Unschuldige Täter und schuldhafte Opfer – Konstruktionen sexueller Gewalt um 1900

Rezension von Hania Siebenpfeiffer

Tanja Hommen:

Sittlichkeitsverbrechen.

Sexuelle Gewalt in der Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs.

Frankfurt a.M. u.a.: Campus Verlag 1999.

305 Seiten, ISBN 3–593–36309–7, € 34,90

Abstract: Tanja Hommen untersucht die diskursiven Konstruktionen von Tätertypologien und Opferbildern in machtanalytischer und geschlechtsspezifischer Hinsicht. Materialgrundlage bilden zahlreiche wissenschaftliche Quellentexte, deren Täter- und Opferfestlegungen mit Schilderungen aktenkundig gewordener historischer Rechtsfälle kontrastiert werden. Im Zentrum der Untersuchung stehen die diskursiven Strategien der Umkehrung von Täter- und Opferpositionen, die aus dem gewalttätigen Mann das Opfer sexueller Verführung und Triebabhängigkeit, und aus der Frau im Gegenzug eine hysterische und damit unglaubwürdige Zeugin machen. Da Hommen die Analyse der publizistischen Bearbeitung von Sittlichkeitsverbrechen ausspart, bleibt die mögliche Besonderheit der öffentlichen Wahrnehmung von Sittlichkeitsverbrechen leider unreflektiert und der Arbeit fehlt dadurch ein Bindeglied zwischen Spezialdiskursen einerseits und ihrer juristischen Anwendung auf den Einzelfall andererseits. Dies schmälert die Leistung dieser überzeugenden Studie jedoch nur geringfügig.

Tanja Hommen erschließt mit ihrer 1998 als Dissertation an der Universität Bielefeld angenommenen Studie über „Sittlichkeitsverbrechen“ ein Themengebiet, dem sich - wie sie in ihrer Einleitung schreibt - die Geschichtswissenschaft lange verweigerte (vgl. S. 9). Gegenstand ihrer Untersuchung ist die sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder nicht nur als Vergewaltigung, sondern auch als sexuelle Belästigung, Ausbeutung und Nötigung. Die Autorin wählt hierzu eine sowohl machtanalytische als auch geschlechtsspezifische Herangehensweise, indem sie die strukturelle Verzahnung von Macht und Geschlechtsspezifität in den Mittelpunkt stellt und sich ihr diskursanalytisch nähert.

Durch die Konzentration auf den Zeitraum des Kaiserreichs unterwirft Hommen ihren Gegenstand einer dezidiert historischen Perspektive: Es geht nicht um sexuelle Gewalt an sich, sondern um die spezifischen Konstruktionen, denen Täter und Opfer um 1900 unterworfen waren. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums ist durch die Einführung des Reichsstrafgesetzbuchs als allgemeiner Rechtsgrundlage im Zuge der Reichsgründung 1871 und der Entstehung des Kriminalitätsdispositivs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, das den modernen „kriminellen Menschen“ hervorbrachte, begründet.

Diskursivierungen der Gewalt

Im Rekurs auf Foucault bedient sich Hommen in ihrer Untersuchung einer diskursanalytischen Methodik, mit der sie Täter- und Opferkonstruktionen als Effekte machtgestützter Diskursivierungen analysiert. Sexuelle Gewalt ist, wie jede Form der Gewalt, zugleich Ausdruck und Bestandteil von Machtverhältnissen, hier männlicher Herrschaft über die Frau und das Kind, die der Aufrechterhaltung der geschlechtsspezifischen Machtverteilung dienen. Täter wie Opfer sind dabei eingebunden in ein komplexes Diskursgefüge aus Macht und Wissen, das ihnen bestimmte Positionen zuweist.

Als Materialgrundlage zur Analyse dieses geschlechtsspezifisch geprägten Machtkomplexes dienen wissenschaftliche Abhandlungen, Lehrbücher, Fachartikel, Gesetzeskommentare und -auslegungen ebenso wie zahlreiche Gerichtsakten, in denen historische Fälle sexueller Gewalt dokumentiert sind. Die Kombination von Wissenschaftstexten mit Texten aus der strafrechtlichen Praxis macht einen besonderen Reiz der Studie aus, denn Hommen untersucht die Konstruktionen der Täter und Opfer nicht nur innerdiskursiv, sondern stellt dieser die Funktion und Anwendung wissenschaftlicher Postulate in der strafrechtlichen Praxis gegenüber. Durch die Kontrastierung spezialdiskursiver Wissensbestände mit den konkreten lebensweltlichen Erfahrungen von Frauen und Mädchen um 1900, die aus den Akten sprechen, gelingt es Hommen, das Wechselspiel zwischen abstrakter wissenschaftlicher Theoriebildung und konkretem individuellem Erleben in den Blick nehmen.

Tätertypologien und Opferbilder

Die zwar nicht kenntlich gemachte, aber in der Argumentation zutage tretende Unterteilung des Buches in zwei Segmente, von denen das erste die Diskursivierungen (S. 23–97) und das zweite die Einzelfallkonstruktionen (S. 98–208) in den Blick nimmt, trägt diesem Wechselspiel Rechnung, auch wenn sich v.a. die Kapitel des ersten Teils sehr stark an den Einzelaspekten einer juristischen Fallkonstruktion orientieren.

Hommen fragt nach den Funktionen, die die Konstruktionen von Tatbeständen, von Tätertypologien und von Opferbildern um 1900 erfüllten. Als Gegenstände des Kriminalitätsdispositivs bedingten sie sich zugleich gegenseitig. So waren - wie Hommen ausführt - die Tatbestände der „Notzucht“ (§177 RStGB) und der „unzüchtigen Handlung“ (§176 RStGB), die sexuelle Gewalt rechtlich definierten, undenkbar ohne den Begriff der „weiblichen Geschlechtsehre“, der nur diejenigen Frauen als Opfer gelten ließ, die eine solche vor der Tat besaßen. Die Bindung von „Notzucht“ an das Tatbestandsmerkmal „Geschlechtsehre“ schloss nicht nur Prostituierte als Opfer tendenziell aus. Sie zielte vor allem nicht auf die Wahrung des bürgerlichen Rechts auf körperliche und seelische Integrität, sondern stellte den „sozialen Wert“ der Frau in den Mittelpunkt. Wie Hommen überzeugend darlegt, bestand das eigentliche Skandalon des Sittlichkeitsverbrechens in der Verletzung der männlichen Besitzstände, d. h., der Ehre der Frau und der Intaktheit der Familie (S. 48–63). Zeichnete sich der juristische Diskurs durch die männliche Besitzstandswahrung aus, so folgten die übrigen Diskurse einer Strategie der Entschuldung des Täters.

In der Herausarbeitung dieser Strategien liegt die wesentliche Leistung der Untersuchung. Anhand ihres Materials weist Hommen nach, dass sowohl die Typologie des Sittlichkeitsverbrechers als eines triebhaften, pathologischen und somit tendenziell unzurechungsfähigen Mannes als auch die Konstruktion des weiblichen Opfers als einer entweder hysterischen, von sexuellen Wahnvorstellungen besessenen und somit unglaubwürdigen Zeugin oder einer sexuell überaktiven Verführerin das Schuldverhältnis zwischen Täter und Opfer umkehrt. Der Mann wird zum unzurechungsfähigen und somit nicht schuldfähigen Opfer seines „normalen“ männlichen Sexualtriebs und einer verführenden Frau der Frau wird ihre Opferposition durch Negieren der Tat oder durch ihre Stigmatisierung als „eigentliche“ Täterin abgesprochen.

Alltagserfahrungen

Der zweite Teil der Untersuchung ist der Analyse aktenkundig gewordener Sittlichkeitsverbrechen gewidmet, die zwischen 1876 und 1903 vor verschiedenen Landgerichten und Strafkammern in Ober- und Niederbayern verhandelt wurden. Der Schwerpunkt liegt auf den dörflichen Machtstrukturen; die Situation in den Städten bzw. größeren Ortschaften kommt lediglich am Rande zur Sprache.

Die in den Gerichtsakten aufgehobenen Fallberichte werden nicht als Dokumente mit authentischem Aussagewert gelesen, sondern als Bestandteile einer Konstruktion, die formalisierten sprachlichen und argumentativen Regeln unterworfen waren. Diese übertrugen nicht nur den Rechtsfindungsakt in die sprachliche Struktur der Fallerzählung, sie griffen zugleich in die sprachlichen Gewohnheiten, in die Chronologie des Erlebens und in die Erinnerungen der betroffenen Frauen und Kinder ein. Ein besonderes Problem stellte - wie Hommen aufzeigt – die sexuelle Unwissenheit missbrauchter Kinder dar, denn diesen fehlte fast immer eine Sprache, mit der sie ihr Erleben beschreiben konnten (S. 159–162), wohingegen die Frauen, die diese Sprache besessen hätten, ihrer Ausdrucksweise beraubt wurden, indem sie sich der Wissenschaftssprache anpassen mussten (S. 100–103).

An dieser Stelle der Untersuchung macht es sich bemerkbar, dass Hommen leider auf die Einbeziehung publizistischer Falldarstellungen von Sittlichkeitsverbrechen vollständig verzichtet hat. Gerade der an die öffentliche Wahrnehmung unmittelbar angeschlossene Bereich des Publizistischen hätte als Interdiskurs ein brauchbares und in der Argumentation der Arbeit sinnvolles Bindeglied zwischen den spezialisierten Darstellungen der Diskurse und dem konkreten Einzelfall dargestellt und etwas über die Alltagsbeurteilungen von Tätern und Opfern außerhalb der unmittelbaren Betroffenheit und des wissenschaftlichen Spezialistentums verraten. Dessen ungeachtet liegt mit Hommens Studie eine nicht nur für Geschichtswissenschaftler/Innen interessante und eindrucksvoll argumentierende Studie zu einem Thema vor, das seine Brisanz und Aktualität noch lange nicht verloren hat.

URN urn:nbn:de:0114-qn031182

Hania Siebenpfeiffer (M.A.)

Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

E-Mail: hania.siebenpfeiffer@rz.hu-berlin.de

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