Madeline Doneit, Bettina Lösch, Margit Rodrian-Pfennig (Hg.):
Geschlecht ist politisch.
Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung.
Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2016.
252 Seiten, ISBN 978-3-8474-0651-8, € 28,00
Abstract: Der Sammelband befasst sich mit Stand und Stellenwert der Diskussion um Geschlecht in der politischen Bildungsarbeit, mit dem Ziel, zu einer Aktualisierung der Debatte um geschlechterreflexive Bildungsarbeit beizutragen. Diesem Fragenkomplex gehen die Autor*innen aus theoretischer und bildungspraktischer Perspektive nach. Dabei räumen sie der konkreten Praxis politischer Bildungsarbeit viel Platz ein und liefern eine spannende Diskussionsgrundlage für theoretisch informierte Praxisreflexionen und praktisch informierte Theoriebildung. Die darin liegenden Widersprüche bilden erfrischenderweise den Ausgangspunkt und nicht den Endpunkt des Bandes.
Der 2016 von Madeline Doneit, Bettina Lösch und Margit Rodrian-Pfennig herausgegebene Sammelband Geschlecht ist politisch: Geschlechterreflexive Perspektiven in der politischen Bildung verbindet Beiträge, in denen die theoretischen Grundlagen der Gender Studies und von geschlechtsspezifischen Perspektiven in der politischen Bildungsarbeit bearbeitet werden, mit solchen, in denen nach gender- und queer-theoretischen Perspektiverweiterungen und Reflexionen in der Praxis gefragt wird. Der Titel spiegelt dabei die Gegenwartsdiagnose der drei Herausgeberinnen* wider, die Geschlecht als gesellschaftlich umkämpft verstehen: Der Pluralisierung von Lebensweisen und den gleichstellungspolitischen Errungenschaften stehen zunehmend Forderungen nach Retraditionialisierung und Status-quo-Verteidigung von rechter, konservativer Seite gegenüber. Mit der Thematisierung von Geschlecht in politischer Bildungsarbeit verbinden die Herausgeberinnen* das explizit gesellschaftskritische Anliegen, in dieser Gemengelage Position zu beziehen und „über Analyse hinaus auf die Stärkung von Kritikfähigkeit und die Möglichkeit kollektiver, solidarischer Handlungsfähigkeit“ (S. 12) zu zielen. Dieser Anspruch zeigt sich beispielsweise in Ines Pohlkamps Artikel zum Umgang mit Abwehrhaltungen in der geschlechterreflexiven Bildungsarbeit. Darin argumentiert sie, dass ein konstruktivistisches Subjektverständnis nicht nur deshalb grundlegend sein sollte, um politische Bildung und Politikdidaktik auf den Stand der Gender Studies zu bringen, sondern auch um nachhaltig gegen Widerstände arbeiten zu können.
Die Überschrift „Geschlecht ist politisch“ kann entsprechend als Intervention verstanden werden, die erstens die gesellschaftstheoretische Bedeutung von Geschlecht hervorhebt, zweitens Geschlecht und Heteronormativität als Gegenstand politischer Bildung behandelt und dabei drittens auf politische Handlungsfähigkeit ausgerichtet ist. Die Spielräume für letztere werden von den Autor*innen allerdings unterschiedlich optimistisch eingeschätzt.
In einem Beitrag von Bettina Lösch und Maryam Mohseni werden die Ergebnisse eines Forschungsprojekts an der Universität Köln vorgestellt, wonach gerade in der geschlechterreflexiven Politikdidaktik der Bezug zu aktuellen Entwicklungen und Themen in den Gender und Queer Studies fehle. Auf dieses Forschungsergebnis bezugnehmend, wollen die Herausgeberinnen* des Bandes Möglichkeiten und Herausforderungen einer Neuausrichtung geschlechterreflexiver politischer Bildungsarbeit im engen Austausch mit diesen Forschungsfeldern ausloten. Mit der queer-feministischen Perspektive, die sie zu Beginn als erkenntnisleitend definieren, sind sie um das Verbinden verschiedener Ansätze bemüht und wollen an traditionelle Ansätze der geschlechterreflexiven politischen Bildungsarbeit anknüpfen. So soll Geschlecht sowohl als Strukturzusammenhang als auch auf diskursiver und sprachlicher Ebene der Geschlechterordnung betrachtet werden. In Bezug auf Identitätsprozesse und -zuschreibungen soll darüber hinaus gerade der Gleichzeitigkeit von Brüchigkeit und Gewaltförmigkeit der Geschlechterverhältnisse Rechnung getragen werden.
Wie Madeline Doneit in ihrem knappen, aber gelungenen Überblick über aktuelle Perspektiven der Gender Studies betont, geht es dabei um Anregungen zur Erweiterung von Perspektiven und zur Selbstreflexion. Die unterschiedlichen Antworten auf die widersprüchliche Erkenntnis, „dass die Kategorien Frauen und Männer zwar theoretisch dekonstruiert werden können, sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Realität allerdings in sozialen Ungleichheiten und leidvollen Erfahrungen materialisieren,“ (S. 31 f.) sollen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzend einbezogen werden. Dieses Anliegen wird in den Beiträgen aufgegriffen und bereits in den ‚Grundlagen‘ durch die Formulierung ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte eingebracht. Hier wird Geschlecht beispielsweise als heteronormative Strukturkategorie (Bettina Lösch) oder soziale Konstruktion konzipiert (Madeline Doneit), geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den Mittelpunkt gestellt (Margit Rodrian-Pfennig) und der Ansatz einer ‚Pädagogik vielfältiger Lebensweisen‘ vorgestellt (Jutta Hartmann). Dabei lassen sich die verschiedenen Konzeptionen eben nicht einfach nebeneinander, sondern gerade ergänzend lesen.
Geschlechterreflexive politische Bildungsarbeit kritisch weiterzuentwickeln bedeutet in diesem Sinne nicht, alles über Bord zu werfen, was innerhalb dieser Disziplin den letzten Jahrzehnten angewandt wurde. Es geht nicht um ein (Er-)Mahnen politischer Bildner*innen mit „erhobene[m] Zeigefinger“ (Doneit, S. 34), sondern um die Erweiterung des Bestehenden. Die Herausforderung besteht darin, die Gleichzeitigkeit von Dekonstruktion und Persistenz der Geschlechterverhältnisse und die daraus resultierende Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen, oder wie es Johanna Schmitz in ihrem Beitrag ausdrückt: Es geht um den „Mut zur Theorie-Praxis-Lücke“ (S. 177), darum, anzuerkennen, dass sich die Ambivalenzen nicht auflösen lassen. Dieses Unterfangen gelingt dem Band durchaus. Leser*innen finden einerseits konkrete Anregungen für die praktische Arbeit und andererseits theoretische Unterfütterung für das politisch bildnerische Handeln. Verschiedene Beiträge bieten einen Einblick in die Geschichte politischer Bildungsarbeit zu Sexualität und Geschlecht – mit dem Fokus auf Männlichkeit, LGBTI*, Jungen_- oder Mädchen_arbeit – und entwickeln daran anknüpfend Konzepte, die auf einem nicht-binärem Verständnis von Geschlecht basieren. Michael Cremers und Mart Busche argumentieren dahingehend überzeugend, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Geschlechterinszenierungen sowie Trans*- und Inter*-Geschlechtlichkeit trotz oder gerade aufgrund persistenter Geschlechterverhältnisse Teil von Jungen_arbeit sein kann und sollte. Die Lektüre des Bandes kann in diesem Sinne sowohl Ausgangspunkt für theoretische an Bildungsszenarien orientierte Diskussionen sein als auch tiefergehende Auseinandersetzungen im Feld der geschlechterreflexiven politischen Bildung anregen.
Ein weiterer roter Faden in dem Band ist ein Plädoyer für einen alltagsweltlichen Bezug in der Bildungsarbeit, der die Erfahrung heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit in kritischer Absicht einbezieht. Dies gilt für schulische und außerschulische Bildung und auch für Hochschuldidaktik. Besonders hilfreich ist in dieser Hinsicht der Artikel von Urmila Goel und Alice Stein, der in ähnlicher Form bereits veröffentlicht (Goel/Stein 2012) und für den Band überarbeitet wurde. Ihr auf der langjährigen Erfahrung in unterschiedlichen Bildungssettings aufbauendes Plädoyer für Fehlerfreundlichkeit und ihre Bereitschaft zu Konflikten bei der Thematisierung der Machtverhältnisse ist eine produktive Praxisanleitung und -reflexion.
Unberücksichtigt bleiben allerdings die Spezifika der schulischen Politikdidaktik, deren Mangel an einer geschlechterreflexiven Perspektive zu Beginn des Bandes thematisiert wird. Die konkreten Beispiele drehen sich eher um Bildungsszenarien, in denen Geschlecht bzw. Geschlechterverhältnisse explizit Thema werden und keine Einschränkung durch einen festgelegten Lehrplan vorhanden ist. Offen bleibt daher die Frage, wie geschlechterreflexive Bildung im Unterricht aussehen kann, in dem Machtverhältnisse nicht direkt Thema sind, sondern beispielsweise Wahlsysteme oder politische Theoriegeschichte. Das Offenbleiben dieser Frage ist sicherlich gerade durch die Marginalisierung geschlechterreflexiver Themen im Fachgebiet bedingt. Wie Susanne Schwartze in ihrem Beitrag anmerkt, muss grundsätzlich auch die Genderreflexivität von Lehrkräften behandelt werden. Die Berücksichtigung der Rahmenbedingungen im schulischen Unterricht stellt eine Herausforderung für die weitere Bearbeitung des Themenfeldes dar.
Trotz der benannten Einschränkung finden all jene, die mit Lehre und Bildung befasst sind, in dem Band Anregungen für ihre Arbeit. Durch die vielfältigen Beiträge wird der in der Einleitung formulierte Anspruch erfüllt, zu einer Aktualisierung der Debatte um geschlechterreflexive Bildungsarbeit beizutragen. Die gut verständlich verfassten Texte liefern eine fundierte Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung – sicher auch in Bezug auf Praxisfelder, die nicht direkt behandelt werden. Diese Veröffentlichung ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil geschlechterreflexive Bildungsarbeit und ihre Orte immer wieder verdrängt werden und weiterhin oder gerade jetzt erkämpft werden müssen.
Goel, Urmila/Stein, Alice. (2012). Mehr als nur ein Machtverhältnis – machtkritische Bildung und Zugänge zu Intersektionalität. http://www.portal-intersektionalität.de [Download: 05.11.2016].
Inga Nüthen
Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung
E-Mail: inganue@zedat.fu-berlin.de
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