Maddie Breeze:
Seriousness and Women’s Roller Derby.
Gender, Organization and Ambivalence.
London u.a.: Palgrave Macmillan 2015.
195 Seiten, ISBN 978-1-137-50483-8, € 85,59
Abstract: Mit ihrer autoethnographischen Studie legt Maddie Breeze eine spannende sportsoziologische Analyse der Sportszene Roller Derby vor. Dabei entwickelt sie aus ihrem empirischen Material ein neues soziologisches Konzept von ‚Ernsthaftigkeit‘ und ‚Ernst-genommen-werden(-Wollen)‘, das sich von etablierten, linear gedachten und normativ ausgerichteten Modellen absetzt, beides wird dabei als eine widersprüchliche und ambivalente Praktik neu gedacht. So kann Breeze zeigen, wie es gelingen kann, in Transformationsprozessen neue Identitäts- und Organisationsformen herauszubilden, ohne dafür vorherige zu negieren und aufgeben zu müssen. Ein sehr empfehlenswertes Buch – nicht nur für Sportsoziolog*innen.
Maddie Breeze beginnt ihr Buch im ersten Kapitel mit einer Erläuterung des Vollkontaktsports Roller Derby, der auf Rollschuhen gespielt wird. Dieser existiere in Europa auf Vereinsebene erst seit Ende der 2000er Jahre, werde fast ausnahmslos von Frauen betrieben und weise gleichwohl als Kultur- und Erfahrungsraum für Frauen über den reinen sportlichen Charakter hinaus. Er gelte als feministische Sportart, die auch im Stil und in der Kleidung der Spielerinnen im Trainings- und Wettkampfgeschehen (knappe Hot Pants, Netzstrumpfhosen etc.) durch die Do-it-yourself-(DIY-)Kultur des third-wave feminism und der Riot-Grrrl-Punk-Bewegung geprägt sei, und bringe auf diese Weise Frauen in den Sport, die zu sonstigen Sportarten des Mainstream wenig bis gar keine Affinität hätten: Roller Derby sei ein „Sport für Frauen, die keinen Sport mögen“ – so auch der treffende Titel des ersten Kapitels (S. 1).
Breeze verdeutlicht diese Verbindung zwischen Feminismus, women-Empowerment, DIY-Kultur und Sport als Spezifik von Roller Derby zu Beginn des Buches in ihren Reflexionen über ihre eigenen Erfahrungen als Skaterin und Mitbegründerin eines Roller Derby-Teams: “I fell in love with roller derby as a self-organized women’s sport” (S. 10). Die gemeinsamen Trainings werden als ein Raum beschrieben, in dem die den Frauen an-sozialisierten Verhaltensweisen brüchig werden (können) oder in ihr Gegenteil verkehrt werden: “[…] our league was a space where we could learn to be unselfconscious about our bodies, where it avowedly didn’t matter how fat or thin you were […] We had found or made a space where women could be strong, powerful, aggressive, and assertive, and it was more or less a safe space in which we could do all those things” (S. 11). Es ist eine sich durch das ganze Buch ziehende besondere Qualität der Studie, dass Breeze ihre eigene emotionale und organisationale Involviertheit in das Roller Derby-Team, das sie beispielhaft beforscht, offen thematisiert und einer selbstreflexiven Bearbeitung zugänglich macht.
Diese Involviertheit und Nähe zum Forschungsgegenstand und den beforschten Personen findet sich auch im methodischen Vorgehen und in methodologischen Reflexionen wieder – die Autorin arbeitet mit dem Instrumentarium der ethnographischen Feldforschung und setzt diese in einem bemerkenswert partizipativen Forschungsstil um. Die Legitimität der Forschung wurde bereits im Vorfeld grundlegend mit allen Beteiligten diskutiert (vgl. S. 11–17.). Auch als Forscherin bleibt sie aktives Mitglied des Roller Derby-Teams, das sie exemplarisch beforscht – wenngleich sich ihr Status im Verlauf des Forschungsprozesses mehrfach verändert und sich letztlich von der zunächst aktiven und involvierten Skaterin und Forscherin hin zu einer eher ‚außenstehenden Forscherin‘ wandelt, die den Sport selbst nicht mehr aktiv betreibt (vgl. S. 16 f. sowie S. 171–174). Breeze vermeidet künstliche Distanzierungen – Interviews finden beispielsweise in gemeinsamen WG-Küchen statt, Protokolle aus der teilnehmenden Beobachtung im Feld werden allen Beteiligten zugänglich gemacht und für Anmerkungen geöffnet. Nicht nur die Erhebung der Daten, sondern auch der gesamte Umgang mit dem dokumentierten Material spiegeln diese Herangehensweise wider. Forschung wird hier selbst zum Teil der DIY-Kultur. Breeze und die jeweils Interviewten veröffentlichen Auszüge der transkribierten Interviews als zines (kleine gebastelte Heftchen, die in DIY-Kulturen einen üblichen Publikationsweg darstellen), gerahmt von kommentierenden Texten der Interviewten selbst, wodurch die Grenzen zwischen Forscherin und Beforschten sogar in Fragen der Publikation von Erkenntnissen durchlässig werden (vgl. S. 16 f.).
Breeze bewegte sich insgesamt 18 Monate als Forscherin im Feld. Neben der teilnehmenden Beobachtung führte sie insgesamt 22 halb-strukturierte Interviews, zwei Paarinterviews sowie ein Gruppeninterview mit Mitgliedern des beforschten Roller Derby-Teams durch, die alle transkribiert, codiert und ausgewertet wurden.
Roller Derby wurde aufgrund seiner Spezifik als selbstorganisierter und frauendominierter Sport bis dato v. a. aus Perspektive der Gender Studies untersucht (u. a. Beaver 2012). Mit ihrer Fokussierung auf die Frage nach der ‚Ernsthaftigkeit‘ von Roller Derby sowie auf den durch die Interviewten hervorgebrachten Topos des ‚Ernst-genommen-werden(-Wollens)‘ im Roller Derby eröffnet Breeze eine neue Forschungsperspektive auf das Feld, die zwar primär (sport-)soziologisch inspiriert ist, jedoch ebenso für alltags- und organisationssoziologische Debatten Relevanz entfaltet.
Sie legt ihrer Studie jedoch keine merkmalsorientierte soziologische Definition von ‚Ernsthaftigkeit‘ im Sport zu Grunde, die sie versucht, aus ihrem Material heraus zu bearbeiten. Vielmehr interessiert sie sich dafür, zu rekonstruieren, wie und warum die Interviewten diesen Topos immer wieder hervorbringen, und macht deutlich, dass in der einschlägigen Literatur der ‚Soziologie der Ernsthaftigkeit‘ diese Fragen vernachlässigt wurden (vgl. S. 24). Sie distanziert sich dabei deutlich von Angeboten der klassischen Soziologie, die Ernsthaftigkeit als Form der Professionalisierung linear denken und ausschließlich positiv bewerten. Dieser normativen Setzung, die Breeze vor allem in dem von Robert Stebbins 1992 etablierten Konzept der Serious Leisure Perspective verankert sieht, hält sie unter Bezugnahme auf John Law (2004) die Mehrdeutigkeit, Inkohärenz, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz von Prozessen des ‚Ernst-genommen-werden(-Wollens)‘ entgegen. Hier erscheint ‚Ernsthaftigkeit‘ als “‘recursive ordering pattern’ that is identifiable in ‘specific strategies of reflexivity and self-reflexivity’. From this perspective, seriousness, rather than a normative description of some forms of leisure, is generative of, and generated in, practice” (S. 28). Diese Perspektive, die Widersprüchlichkeiten ausdrücklich zulässt, ermöglicht es der Autorin, den Forschungsgegenstand Roller Derby in seinen Ambivalenzen zu erfassen, ohne vorhandene Dilemmata negieren zu müssen: “The dilemma skaters encountered is how roller derby might achieve recognition as a serious sport without losing its distinctiveness as a DIY women’s sport and without erasing itself in the process” (S. 31).
Vor diesem theoretischen Hintergrund überrascht es zunächst, dass Breeze im zweiten Kapitel bei der Rekonstruktion der Entwicklung des Roller Derby-Teams von der selbstorganisierten, women-led DIY-Sportgruppe hin zu einem wettbewerbsorientierten Team aus ihrem Material heraus dennoch zunächst eine binäre Struktur eines ,damals und heute‘ reproduziert, wie sie sie von den Interviewten vordergründig angeboten bekommt. Noch am Ende des Kapitels kritisiert die Autorin diese Lesart als komplexitätsreduzierend und revisionistisch in entweder romantisierender oder denunzierender Absicht (vgl. S. 60–62) und bekräftigt ihr Erkenntnisinteresse, nach den Praktiken und Zwischenräumen zu fragen: “What happens between ‘then’ and ‘now’?” (S. 62). Die Antwort darauf bleibt leider auch das folgende Kapitel schuldig. Zwar wird hier mit zahlreichen Passagen aus den Interviews gearbeitet, um die Veränderungen in der Organisierung und die Prozesse der Professionalisierung nachzuzeichnen, jedoch verbleibt das Kapitel vor allem auf einer deskriptiven Ebene, die Autorin beschreibt sehr kleinteilig, bisweilen zu detailliert, die Organisationsstrukturen eines Roller Derby-Teams, teaminterne Auseinandersetzungen um Aufgabenverteilung und Einflussnahme, seine Eingebundenheit in übergeordnete Verbandsstrukturen und damit verbundene Verbandspolitiken. So kann sie zwar die organisationalen Entwicklungen des Teams nachzeichnen, der Erkenntnisgewinn in Bezug auf die eigentliche Forschungsfrage bleibt allerdings gering.
Im vierten, sehr starken Kapitel „Just a Big Sexy Joke?“ kann Breeze dann aber schließlich sehr genau und empirisch fundiert rekonstruieren, wie in den alltäglichen Praktiken und Selbstidentifikationen der Roller Derby-Spielerinnen immer wieder ein ‚Sowohl-als-auch‘ aufscheint, das alle Konzepte eines Strebens nach ‚Ernsthaftigkeit‘, gedacht als lineare Entwicklung, obsolet werden lässt. Die befragten Spielerinnen verweigern sich in ihrer Praxis und Selbstbeschreibung der erwarteten Eindeutigkeit, in der eine neue Identität (die der ernstzunehmenden Athletin) nur um den Preis der Aufgabe der vorherigen (Rollergrrrl, das Sport eigentlich gar nicht mag) angenommen werden kann. Ihr Mittel der Verweigerung ist “the joke” – ein Sich-lustig-Machen, ein Lachen über beide normativen Setzungen und die damit verbundenen geschlechterstereotypen Zuschreibungen (sexy Rollergirl in Netzstrumpfhosen vs. degendered athlete) und Anforderungen an Verhaltensweisen: “In doing so participants laugh at imperatives to be serious and at their own failure to live up with them. […] Again we can see claims for recognition side by side with a joking disavowal, and something of a ‘fuck you’ to ‘any kind of authority’ which might find it hard to take seriously ‘athletes’ who revel their unhealthy diets and sneak outside at halftime for a cheeky cigarette” (S. 108). Die Gleichzeitigkeit eines ‚Nicht-Ernstnehmens‘ und dennoch ‚Ernstnehmens und Ernst-genommen-werden-Wollens‘ in Bezug auf das Roller Derby als Sport für Frauen, die keinen Sport mögen, und als Sport, für Frauen, die wirklich Sport mögen, – ebenso wie das gleichzeitige ,Ernstnehmen‘ der und ,Lachen über‘ die in einer binären Logik verfügbaren Identitätsangebote − arbeitet Breeze beeindruckend genau aus ihrem Material heraus. Gleiches gilt für die alltägliche Zurückweisung klassischer Angebote von Ernsthaftigkeit und der in ihnen angelegten Bipolarität und Normativität durch die befragten Spielerinnen.
Darauf aufbauend entwickelt Breeze ein theoretisches Modell der Non-/Seriousness, das sicherlich den Kern ihrer Studie darstellt. Non-/Seriousness betont die Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten sowie das (Sich-selbst-)Nicht-Ernstnehmen als Strategie von Seriousness: “Non-/Seriousness is a way to designate ambivalence and plurality without recourse to the binary implications of unseriousness, or notseriousness. When participants laugh at themselves as rollergirls and as athletes […] it is not necessarily the case that they are not taking themselves seriously” (S. 118). Die Autorin betont die Freiheit, die das Ausprobieren neuer Identitäten ermöglichen kann, während das fortwährende Lachen über eben jene neuen und alten Identitätsangebote gleichzeitig Sicherheit verschafft.
Non-/Seriousness bleibt eine alltägliche, in sich widersprüchliche Praxis, ohne dass einer linearen Logik folgend zu einem positiv zu bewertenden, determinierten Ende gelangt wird. Diese Denkweise ermöglicht es den in dieser Struktur handelnden Subjekten, ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren. Sie werden in die Lage versetzt, die Strukturen, statt von ihnen bestimmt zu werden, immer wieder (lachend) zu hinterfragen und zu verändern. Damit kann Breeze auch zum Neudenken eines der klassischen theoretischen Probleme anregen, nämlich inwiefern und ob es überhaupt möglich sei, Strukturen zu verändern, deren Teil man selbst ist (‘play the game and change the game’) (S. 155–159).
Mit ihrer Figur der Non-/Seriousness und dem Betonen von Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten schließt Maddie Breeze an die Tradition der poststrukturalistischen und feministischen Denker*innen an und leistet mit ihrer Arbeit einen wertvollen Beitrag dazu, mehr empirische Erkenntnisse darüber zu erlangen, was genau sich in dem “ambivalent middleground” (S. 156) zwischen „zwei Polen“ ereignet. Sie hat eine äußerst anregende und inspirierende Studie vorgelegt und mit dem Konzept der Non-/Seriousness ein spannendes Angebot gemacht, neu und anders über Prozesse des ‚Ernstnehmens‘, ‚Ernst-genommen-werden-Wollens‘ und der ‚Ernsthaftigkeit‘ nachzudenken. Besonders aber besticht die Studie durch ihre selbstreflexive Offenheit, die die (emotionale) Involviertheit der Forscherin, aber auch deren Phasen des (Ver-)Zweifelns im Forschungsprozess zu keinem Zeitpunkt verschweigt, sondern beides zum Anlass für methodologische Reflexionen nutzt.
Es ist ein sehr lesenswertes Buch – für Soziolog*innen, für Feminist*innen, nicht zuletzt für alle Rollergrrrls und Derbyathlet*innen − erfrischend und sehr lebendig geschrieben, von einer Autorin, die durch Selbstreflexivität beeindruckt und der es gelingt, sich den Versuchungen einer ,einfachen‘ Ordnung der Phänomene immer wieder zu verweigern.
Beaver, Travis D. (2012). „By the Skaters, for the Skaters“. The DIY Ethos of the Roller Derby Revival. In: Journal of Sport and Social Issues, 36 (1), (pp. 25−49).
Law, John. (1994). Organizing Modernity: Social Ordering and Social Theory. Oxford: Blackwell.
Stebbins, Robert A. (1992). Amateurs, Professionals, and Serious Leisure. Montreal, Kingston: McGill-Queen’s University Press.
Wiebke Dierkes
Philipps-Universität Marburg
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Erziehungswissenschaft
Homepage: https://www.uni-marburg.de/fb21/erzwiss/personal/hamitarbeiter/dierkes/index_html
E-Mail: wiebke.dierkes@staff.uni-marburg.de
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