicher Institutionalisierung und Normalität verbunden sind und zu sozialer Verunsicherung führen. Motakef geht von einem weit gefassten Prekarisierungsverständnis aus, wobei sie den Blick über die traditionelle industrie- und arbeitssoziologische Perspektive auf Aspekte aus der Genderforschung erweitert. Die Autorin referiert, dass die Prekarisierung der Existenz Ausgangspunkt für vielfältige politische Aktionen wie den Postoperaismus sein kann. Welchen Gewinn diese Erweiterung der Prekarisierungsdiagnose bringt, wird in der Rezension kritisch erörtert.

DOI: https://doi.org/10.14766/1204

Mona Motakef, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt „Ungleiche Anerkennung? ‚Arbeit‘ und ‚Liebe‘ im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“, gibt in dem schmalen Band Prekarisierung eine Einführung in die aktuelle soziologische Debatte zu Prekarisierungsprozessen. Prekarisierung, ein zentraler Begriff in der gegenwärtigen soziologischen Diskussion, meint einen zunehmenden Prozess der Verwundbarkeit durch ungesicherte Arbeits- und Lebensverhältnisse. Motakef geht dabei in ihrer Argumentation von einem weiten Prekarisierungsbegriff aus, der nicht nur eng auf Verhältnisse in Erwerbsarbeitsprozessen fokussiert, sondern auch Prekarisierungsprozesse im Geschlechterverhältnis thematisiert. Das Buch aus der Reihe „Einsichten. Themen der Soziologie“ des Transcript-Verlags ist in drei Teile gegliedert: Zunächst werden aus Sicht der Arbeits- und Industriesoziologie Prozesse der Prekarisierung beschrieben. Daran schließt sich die Sicht der Genderforschung auf brüchige Gendernormen und sich verändernde Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse an. Abschließend werden sogenannte postoperaistische Ansätze vorgestellt.

Perspektive

Ausgehend von der schon seit einigen Jahren in Frankreich geführten Diskussion zentrierte sich die bisherige Prekarisierungsdebatte, die maßgeblich von den Positionen der Soziologen Robert Castel und Pierre Bourdieu geprägt ist, auf Prozesse der Entsicherung im Erwerbsarbeitssektor. Die Geschlechterforschung erweitert diese Perspektive um die Genderthematik und führt zu einem breiten Prekarisierungsverständnis. Motakef beobachtet, dass das Thema prekärer Verhältnisse sogar erst zunehmende Präsenz in den sozialwissenschaftlichen Diskursen erfuhr, seit Unsicherheiten männlicher Normalarbeitsverhältnisse und damit verbunden eine Erosion des männlichen Ernährermodells zu verzeichnen sind. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse für Frauen seien hingegen schon lange Realität und ein bedeutendes Thema in der von Frauen dominierten Geschlechterforschung. Für die Autorin wird hier ersichtlich, dass letztlich Fragen von Prekarisierung und ihrer öffentlichen Thematisierung nicht von Genderfragen zu entkoppeln sind. Die Wahrnehmung und Erörterung von Prekarisierungsformen versteht sie als einen Paradigmenwechsel in der soziologischen Debatte, welcher die bisherige Dominanz des Exklusionsdiskurses ablöst. Motakef sieht die Stärke der Prekarisierungsthematik darin, dass Phänomene des Zunehmend-gefährdet-Seins und der potentiellen Bedrohung, Ressourcen und Kapitalien aller Art zu verlieren, durch das Wort ‚Prekarisierung‘ als dynamischer Prozess besser beschrieben werden und nicht als abgeschlossener Zustand, wie es der Begriff ‚Exklusion‘ nahelegt, verstanden werden.

Vom arbeits- und industriesoziologischen Erbe zur Weiterentwicklung durch die Geschlechterforschung

Die Autorin beginnt ihre Darstellung der soziologischen Prekarisierungsdebatte, indem sie zunächst zentrale und immer noch aktuelle Studien zum Thema, die sich aus der soziologischen Tradition nach Karl Marx und Emile Durkheim heraus entwickelt haben, kurz vorstellt und diskutiert (S. 24−42). Dabei konzentriert sie sich auf Robert Castels Zonenmodell aus Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Pierre Bourdieus Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft und auf Der neue Geist des Kapitalismus von Luc Boltanski und Eve Chiapello – alles Titel, die interessanterweise bisher im Kontext der Exklusionsdebatte als wegweisende Studien erörtert wurden und die Motakef nun zu Schlüsselwerken der Prekarisierungsdebatte erklärt. Dabei spart sie nicht an Kritik an diesen modernen Klassikern, indem sie beispielsweise Castel Androzentrismus vorwirft und ihm unterstellt, die Reproduktionssphäre in seinem Modell zu vernachlässigen. Diese Kritik ermöglicht dann die Erweiterung des Blicks auf die geschlechtersoziologische, feministische Prekarisierungsdebatte, die später folgt.

Zunächst wird aber der Strukturwandel (männlicher) Erwerbsarbeit (S. 43−69) beschrieben. In diesem Zusammenhang fallen gängige Stichworte wie Flexibilisierung, Subjektivierung, Selbstoptimierung, Aktivierung, die alle gleichermaßen Prekarisierung hervorbringen und aber auch das Ergebnis von Prekarisierung sind. Die Autorin veranschaulicht ihre Überlegungen, indem sie beispielsweise atypische prekäre Beschäftigungsformen wie Solo-Selbstständigkeit von Kreativen, Teilzeitarbeit usw. und deren potentielle Folgen wie Sinnverlust, niedriges Einkommensniveau, Anerkennungsdefizit und biographische Planungsunsicherheit nachvollziehbar und schlüssig aufzeichnet. An dieser Stelle wird aber auch ersichtlich, dass prekäre Situationen für bestimmte Gruppen keineswegs neu, sondern ein – vielleicht sogar in Kauf genommener – Dauerzustand sind. Ebenfalls nicht neu ist die fehlende Anerkennung von weiblich dominierter Haus- und Sorgearbeit, womit Motakef ihre Überlegungen zur geschlechtersoziologischen Prekarisierungsdebatte (S. 70−117) einleitet. Hierbei weitet sie den Blick über die Genderperspektive auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse z. B. im Privathaushalt und auf prekäre Haushaltsformen wie Alleinerziehende in Richtung der Prekarisierung von Geschlechternormen aus. Männlichkeit wird hier als prekäre Kategorie diskutiert und es wird nochmals auf den Zusammenhang zwischen den Wandlungsprozessen im Verhältnis der Geschlechter und der vermehrt geführten Debatte über Prekarisierung hingewiesen.

Zum Ende gibt Motakef einen kurzen Einblick in das weitgehend wenig diskutierte Thema der postoperaistischen Ansätze (S. 118−132). Der ursprüngliche Operaismus war eine neomarxistische Bewegung, die ihren Ursprung in Norditalien hatte und die sich für die Lebenssituation der Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzte. Postoperaistische Ansätze – maßgeblich angeregt durch das Werk von Antonio Negri und Michael Hardt – setzen an dieser Idee an und begreifen sich als eine Widerstandsform gegen herrschende Arbeitsverhältnisse und damit verbundene Marktprozesse, wobei der Begriff des prekären Lebens auch hier weit ausgelegt wird. Das ganze Leben gilt als potentiell prekär. Damit ist auch hier eine Auflösung der Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit als Orte der Prekarisierung vollzogen und Widerstand ein Thema an allen Orten. Zum Ende ihrer Einführung formuliert die Autorin relevante offene Fragen (S.138−145), wobei ihre Forderung, eine Reflexion des eurozentrischen und androzentrischen Erbes der Soziologie vorzunehmen, um Prekarisierung adäquat beschreiben und analysieren zu können, besonders hervorzuheben ist.

Alles prekär? – Offene Fragen und Würdigung

Das Buch wird dem Anspruch einer Einführung gerecht. Es ist verständlich geschrieben und damit eine geeignete Lektüre für Studierende. Es ist damit ebenso empfehlenswert wie alle mir bekannten Bücher der Einsichten-Reihe.

Im Blick auf die inhaltlichen Positionen Motakefs eröffnen sich aber mehrere Fragen, von denen ich drei hervorheben möchte: Ist Prekarisierung nur ein defizitär zu beschreibender Zustand, wie es das Buch weitgehend suggeriert? Die Prekarisierung von tradierten Geschlechterbildern beispielsweise ist ein Verlust für (weiße) hegemoniale Männer und ein möglicher Gewinn für alle anderen. Mit anderen Worten: Das emanzipatorische Potential brüchiger Lebensverhältnisse scheint im Buch auf, rückt aber weitgehend in den Hintergrund gegenüber der überwiegend defizitären Sicht auf prekäres Leben und prekäre Zustände. Eine weitere Frage lautet: Was geht durch das weite Prekarisierungsverständnis verloren? Eine Anklage prekärer Beschäftigungsverhältnisse – egal für welche Gruppe – scheint angesichts der neoliberalen Verfasstheit unserer Welt mehr als geboten. Hier ist Kritik nötig und bleibt die Prekarisierungsdebatte ihrem industrie- und arbeitssoziologischen Erbe verpflichtet. Durch eine Öffnung des Prekarisierungsdiskurses auf Fragen von Gender und Geschlechterverhältnisse hingegen mischt sich eine zwingend notwendige Dramatisierung von Produktionsverhältnissen mit einer positiv zu bewertenden Emanzipationsdynamik, die aber von dem eigentlich zu bekämpfendem Problem abseits aller Genderfragen ablenken könnte. Die abschließende Frage lautet: Was ist das Gegenüber, die Differenz von Prekarisierung? Souveränisierung? Der Exklusionsbegriff entfaltet seine Logik durch sein Anderes – Inklusion. Was aber ist das Andere von Prekarisierung, und wann befindet sich das Subjekt, eine Gruppe oder eine Gesellschaft in der Tendenz in dem einen Prozessverlauf und wann in dem anderen? Methodisch stellt sich dabei auch die Frage, wie die soziologische Prekarisierungsforschung den Unterschied zwischen subjektivem Prekarisierungs-Empfinden und objektiven Prekarisierungs-Tatbeständen empirisch erfassen und theoretisch integrieren will.

Bei allen offenen Fragen und kritischen Anmerkungen lässt sich aber resümierend sagen, dass Motakefs Buch aufgrund ihrer komprimierten und dichten Darstellung unterschiedlichster Positionen gut in das Feld der Prekarisierungsdebatte einführt. Das Buch schließt damit eine Leerstelle in der deutschsprachigen Literatur, in welcher es zwar schon eine Fülle an Titeln zu Fragen der Exklusion gibt, die Diskussion über prekäres Leben bisher aber nicht systematisch und übersichtlich dargestellt wurde. Die gut verständliche Fachsprache ermöglicht es vor allem Novizen, einen ersten Zugang zum Thema zu finden.

Martin Spetsmann-Kunkel

Katholische Hochschule Aachen

Professur für Politikwissenschaft

E-Mail: m.spetsmann-kunkel@katho-nrw.de

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