Ein Manifest für sexualpädagogisches Streiten in postfaktischen Zeiten

Rezension von Marcus Felix

Elisabeth Tuider, Martin Dannecker:

Das Recht auf Vielfalt.

Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung.

Göttingen: Wallstein Verlag 2016.

48 Seiten, ISBN 978-3-8353-1836-6, € 9,90

Abstract: Sexuelle Bildung ist und war schon immer eine umkämpfte Disziplin der Pädagogik. Dabei ist die aktuelle Erregung um diese als Reaktion auf die fortschreitende Pluralisierung von Lebensentwürfen und die Liberalisierung von Normen und Werten zu verstehen, auf die eine diversitätsbewusste Sexualpädagogik in ihren Konzepten Bezug nimmt, die aber von ultrakonservativen, fundamentalistischen und rechtsradikalen Gruppierungen angegriffen werden. Diese Gemengelage nehmen die Autor_innen zum Anlass, um ausgewählte in der Kritik stehende Inhalte einer sexualfreundlichen Bildung zu besprechen und die Argumentationsmuster der Kritiker_innen zu verdeutlichen. Damit trägt der Band zur (Re-)Kontextualisierung und Versachlichung einer hochemotionalen Auseinandersetzung über sexuelle Bildung bei.

DOI: https://doi.org/10.14766/1214

Das Recht auf Vielfalt bezieht Stellung in einem umkämpften Terrain

Sexualpädagogische Ansätze sowie der Stellenwert sexueller Bildung in Schulgesetzen oder Lehr- und Bildungsplänen boten seit jeher Anlass für hitzige Debatten, die von Moralpaniken und dem Versuch institutioneller und ideologischer Einflussnahme durchzogen sind. Seit wenigen Jahren nimmt das Interesse am Streiten um die sexuelle Bildung zu. Auffällig ist hierbei, dass die Stimmen derjenigen, die sexuelle Bildung per se aus der Schule verbannen wollen und die zeitgenössische Konzepte von sexuellen Bildner_innen ablehnen, besonders rabiat und dominant erscheinen. Auf diese lauten Gegenstimmen, welche oft durch Unsachlichkeit und hetzerische Rhetorik auffallen und häufig nichts mehr mit einer demokratischen Diskussionskultur zu tun haben, konzentriert sich der Band Das Recht auf Vielfalt. Elisabeth Tuider und Martin Dannecker beziehen hierzu Stellung und besprechen in ihren Beiträgen ausgewählte in der Kritik stehende Ansätze der „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Dabei werden Argumentationsstrategien und rhetorische Muster der radikalen Kritiker_innen untersucht und folgende Fragen erörtert: Welche Intention und Ziele verfolgt eine „Sexualpädagogik der Vielfalt“? Was tut sie und was nicht? Wieso gehört sie in die Schule? Und wie arbeiten sexuelle Bildner_innen mit Kindern und Jugendlichen?

Konkret vorausgegangen seien dem Band, so betont Caroline Küppers, Referentin für Bildung und Antidiskriminierung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH), im einführenden Geleitwort, die hochemotionalen Reaktionen und die Ablehnung des seit 2014 öffentlichkeitswirksam diskutierten Bildungsplanes in Baden-Württemberg und die verbalen Angriffe auf ausgewählte Herausgeber_innen der Methodensammlung Sexualpädagogik der Vielfalt (Bruns-Bachmann et al. 2012). Dies veranlasste die BMH, zu den 9. Hirschfeld-Lectures am 17. September 2015 in Düsseldorf einzuladen, um sich mit den Debatten um Bildung und Erziehung hinsichtlich Sexualität und Geschlecht auseinanderzusetzen. Im Anschluss gab die BMH das 48 Seiten dünne Büchlein Das Recht auf Vielfalt heraus, in welchem die Fragestellung verfolgt wird, welche Mechanismen und Muster jene Angriffe aufweisen, die Küppers als homophob und antifeministisch einordnet und die zugleich dem Bedrohungsszenario der „vermeintlichen Sexualisierung“ (S. 5) folgten. Von unmittelbarer Brisanz sei die Fragestellung auch deshalb, weil die öffentliche Beschäftigung mit Fragen um die Sexualerziehung heutzutage zu einem zentralen Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden sei.

Küppers ist allemal zuzustimmen, dass die Intensität der derzeit aufgeheizten Debatten und die teilweise menschenverachtende Rhetorik erlesener Gegner_innen zeitgenössischer Sexualerziehungskonzepte ein Novum innerhalb sexualpolitischer Diskussionen darstellen, aber einmalig ist die Skepsis gegenüber Konzepten und Inhalten sexueller Bildung nicht. Schon immer gab es „gefahrenpädagogische Moralpaniken“ (Schetsche/Schmidt 2010), die auf Reizwörter wie Onanie, Teenagerschwangerschaft, HIV, sexuelle Verwahrlosung oder sexuelle Vielfalt reagieren. Diese emotional geführten Auseinandersetzungen sind Ausdruck des Aufeinandertreffens verschiedener Werte- und Wahrheitsvorstellungen, die ausschließlich mittelfristige Modelle von Sexualitäten, Geschlechtern und Lebensweisen darstellen.

Bildung als Schlüssel zu Selbstbestimmung, Teilhabe und Respekt

Kontextualisiert werden diese Auseinandersetzungen im Vorwort des Heftes durch Burkhard Jellonek, dem Leiter des Landesinstituts für Pädagogik und Medien des Saarlandes. In Vorgriff auf die Rekonstruktion der Geschehnisse und Entwicklungen in Baden-Württemberg und der Diskussionen um das Methodenbuch Sexualpädagogik der Vielfalt wertet Jellonek das derzeitige sexualpolitische Streiten als „Kulturkampf“ (S. 7). So habe sich in Deutschland ein „Kartell zur Bekämpfung der Idee sexueller Vielfalt“ gebildet, welches aus einer „seltsame[n] Allianz“ aus Rechtsradikalen, Pegida-Akteur_innen und AfD-nahen Vertreter_innen bestehe (S. 8). Neben der Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt seien deren „Markenkern“ fremdenfeindliche, antimuslimische, rassistische und antisemitische Einstellungen. Aufmerksamkeit bekomme diese Bewegung durch die breite Unterstützung aus der Riege der Medienvertreter_innen, etwa durch die Publizistin Birgit Kelle, die durch antiegalitäre und sexistische Aussagen und Bücher mehrfach aufgefallen ist.

Jellonek übt damit nicht nur Kritik an den traditionellen und neuen (sozialen) Medien, er zeigt auch die „Brüchigkeit der gesellschaftlichen Toleranz“ (S. 9) ultrakonservativer und religiöser Gesellschaftskreise gegenüber marginalisierten Personengruppen auf, die sich dadurch auszeichne, dass dieses „Duldungsverhältnis“ bei Bedarf stets kündbar sei. In diesem Kontext verweist Jellonek besonders auf das Bemühen der Kirche und anderer ‚Moralagenten‘ (vgl. Lautmann 1984), ihren Einfluss zu erhalten und gegebenenfalls zu restaurieren – Einfluss, der durch Entwicklungen in der Rechtsprechung zu schwinden scheint. Hierbei muss dem Bundesverfassungsgericht die Position des Reformmotors zugestanden werden, wenn es um die Demokratisierung von Rechten homosexueller und transidenter Menschen geht. Auch die internationalen Menschenrechte (Recht auf sexuelle Selbstentfaltung u. a.) und die EU-Vereinbarungen (Gender Mainstreaming, Abbau von Homophobie im Bildungsbereich etc.) machen deutlich, dass Entwicklungen auf der juristischen Ebene nicht mit „Einstellungen und Haltungen aller hier lebender Menschen“ (S. 10) gleichzustellen sind, die derzeitigen Auseinandersetzungen aber als Aushandlungen in Folge von Liberalisierungseffekten qua Gesetz betrachtet werden können. Den internationalen Widerstand gegen die volle Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften mit der heterosexuellen Ehe sieht Jellonek als ein Indiz für diese Entwicklung.

Um Respekt für die vorhandene Vielfalt, die gesellschaftliche Teilhabe marginalisierter Personengruppen und sexuelle Selbstbestimmung für alle zu erreichen, sei Bildung der „Schlüssel“. Erst wenn also sexuelle und geschlechtliche Aspekte fach- und jahrgangsübergreifend in Schulen, aber auch in außerschulischen Angeboten gleichwertig und selbstverständlich vorkämen, könne man „Kindern und Jugendlichen ein angstfreies, lustvolles Erlernen ihrer jeweiligen sexuellen Präferenzen ermöglichen“ (S. 11). Diese Themen würden im Bildungsalltag allerdings eher vernachlässigt und an externe Initiativen ausgelagert, die eher schlecht als recht in die Logik der Bildungslandschaft integriert würden. Folgen seien deshalb die Diskrepanz zwischen Bildungsauftrag und erreichter Schüler_innenzahl sowie die ungenügende Akzeptanz von sexueller Vielfalt, die nicht zuletzt von der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahre 2012 eruiert worden ist. Für eine „aufgeklärte Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ (S. 12) ist dies aus Jelloneks Sicht untragbar.

Auffällig in Jelloneks „thematische[r] Einleitung“ (Küppers, S. 6) ist zum einen der weniger analysierende als vielmehr kommentierende Duktus seiner Ausführungen, zum anderen lässt er mitunter eine differenziertere Darstellung des Sexualpädagogikdiskurses vermissen. Dazu gehört auch, dass die Proteste gegen eine schulische Sexualerziehung entgegen Jelloneks Behauptung kein neues Phänomen darstellen und auch nicht erst mit den Bildungsplan-Diskussionen in Baden-Württemberg, sondern bereits mit journalistischen Beiträgen wie dem von Alexander Kissler im The European vom 5. April 2011 („Die totale Aufklärung“) begonnen haben und dass ihr Vorbild u. a. in den Massendemonstrationen gegen die Gleichstellung homo- und heterosexueller Partnerschaften in Frankreich (Manif pour tout) zu finden ist. Zudem ist diskussionswürdig, ob es konstruktiv ist, die heterogenen Gegenakteur_innen zu einem nicht näher gefassten ‚Kartell‘ zu stilisieren, anstatt sich die einzelnen Akteur_innen anzuschauen, um zu verstehen, weshalb sich welche Allianzen bildeten, die stellenweise Ein-Punkt-Bewegungen und deshalb vielmehr Konglomerate als monolithische Gebilde darstellen.

Von der Angst des weißen Mannes

Dem Vorwort folgen die eigentlichen Diskussionsbeiträge der beiden Autor_innen, die auch bei den 9. Hirschfeld-Lectures referierten: Zunächst analysiert die Soziologin Elisabeth Tuider die „neue Salonfähigkeit von Homophobie und Antifeminismus am Beispiel der derzeitigen Diskursivierung und Politisierung einer Sexualpädagogik der Vielfalt“ (S. 8), ehe der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker u. a. einen der „Kampfbegriffe“ (S. 9) der Gegnerschaft zeitgenössischer Sexualpädagogikkonzepte untersucht: die rhetorische Figur der „(Früh-)Sexualisierung“.

Elisabeth Tuider, die als eine der Herausgeber_innen des Methodenbuchs Sexualpädagogik der Vielfalt persönliche Anfeindungen und Drohungen erfuhr, konzentriert sich in ihrer 15 Seiten knappen wissenssoziologischen Diskursanalyse auf linguistische Muster in den verbalen Angriffen und nimmt dabei die hate speech in den Fokus, die sie als Form der Gewalt und als wirkmächtiges Instrument „zur Regulierung und Re-/Konfiguration von Normalität“ (S. 13) charakterisiert. Mit einem Zitat Butlers aus ihrem gleichnamigen Werk Hate Speech einführend und abrundend erhält ihr Beitrag zugleich einen emanzipatorischen Charakter, indem die ausgewählten Textstellen auf Butlers Konzept des postsouveränen Subjektes verweisen. Im Kontext der hate speech wird darunter verstanden, dass Menschen über Sprechakte ein Subjektstatus verliehen, dieser aber auch aberkannt werden kann. Diese Form der über Sprache ausgeübten Gewalt verweist auf den performativen und zugleich politischen Charakter ebendieser, weil qua sprachlicher Handlung ein Subjekt dem Diskurs untergeordnet wird. Wenn Tuider Butler zitierend darauf hinweist, dass eine Aussage letztlich aber entfremdet, benutzt, ja „für neue Zwecke enteignet“ (Butler, zit. S. 28) und damit zum „Instrument des Widerstandes“ (Butler, zit. S. 13) gemacht werden kann, betont sie die Handlungsfähigkeit des Subjektes innerhalb des Diskurses und befreit es aus einer Ohnmachtsposition.

Tuider verweist auf die lange Verwurzelung heutiger emanzipatorischer Konzepte in akademischen Diskursen (Sexualwissenschaft, Familiensoziologie, Geschlechterforschung, Queer Studies u. a.), den juristischen Rahmen der Sexualpädagogik (Grundgesetz, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) und auf empirische Befunde (Studien zur Jugendsexualität), an denen sich sexuelle Bildungskonzepte orientieren, und konstatiert dann, dass ebendiese Facetten in öffentlichen Diskussionen ausgeblendet werden. Infolgedessen wird die emanzipatorische Sexualpädagogik nicht etwa als interdisziplinärer Forschungszweig, sondern als Ideologie verzerrt und jegliches Sprechen über Sexualität als Sexualisierung gedeutet. Folgerichtig seien Kinder, denen entgegen empirischen Befunden jegliche Sexualität abgesprochen wird, vor dieser zu bewahren, da sie die vermeintliche Normalität angreife. Mit Verweis auf den Kinderschutz und die damit artikulierte Sorge um das Kindeswohl werden menschenverachtende Argumente hoffähig gemacht und wird eine Grenze gegenüber dem vermeintlich fremden Anderen gezogen, um die gewohnte Normalitäts- und Ordnungsvorstellung (dichotome Geschlechtervorstellung, Orientierung an heteronormativen Konzepten) gegenüber einer befürchteten Perversion (zu der mitunter Homosexualität und Trans*konzepte gezählt werden) und einer Verfremdung (Wissen um das Kontinuum an Geschlechtern, Berechtigung vielfältiger Sexualitäten) abzugrenzen.

Mediale Inszenierungen, ob in den Printmedien wie SZ, FAZ und Bild oder in Sendungen wie hart aber fair oder Porno, Puff und Petting: Hilfe, mein Kind wird aufgeklärt!, tragen nach Auffassung Tuiders zum Missverständnis und zur Verzerrung sexualpädagogischer Anliegen und Ansätze bei und verbannen sie auch weiterhin in die „Schmuddelecke“ (S. 20). In der Medienlandschaft der Neuen Rechten wie der Jungen Freiheit, Compact oder der Freien Welt werde sexuelle Bildung gar mit Missbrauch, Gewalt, Pädophilie und so manchen Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht. Eine internationale „Homolobby“ und feministische „Weltherrschaftspläne“ werden heraufbeschworen, die die gemutmaßte gottgewollte Geschlechterordnung außer Kraft setzten und die Kinder in diesem Sinne umerzögen. Tuider zufolge basiert diese bürgerliche heteronormative Abgrenzung in Form essenzialistischer Einstellungen und völkischer Ordnungsvorstellungen auf der Zukunftsangst des weißen deutschen Mannes der Mittelschicht vor dem sozialen Wandel und dem Verlust einer wie auch immer gearteten deutschen Identität: „Das so hergestellte ,fremde Andere‘ dient dazu, das ,Wir‘ der eigenen Nation und der eindeutigen Geschlechtlichkeit zu definieren“ (S. 24).

Neben der Umerziehungs- und Bedrohungsrhetorik verweist Tuider auf weitere ausgewählte Muster anitifeministischer Angriffe: So habe man durch falsches oder unzusammenhängendes Zitieren Aussagen verfälscht und dekontextualisiert, mittels apodiktischer Reizwörter (wie „Frühsexualisierung“) vor allem „Menschen ohne sexual- und geschlechterpädagogische Fachkenntnisse“ verunsichert und verängstigt sowie nicht zuletzt einzelne Personen herausgegriffen, die anschließend „verhöhnt, verlacht und lächerlich gemacht“ (S. 26), mitunter auch verbal angegriffen wurden. Insbesondere die hate speech, eine besonders aggressive, gewalttätige Form des Sprechens, habe Tuider zufolge die Absicht, „jene, die aus der heteronormativen Matrix fallen oder aus dieser ausbrechen, an genau jene Matrix zu ,erinnern‘, sie […] zu ,korrigieren‘ und ihnen damit den ,Anspruch auf Normalität‘ zu entziehen“ (S. 27). Hate speech sei aus diesem Grunde ein besonders wirkungsvolles Sanktionierungsmittel, da es das Subjekt zum Schweigen bringen solle.

Die Analyse und Interpretation der narrativen Muster bieten eine wichtige Grundlage für einen reflexiven und kompetenten Umgang mit Sprache, insbesondere in öffentlichkeitswirksamen medial vermittelten Wortgefechten. An der einen oder anderen Stelle wäre eine intensivere Ausführung für Leser_innen, die sich nicht intensiv mit dem Diskurs auseinandergesetzt haben, wünschenswert gewesen, um ausgewählte Phänomene verständnisintensiver zu exemplifizieren – etwa wenn es um die Verschränkung von sexueller Panik und völkischen Ordnungsvorstellungen geht.

Von der Relevanz sexueller Bildung

Der letzte Beitrag des Bandes Das Recht auf Vielfalt von Martin Dannecker verweist zuvorderst auf die „Vorwurfsrhetorik“ (S. 29), sexuelle Bildung sexualisiere, ja frühsexualisiere Kinder und Jugendliche. Verbunden mit dieser kruden Behauptung seien fehlende oder fehlerhafte Vorstellungen von einer sexualpädagogischen Praxis verbunden. Dabei gehe es um das Benennen von und Reden über Anliegen und Fragen, Lebenswirklichkeiten und Konsumerfahrungen der Adressat_innen – nicht etwa um eine häufig postulierte Konfrontation von Lernenden mit Sexualität. Kinder und Jugendliche würden laut Dannecker damit, vor allem vor dem Hintergrund veränderter Mediennutzung und Pornografieerfahrung, als passive Empfänger_innen konstruiert, die der Sexualpädagogik ausgeliefert seien. Sexuelle Bildung würde dadurch nicht als Einladung und Raum verstanden, und ihr würde zudem ein Selbstzweck unterstellt, die die Interessen der Adressat_innen nicht im Blick hätte. Der sexuellen Bildung die Intention der Sexualisierung vorzuwerfen, in der Form, dass „abwegige Erregungen und absonderliche sexuelle Besetzungen in die Jugendlichen eingepflanzt“ würden, hält Dannecker aus diesem Grunde für „töricht“ (S. 34). Vielmehr warnt der Autor davor, sexualitätsbezogene Themen zu tabuisieren und damit das Sprechen über Sexualität und Geschlechtlichkeit zu unterdrücken. Kinder und Jugendliche in sexualitätsbezogenen Themen sprechfähig zu machen, könne nicht nur Missbrauch vorbeugen, sondern auch Menschen in ihrer sexuellen Identität und Selbstbestimmung stärken. Zudem dürfe man sich auch nicht vor derzeitigen Entwicklungen infolge der fortschreitenden Mediatisierung verschließen: Pornografieerfahrungen und Sexting nehme unter Jugendlichen zu – dies zu thematisieren und zu reflektieren und damit Medienkompetenz zu trainieren sei auch Aufgabe der Sexualpädagogik. In diesem Zusammenhang gehöre auch die Reflexion von Geschlechter- und Körperbildern, Vorstellungen von Sexualitäten, Ausdrucksweisen und Identitäten zu den Inhalten sexueller Bildung – aus dem Verständnis heraus, „dass Schönheit und Attraktivität […] durch kulturelle Prozesse beeinflusst werden“ (S. 36). Erfolge die Beantwortung individueller sexualitätsbezogener Fragen und die kritische Reflexion von Medieninhalten innerhalb der sexuellen Bildung nicht, so finde sie mitunter gar nicht statt, denn Kinder und Jugendliche seien, so Dannecker, nicht immer bereit, sich an Eltern oder andere Familienangehörige zu wenden, um Fragen zu ‚heißen Eisen‘ zu stellen.

Danneckers Ausführung zu ausgewählten Anliegen einer modernen Sexualpädagogik trägt zum Verständnis ihrer Inhalte bei und befähigt zudem, gegenüber Kritiker_innen sexueller Bildung zu argumentieren. Das affektive Moment und die konnotative Bedeutung der rhetorischen Figur der „Sexualisierung“, die von Gegner_innen sexueller Bildung strategisch eingesetzt wird, stärker herauszustellen, wäre der Argumentation zusätzlich zuträglich gewesen. Zumal der Begriff in der Wissenschaft als Analysekategorie genutzt wird, um die gesellschaftliche Durchdringung von sexualitätsbezogenen Inhalten zu beschreiben, auf die sexuelle Bildung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu reagieren sucht.

Fazit

Der Band Das Recht auf Vielfalt stellt eine deutliche Positionierung im Kontext der aktuellen Debatten um eine adäquate Sexualpädagogik dar, indem konzeptionelle Ansätze und Anliegen verdeutlicht, auf die Tradition des interdisziplinären Forschungszweiges verwiesen und die Sprach- und Argumentationsmuster dominanter kritischer Stimmen aufgegriffen werden. Die Beweisführung der Autor_innen ist schlüssig und kohärent, trotz verschiedener Fokusse der einzelnen Beiträge bisweilen auch redundant. Obwohl die Autor_innen aus einem vorrangig akademischen Milieu stammen, handelt es sich bei diesem Band nicht um eine wissenschaftstheoretische Untersuchung öffentlicher Debatten um eine zeitgenössische Sexualpädagogik, die etwa nur für versierte Diskursanalytiker_innen aufschlussreich erscheinen mag. Er kann für alle Interessierte, Engagierte, Verunsicherte und Kritiker_innen ein Impuls sein, die Intention und Konzepte sexueller Bildung nachzuvollziehen und daraufhin eine fundierte Meinung zu bilden. Indem auf die Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung angesichts der derzeitig geführten Auseinandersetzungen verwiesen wird, bietet der Band ebenso eine Argumentations- und Orientierungshilfe für politische Verantwortungsträger und sexuelle Bildner_innen. Der Band stellt nicht zuletzt eine wertvolle Hilfe gegen allgegenwärtige Stammtischparolen, Dekontextualisierungsversuche und Vorurteile zu sexueller Bildung dar und richtet sich damit an eine heterogene Leser_innenschaft.

Eine breite und tiefergehende Analyse der Streitparteien, deren argumentative Muster und rhetorische Figuren kann das Heft nicht leisten und erhebt auch nicht den Anspruch, dies tun zu wollen. Doch kann es Lust auf eine weitere Vertiefung mit den Inhalten, Konzepten und den Rahmenbedingungen einer „Sexualpädagogik der Vielfalt“ machen und damit eine Grundlage schaffen für ein informiertes Sprechen über sexuelle Bildung in postfaktischen Zeiten.

Literatur

Bruns-Bachmann, Petra/Koppermann, Carola/Müller, Mario/Timmermanns, Stefan/Tuider, Elisabeth. (2012). Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. 2., überarbeitete Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Kissler, Alexander. (5. 4. 2011). Die totale Aufklärung. The European. http://www.theeuropean.de/alexander-kissler/6255-freiheit-ist-nicht-gruen. (Download: 24.03.17).

Lautmann, Rüdiger. (1984). Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schetsche, Michael/Schmidt, Renate-Berenike (Hg.). (2012). Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Marcus Felix

Graduiertenkolleg Gender und Bildung, Stiftung Universität Hildesheim

E-Mail: marcus.felix@uni-hildesheim.de

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