Kirstin Mertlitsch:
Sister – Cyborgs − Drags.
Das Denken in Begriffspersonen der Gender Studies.
Bielefeld: transcript Verlag 2016.
278 Seiten, ISBN 978-3-8376-3349-8, € 34,99
Abstract: Kirstin Mertlitsch umreißt mit ihrer Dissertation einen Ausgangspunkt für die (Neu-)Formulierung feministischer und queerer Philosophie. Einer universellen männlichen „ratio“ stellt sie das Konzept der Begriffspersonen gegenüber. Das Denken an diesen entlang und durch sie geschehe in Körperlichkeiten und Gesellschaft situiert, zugleich durch Wissen wie durch Affekte. Die Alltagspraxen der Begriffspersonen visieren zugleich neue Horizonte eines Anders-Werdens an, womit sie zugleich affizierend und gestaltend auf die Leser_innen wirken. Mertlitsch arbeitet die ‚Denk-Bewegungen‘ der ‚Sister‘, des ‚Nomadic Subject‘, der ‚New Mestiza‘, der ‚Cyborg‘ und der ‚Drag‘ heraus und analysiert die von ihnen ausgehenden Transformationen epistemologischer Prozesse.
Das Format des Denkens in Begriffspersonen ist Gegenstand von Kirstin Mertlitschs Dissertation. Sie betrachtet diese in ihrer philosophisch-erkenntnistheoretischen Arbeit im Anschluss an Deleuze/Guattari als je eigenlogische textuelle Produktionseinheiten von Wissen und Affekten zugleich, wodurch sie über die Repräsentation (historischer) gesellschaftlicher Strukturen durch Sozialfiguren hinausgehen. Durch ihre transformierende Praxis läuteten sie dahingegen aktiv ein neues ‚Zeitalter‘ ein, wie sie auch Ausdruck von gesellschaftlichen Verschiebungen (technologischer oder sozialer Form) und von Umgangsstrategien mit bestehenden Verletzungen (Kolonialismus, Verwerfung der Weiblichkeit, Zweigeschlechtlichkeit) seien. Begriffspersonen sind, so die Autorin, in ihrer Materialität und Körperlichkeit immer schon mit spezifischen Denk-Bewegungen verbunden: Diese gehen von ihnen aus und konstituieren sie zugleich. Mertlitsch betrachtet in ihrem Projekt ausgewählte prominente Begriffspersonen und macht dabei die bestehenden queeren und feministischen Denk-Bewegungen für eine Re-Formulierung philosophischen Arbeitens fruchtbar. Sie bearbeitet die „fünf meist rezipierten Figuren innerhalb der Gender und Queer Studies“ (S. 9): die in vielen Arbeiten der zweiten Welle der Frauenbewegung implizit aufgerufene Sister, das Nomadic Subject von Rosi Braidotti, Gloria Anzaldúas New Mestiza, die Cyborg nach Donna Haraway und Judith Butlers Ausführungen zur Drag. Diese Auswahl – nur einleitend angerissen werden dahingegen Personen wie Jack Halberstams ‚Lady Gaga‘ (2013) oder Judith Butlers ‚Antigone‘ (2001) – analysiert sie anhand zentraler politisch-aktivistischer Werke und einflussreicher Kommentare in drei Schritten.
Mertlitsch widmet sich im ersten der drei zentralen Teile der Arbeit der Rekonstruktion der Sister. Von Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft bis zu Audre Lorde verfolgt sie die Ansätze und Problematisierungen einer Schwesterlichkeit. Als Gegenbewegung zur patriarchalen und exklusiv-universalen Fraternité sei mit dieser versucht worden, Unterstützungsstrukturen für Frauen aufzubauen und eine (politische) Repräsentation einzurichten. Die Abbildung von Handlungsfähigkeit, Bewusstsein und Identität beziehe sich dabei auf Werte der Moderne wie „individuelle Freiheit [und] Rationalität“ (S. 40) – die unterliegenden weißen westlichen Denkstrukturen seien (historisch) aufgrund ihres Ausschlusscharakters kritisiert, in der Anwendung der Sisterhood auf Schwarze communities aber nicht überarbeitet, sondern nur ausgeweitet worden.
Innerhalb dieses Rahmens vollziehe die Sister vier (politische) Denk-Bewegungen. Mit dem Appellieren werde ein „Akt des Verschwesterns“ (S. 48) angerufen und zur Haltung der Sisterhood, der Solidarität und des Kampfes aufgefordert. Eine gleiche Betroffenheit durch das Patriarchat stelle eine Nähe zwischen Frauen und auch zwischen Autor_in und Leser_in her. Das Verkollektivieren konstitutiere – trotz der Einsicht in die Unmöglichkeit einer globalen Homogenität – eine Gemeinschaft. Als ‚absolute Metapher‘ fungiert, so die Autorin, die Sisterhood als phantasmatischer Mythos, der in seiner Unbestimmtheit das „Begehren nach Ganzheit, totaler Harmonie, Vollständigkeit und Universalismus“ (S. 60) weckt. Das Solidarisieren strebe auf einen gemeinsamen Kampf hin – Verbundenheit, Verpflichtung und Parteilichkeit entstehe durch ein Mitgefühl unter den Sisters. Die Opposition zu einem gemeinsamen Gegner und die Vervollständigung des Selbst durch die jeweils andere ermögliche es der Sister, zur affektiven Referenz der Äquivalenzkette unter gleich(gemachten) Frauen zu werden. Das Familiarisieren sichere diese Bindungen schließlich über eine Natürlichkeit der Familienmetapher ab. Dies kritisiert Mertlitsch, verwirft die Sister als politische Bewegung aber nicht, sondern reformuliert sie als Politik einer „Freund_innenschaft“, die auf „Wohlwollen, Zuneigung, Sympathie [basiert], die sich als politische und ethische Haltung anderen Menschen gegenüber ausdrückt, sowie auf einem geteilten Interesse an der Welt“ (S. 88). Die Autorin wirft anschließend dennoch die Frage auf, wie nach einer Kritik des mit sich selbst identischen Subjekts und der Politik der Ähnlichkeit noch kollektive Denk-Bewegungen möglich sein und wie diese affektiv gestiftet werden könnten. Dazu betrachtet sie die weiteren Begriffspersonen, die sich als postkoloniale, poststrukturalistische und neo-materialistische Projekte von der Sister abgrenzen.
Im zweiten Teil der Arbeit rekonstruiert Mertlitsch diese Begriffspersonen. Sie seien jeweils zwischen Grenzen angesiedelt, würden jene verkörpern und zugleich zu überschreiten versuchen: geschlechtlich, territorial oder ontologisch. Als hybride und verworfene Subjekte der 1980er und 1990er Jahre, so führt die Autorin aus, stellen sie jeweils eine für die Gender und Queer Studies zentrale Denk-Bewegung dar: Das Nomadic Subject strebe nach einem Frau-Werden. Aufgrund der Negation orginärer und selbstidentischer Weiblichkeit in einer patriarchalen Kultur sei Widerstand in Form der Entwicklung jener Weiblichkeit sowohl geboten wie auch zugleich unmöglich, weshalb sich Frau-Werden in einem wandernden Nomadentum ausdrücken müsse. Notwendig sei es dafür – auf ontologischer Basis der strategischen Essentialisierung sexueller Differenz – verschiedene nicht-identische Mythen zu schaffen: Weiblichkeit sei nicht zu verwerfen, sondern über eine Binarität hinaus zu multiplizieren. Ebenso in Bewegung sei, so Mertlitsch, die Begriffsperson der New Mestiza. Als Figur der Liminalität, die sich beständig in der Grenzzone, dem Borderland, aufhalte, sei sie in diesem körperlich situiert und erlebe die Grenze deshalb auch affektiv. In der Mischung aus Analysen und Poesie und in der Verwebung verschiedener Sprachen drücke sich textuell die Denk-Bewegung des Ent-Grenzens aus, die sich inhaltlich in den Versuchen zeige, die hetero-sexistischen Grenzziehungen des Patriarchats der Chicana/o-Kultur und die Rassismen der (Re-)Kolonialisierung zu überschreiten und ein neu geheiltes (Bewusst-)Sein in der New Mestiza zu entwickeln.
Die Cyborg verortet Mertlitsch als eine ebensolche Überschreitung von Grenzen mit der Denk-Bewegung des Vernetzens. Zum einen werde die Cyborg durch diese verkörpert, da sie zwischen Mensch-Maschine-Tier, männlich-weiblich und Natur-Kultur situiert sei und sich damit zugleich zwischen Körperlichkeit und Semiotik positioniere. Zum anderen entstehe sie auch erst durch das Vernetzen, indem zahlreiche Mythen über sie ohne Bezug auf einen letztgültigen Ursprung zusammengewoben werden würden – dabei imaginiere sie auch eine von ihr ausgehende Zukunft, in der sich Dichotomien auflösten und ein anderer rationaler wie affektiver Umgang mit Welt und Technik entstehe. Gleichsam durch ihre Denk-Bewegung werde die Drag konstituiert: Im Wechselspiel aus theatraler Performance und sprachphilosophischer Performativität, so die Autorin, weist die Praxis des Re-Inszenierens auf die Entnaturalisierung der Geschlechterdarstellung durch Imitation, auf deren Verschiebung durch Iteration und auf die Multiplikation von geschlechtlichen Vorlagen durch die Parodie hin. Die Drag sehe ein, durch Machtwirkungen konstituiert zu sein, begehre zugleich gegen diese auf und strebe in Versuchen der Ent-Unterwerfung ein Anders-Werden an.
Die Gemeinsamkeiten der Denk-Bewegungen (queer-)feministischer Begriffspersonen führt Mertlitsch im dritten Teil der Arbeit zusammen. Die Betonung des Prozesscharakters des Werdens weise darauf hin, dass die Begriffspersonen nicht durch ein Sein, sondern durch ein Tun bestimmt seien – sie würden sich nur und erst durch ihre Bewegungen im jeweiligen Denken konstituieren. Zugleich sind die Begriffspersonen, so die Autorin, aber verortet: Mit ihrem Körper und ihren Gewalterfahrungen stellen sie einen Raum her, den sie zugleich einnehmen und auf den sie verwiesen sind. Die Denk-Bewegungen seien deshalb jeweils geprägt durch Affekte, die von diesen Positionierungen ausgehen würden, in ihrem Ursprung und Ziel aber dennoch nicht bestimmbar seien. Insbesondere in diesem Un(be)greifbaren drückten sich die Begriffspersonen und damit die Handlungsfähigkeit ihrer Ontologie aus. Mertlitsch leitet daraus eine dreifache Situierung von Begriffspersonen ab: erstens als queere Intersektionalität, da kategoriale Grenzen sowohl überschritten als auch infrage gestellt würden; zweitens in einer Immanenzebene der Materialität nach Deleuze, da sie durch körperliche Affekte aufgrund ihrer räumlich-sozialen Position bestimmt seien; drittens in einer Ontoepistemologie nach Karen Barad, da sie nicht durch ein Sein, sondern in ihrer materiellen Verortung durch ein Tun bestimmt würden.
Das Denken der Begriffspersonen sei zugleich von einer Alterität durchdrungen: Dies macht „ein Denken des Anderen/der Anderen begreifbar, das ein Spezifikum der Gender Studies ist“ (S. 183). Die Begriffspersonen begehrten dabei jeweils das Andere: nicht als einzuverleibendes Objekt, sondern in Form von Selbstkritik und Versuchen eines Anders-Werdens. Sie strebten eine utopische Transformation des Selbst an und eröffneten damit zugleich neue (politische) Horizonte. Als „Anti-Held_innen“ (S. 223) begründeten sie einen Paradigmenwechsel. Das Paradox, dass die jeweils singulären Bewegungen der Alterität der postmodernen Begriffspersonen nun zu allgemeinen Visionen und Denk-Bewegungen der Gender Studies werden, erklärt Mertlitsch durch deren Queerness: Nicht mehr werden wie durch die Sister Affekte durch Ähnlichkeit, Nähe und Identität übertragen, sondern das ereignishafte „Intermezzo“ (S. 230) des Uneindeutigen, des Verworfenen und Undenkbaren übt eine Spannung und Faszination aus – insbesondere wenn es durch Praxen der Dis-Identifikation der Begriffspersonen in die bestehende Ordnung integriert wird und diese trotzdem überschreitet. Auf diese Weise ergriffen würden auch die Leser_innen eine Transformation erfahren: Die Rezipient_innen würden in die Begriffspersonen hineingesogen und von ihnen angesteckt und verwandelten sich gleichsam selbst in sie. Verkollektivierungen wie die Ausbildung von Drag communities oder der Sisterhood seien die Folge. Als „happy objects“ stellen die Begriffspersonen dabei das „Bindeglied dar bzw. sind das gemeinsame Begehrensobjekt“ (S. 244).
Mertlitschs mit konsequenter Schärfe durchgeführte und strukturierte Rekonstruktion, die anspruchsvoll, aber dennoch gut zu lesen ist, sowie die umfangreiche Einbettung der Begriffspersonen in zeitgenössische wie klassische Literatur stellt insgesamt einen richtungsweisenden Beitrag zur queeren und feministischen Philosophie dar, indem sie ein Denken jenseits der männlichen ratio eröffnet. Die Autorin perspektiviert eine Philosophie, die den Körper-Geist-Dualismus überwindet, überarbeitet sowie integriert und formuliert damit eine mögliche Antwort auf das zentral von Andrea Maihofer analysierte binäre Denksystem der Moderne (1995). Im Kontext gegenwärtiger Debatten des New Materialism, in denen Theorieproduktion in materieller Eigendynamik fundiert wird (paradigmatisch Barad 2003), unternimmt Mertlitsch eine konzeptionell vielfach angemahnte Konkretisierung einer Integration (Ahmed 2008, van der Tuin 2011): Sie zeigt eine konkrete Möglichkeit für eine ontoepistemologische Reorganisation der Philosophie auf, in der weder die geistige Subjektivität noch die affektive Körperlichkeit vergessen, sondern ebenjene verschränkt werden. Zugleich macht sie damit die Ikonen der Gender und Queer Studies auf neue Weise fruchtbar und unterzieht diese dabei gerade aufgrund ihres unhinterfragten Status einer notwendigen Analyse. Zu kurz kommt dabei lediglich die Reflexion der Ikonisierung aus einer machtanalytischen Perspektive: Wer wird wie und auf welche Weise von wem affiziert? Und wie sind darin Machtstrukturen verwoben?
Die Autorin zeichnet schließlich Prozesse nach, die für ein Anders-Werden nicht in der Revolution, sondern am (Alltag des) Selbst ansetzen und die zugleich nicht Gedankenexperimente eines scheinbar befreiten Denkens darstellen, sondern den gesellschaftlichen Strukturen immanent sind. Sie eröffnet das Mit-Denk-Bewegen mit den Begriffspersonen als ontoepistemologische Erkenntnispraxis. Für die Erörterung dieser komplexen Sachverhalte scheinen dann auch einige Redundanzen notwendig. Die Fokussierung auf dieses Format bildet zugleich auch die Beschränkung von Mertlitschs Projekt. So bezieht sie sich zentral auf Antke Engels Konzept der ‚VerUneindeutigung‘ (2002), um die Queerness der postmodernen Begriffspersonen und damit ihr affizierendes Potential gegenüber der Leser_in zu bestimmen. Eine genaue Erörterung des Queeren jenseits seiner Position als Verworfenes findet aber nicht statt: Engels Ansatz von Denormalisierung und Enthierarchisierung wird nicht aufgegriffen, wie auch Mertlitsch keinen Versuch unternimmt, die Struktur des Queeren neu anhand der Begriffspersonen zu erarbeiten. Die spezifische Definition des queeren Charmes der Begriffspersonen bleibt so letztlich unbestimmt – und muss dies in ihrer Argumentation einer Singularität vielleicht auch –, wird in seinen Effekten und Affekten aber trefflich diskutiert. Eine Lektüre empfiehlt sich so im Speziellen für Interessierte queerer und feministischer Philosophie oder Theorie – die Anschlussfähigkeit für queere oder geschlechtersoziologische oder -kulturanalytische Arbeiten über eine Reflexionsebene hinaus ist dahingegen beschränkt.
Ahmed, Sara. (2008). Some Preliminary Remarks on the Founding Gestures of the ‘New Materialism’. European Journal of Women’s Studies, 15(1), pp. 23−39.
Barad, Karen. (2003). Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. Signs, 28(3), pp. 801−831.
Butler, Judith. (2001). Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Lebe und Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Engel, Antke. (2002). Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Halberstam, J. Jack. (2013). Gaga Feminism. Sex, Gender and the End of Normal. Boston: Beacon Press.
Maihofer, Andrea. (1995). Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt am Main: Helmer.
Van der Tuin, Iris. (2011). New Feminist Materialisms – Review Essay. Women’s Studies International Forum, 34(4), pp. 271−277.
Folke Brodersen
Deutsches Jugendinstitut München, Abteilung Jugend, Fachgruppe Lebenslagen und Lebensführung Jugendlicher
E-Mail: brodersen@dji.de
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