Anja Gregor:
Constructing Intersex.
Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie.
Bielefeld: transcript Verlag 2015.
348 Seiten, ISBN 978-3-8376-3264-4, € 34,99
Abstract: Anja Gregor zeigt in ihrer Dissertation anhand von fünf narrativen Interviews mit intergeschlechtlichen Menschen, wie eine medizinische Zurichtung auf die Biographie, den Körper, aber auch auf die geschlechtliche Identität Einfluss nimmt. Damit verknüpft sie drei Kernbereiche der Soziologie: Biographie, Körper und Geschlecht. Im Zentrum stehen die (Re-)Konstruktion der biographischen Erzählung und die Auseinandersetzung mit der Medizin als machtvoller Instanz im Diskurs. Anschließend an diese Analyse entwickelt Gregor ein vierstufiges Modell von Emanzipationsprozessen, welche das Coming In, Coming Out, Coming Off und Coming Clean umfassen.
Intergeschlechtlichkeit ist in den Gender Studies angekommen. Das zeigen eine wachsende Anzahl von Publikationen aus den verschiedensten Bereichen − ob es sich um eine medizinhistorische Auseinandersetzung handelt (Klöppel 2010) oder um interdisziplinär angelegte Sammelbände, in denen versucht wird, unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven einzunehmen (Schweizer/Richter-Appelt 2012, Schneider/Baltes-Löhr 2014).
Soziologisch empirische Forschung zu diesem Themenbereich liegt allerdings kaum vor. Anja Gregor liefert mit ihrer Dissertation eine Forschungsarbeit, welche sich vor allem mit dem Zusammenspiel von Geschlecht, Körper und Biographie anhand von Erzählungen intergeschlechtlicher Menschen befasst. Indem sie vor allem an Kathrin Zehnders Buch Zwitter beim Namen nennen (2010) anschließt, zeigt sie anhand von fünf biographisch-narrativen Interviews mit intergeschlechtlichen Menschen, wie die ‚medizinische Zurichtung‘ in die eigene Biographie eingewoben wird. Ihr Zugang ist dabei die Biographieforschung, welche den Forschenden ermöglicht, sich dem Material mit „anerkennend-wohlwollende[m] Sinnverstehen“ (S. 13) zu nähern.
Ihre Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand beginnt die Autorin mit einer Geschichte der medizinischen Geschlechtszuweisung. Sie zeigt anhand einer kurzen historischen Aufarbeitung, wo die Pathologisierungs- und Medikalisierungsgeschichte von intergeschlechtlichen Menschen ihre Wurzeln hat, und verdeutlicht so, dass die „aktuellen Positionen des Medizindiskurses“ (S. 69) eine lange Tradition der biologistischen und normativen Vorstellungen haben. Vor dem Hintergrund dieser Kenntnis des medizinischen Diskurses untersucht Gregor die aktuelle Debatte mit der Frage, ob es zu einer Transformation oder einer Stagnation gekommen sei, und arbeitet heraus, dass sowohl die kanonisierte Ausbildung in der Medizin als auch gesellschaftliche Diskurse und Normen um Geschlecht Einfluss auf die aktuellen medizinischen Positionen haben. Sie erläutert zudem, warum es wichtig sei, die medizinische Perspektive mit in die Untersuchung der Strukturkategorie Intergeschlechtlichkeit einzubeziehen. In allen Teildebatten sei diese Perspektive eingeschrieben und nehme im Leben intergeschlechtlicher Menschen eine bedeutsame Position ein, da diese häufig mit den Folgen irreversibler Eingriffe und in Auseinandersetzung mit der Medizin lebten. Neben einer Aufarbeitung des Medizindiskurses gilt Gregors Blick zudem − wenn auch nur kurz − anderen Ländern und deren gesellschaftlichem Umgang mit Intergeschlechtlichkeit. Auch die rechtliche Situation, wie der Eintrag im Personenstandsgesetz, wird kurz erläutert.
Im zweiten Kapitel erfolgt eine theoretische Verortung. Gregor nutzt die Grounded Theory Methodology und biographisch-narrative Interviews, um sich dem Gegenstand ihres Interesses zu nähern. Ihr Zugang ist sozialkonstruktivistisch mit „poststrukturalistisch inspirierter Wendung“ (S. 97), wobei sie ihren Fokus auf Veränderungen und Entscheidungsprozesse legt. Biographische Erzählungen sieht sie als performative Akte, bei denen die Subjektperspektive unter Berücksichtigung eines gesellschaftlichen Einflusses zu einer bestimmten Zeit konstruiert wird. Die Autorin arbeitet heraus, dass intergeschlechtliche Körper einen Eigen-Sinn aufweisen, der sich dem Zwei-Geschlechter-System entziehe. Mit Hilfe von Butlers Geschlechtertheorie und der Theorie des ‚Embodiement‘ nach Fausto-Sterling zeigt sie, dass geschlechtliche Körper immer sozialen Einflüssen unterworfen seien, andererseits Geschlecht ohne Körper nicht denkbar sei. Gregor stellt sich dabei gegen eine biologistische Verankerung des Körpers. Sie betont den doppelten Blick nach Hagemann-White: Zweigeschlechtlichkeit als solche wird in den Blick genommen, ebenso aber die gelebte Zweigeschlechtlichkeit betrachtet und ernst genommen. Die Frage, die sie an das Material stellt, ist folgende: „Wie erzählen die Befragten selbst die – qua Diagnose produzierte – gesellschaftliche Positionierung als ‚Andere_r‘, nicht Repräsentierte_r?“ (S. 143)
Das Kernstück der Arbeit findet sich im zweiten Teil des Buches, welches mehrere Kapitel umfasst.
Nach Gregors Beschreibung ihres Zugangs zum Feld und der Entwicklungen und entstandenen Schwierigkeiten folgen drei getrennte Analysekapitel. Das erste widmet sich der medizinischen Zurichtung intergeschlechtlicher Körper. Dort arbeitet die Autorin heraus, wie Medizin sich mit der „doppelten Kontrolle des Wissens“ (S. 221) als hegemoniale Kraft im Umgang mit Intergeschlechtlichkeit inszeniert. Dies geschehe auf unterschiedliche Weise. So würden Informationen seitens der Medizin zurückgehalten wie auch falsche Informationen weitergegeben. Des Weiteren gebe es eine große Unwissenheit, was u. a. zu einem „Zwang zur Selbstdiagnostik und Selbstbehandlung“ (S. 218) führe. Die Medizin beansprucht somit laut Gregor die Macht über das Phänomen, indem sie einerseits eine autoritative Macht einfordert und gleichzeitig Eingriffe durchführt, ohne umfängliches Wissen zu sammeln. Zusammen führe dies zu einer Bemächtigung seitens der Medizin über den Diskurs über Intergeschlechtlichkeit.
Im zweiten Analysekapitel legt Gregor den Fokus auf die ‚Einkörperung‘ von Erfahrung in die Konstruktion von Biographie und wertet dafür fünf narrative Interviews aus. Dabei legt sie besonderen Wert auf die Ausarbeitung des materiellen Körpers in der Konstruktion von Geschlecht und biographischer Erzählung und betont den Eigen-Sinn des Körpers. Sie differenziert verschiedene Aspekte der Rolle des Körpers: den instrumentellen, sozialen, extrovertierten und den biographischen Gehalt. Die Trennung von Körper und Biographie sei somit nur analytisch möglich. Dies treffe auch auf Geschlecht und Körper zu. Zudem konstituiere sich Biographie über das ‚Hintergrundgerüst Geschlecht‘. Sie konstatiert einen gegenseitigen und in der Realität untrennbaren Zusammenhang von Körper, Geschlecht und Biographie. Zur Veranschaulichung zieht sie eine Erweiterung der Möbiusschleife heran: das dreiseitige Möbiusprisma. Dabei handelt es sich um eine mathematische Figur mit nur einer Kante und nur einer Fläche. Die Schleife hat somit weder Anfang noch Ende, weder Oben noch Unten und weder Innen noch Außen. Dies verdeutliche die gegenseitige ‚Einverleibung‘.
Anhand der gewonnenen Erkenntnisse in der Analyse entwickelt die Autorin im dritten Analysekapitel ein vierstufiges Modell von Emanzipationsprozessen. Der erste Schritt ist dabei die ‚Enteinzelung‘ und die Kontaktaufnahme zu anderen intergeschlechtlichen Menschen (Coming In), danach folgt ein (Selbst-)Bewusstsein gegenüber der eigenen Intergeschlechtlichkeit als soziales Phänomen (Coming Out). Mit dieser Auseinandersetzung geht ein Wissen einher, welches sie zu ‚Expert_innen in eigener Sache‘ macht, wobei sie sich vom ‚ärztlichen Blick‘ emanzipieren (Coming Off). Durch die Ausarbeitung der eigenen Biographie kann sich nun ein individuelles Selbstverständnis als intergeschlechtlicher Mensch bilden (Coming Clean). Ein wichtiges Moment sieht die Autorin im Scheitern. Sie begreift dieses als emanzipatorisches Moment per se, da es eine implizite Kritik an kapitalistischen und heteronormativen Ordnungen darstelle.
Die Autorin verortet sich in verschiedenen (Teil-)Disziplinen und Feldern: der Biographieforschung, der Körpersoziologie (soma studies), den gender studies als auch in der nicht-pathologisierenden Intergeschlechtlichkeitsforschung. Ihr Zugang des ‚anerkennend-wohlwollenden Sinnverstehens‘ ist der für dieses Feld erforderliche. Eine Stärke dieser Arbeit ist die Offenheit, den eigenen, auch schwierigen Forschungsprozess offenzulegen. Eine weitere Stärke ist die Erweiterung der verschiedenen Disziplinen um eine jeweils weiterführende Perspektive. So wird die Wichtigkeit der materiellen Körperlichkeit in Bezug auf Biographie wie auch in Bezug auf Geschlecht betont.
An manchen Stellen bleibt offen, inwieweit das in den Analysen der Interviews Herausgearbeitete spezifisch mit der Intergeschlechtlichkeit zu tun hat oder ob es ein Teil eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs ist. So scheinen manche Interviewausschnitte auch auf andere Phänomene übertragbar zu sein, wie Gregor in ihrem Ausblick deutlich macht. Es sind interessante und dankbare Daten, die Gregor erhoben hat, und sie machen den*die Leser*in neugierig auf mehr. Bedauerlicherweise wiederholen sich einige Interviewausschnitte. Es bleibt zu fragen, ob andere Stellen noch weitere Perspektiven hätten eröffnen können.
Anja Gregors Dissertation ist eine gelungene Arbeit, in der es ihr gelingt, Intergeschlechtlichkeit und die Personen dahinter nicht zu vereinnahmen und dennoch eine solide wissenschaftliche Arbeit über das Thema zu schreiben. Diese Arbeit ist durch ihr breites Spektrum an Anschlüssen für viele Zielgruppen interessant sowie auch politisch relevant. Sie zeigt, wie der medizinische Diskurs auf Einzelpersonen einwirkt und wie Machtstrukturen gestärkt werden.
Klöppel, Ulrike. (2010). XXOXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Bielefeld: transcript Verlag.
Schneider, Erik/Baltes-Löhr, Christel (Hg.). (2014). Normierte Kinder. Effekte der Geschlechtsnormativität auf Kindheit und Adoleszenz. Bielefeld: transcript Verlag.
Schweizer, Katinka/Richter-Appelt, Hertha (Hg.). (2012). Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Gießen: Psychosozial Verlag.
Zehnder, Kathrin. (2010). Zwitter beim Namen nennen. Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung. Bielefeld: transcript Verlag.
Anike Krämer
Ruhr-Universität Bochum
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Sozialwissenschaft, Gender Studies
E-Mail: anike.kraemer@rub.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter https://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons