Sabine Hark, Paula-Irene Villa (Hg.):
Anti-Genderismus.
Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen.
Bielefeld: transcript Verlag 2015.
264 Seiten, ISBN 978-3-8376-3144-9, € 26,99
Abstract: Im von Sabine Hark und Paula-Irene Villa herausgegebenen Sammelband werden die öffentlichen Angriffe auf Gender Studies und Gender Mainstreaming analysiert, die unter dem Begriff Anti-Genderismus auftreten und verhandelt werden. Die Autor-/innen untersuchen Themen und Methoden des anti-genderistischen Diskurses, seine Akteur/-innen und gesellschaftlichen Bedingungen. Dabei entwerfen sie ein sehr kohärentes Porträt dieser Politiken, das allerdings von einer weiteren Untersuchung der gesellschaftlichen Bedingungen und intersektionalen Bezüge zu anderen Ressentiments profitieren würde.
Es ist keine Neuigkeit, dass der Genderbegriff die Gemüter konservativer, rechtsextremer, religiöser oder einfach nur mit ‚gesundem Menschenverstand‘ geadelter Kommentator/-innen erregt. Angriffe auf die Gender Studies als ‚unwissenschaftliche‘ Disziplin und auf Gender Mainstreaming als staatliches Komplott, gar als totalitäre Umerziehung, schaffen es immer wieder in die deutsche Presse, in Teilen der sozialen Medien gehören sie zum Alltag. So sah sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2014 genötigt, Stellung zu beziehen, da „Soziologinnen und Soziologen, die sich wissenschaftlich mit Themen der Geschlechter- oder Sexualitätsforschung beschäftigen, sich immer öfter mit sogenannten Hasskampagnen konfrontiert sehen“ (DGS 2014). Eine wissenschaftliche Analyse dieses Unbehagens am Genderbegriff lag aber, zumindest im deutschen Sprachraum, bisher noch nicht vor. Nun versammeln Sabine Hark und Paula-Irene Villa unter dem Titel Anti-Genderismus „eine erste Zusammenstellung sozial-und kulturwissenschaftlicher Analysen des sogenannten ‚Anti-Genderismus‘ in der Bundesrepublik und, darüber hinaus, im – ausgewählten – europäischen Kontext“ (S. 7).
Der Begriff Anti-Genderismus sei zwar „unglücklich“, so Hark und Villa in der Einleitung, doch treffe er „eine Abwehr gegen Gender beziehungsweise gegen das, was diesem Begriff unterstellt wird. Unterstellt wird […] eine nicht-natürliche, damit also post-essentialistische Fassung von Geschlecht (und Sexualität)“ (ebd.). Die Anti-Genderist/-innen hätten also im Grunde verstanden, worauf der Genderbegriff zielt, verteidigten dagegen jedoch hegemoniale „Alltagstheoreme der Zweigeschlechtlichkeit“ (S. 29). Ähnlich scheinen es auch die meisten anderen Autor/-innen des Bandes zu sehen. In ihren Beiträgen zeichnen sie das Bild eines Kulturkampfes zwischen fortschreitender wissenschaftlicher Aufklärung und antiwissenschaftlicher Reaktion, die mit der Gleichsetzung „Gender Studies = Gender Mainstreaming = Feminismus = Staatsräson“ (S. 23) einen „letztlich zutiefst antidemokratischen Angriff auf die Freiheit von Forschung und Lehre“ unternimmt (S. 33).
Herausgekommen ist bei dieser wissenschaftlichen Feindbestimmung tatsächlich eine lesenswerte und erstaunlich kohärente Analyse verschiedener Spielformen und Aspekte des Anti-Genderismus: Die Autor/-innen untersuchen zentrale diskursive Themen wie die Sorge um ein vermeintlich gefährdetes Kindeswohl (Katrin M. Kämpf, Imke Schmincke), Totalitarismusvorwürfe (Kathleen Heft), antifeministische Erbschaften und ihre instrumentelle Zurücknahme (Andrea Maihofer und Franziska Schutzbach) sowie die antiwissenschaftlichen und antidemokratischen Impulse der Genderkritik (Sabine Hark und Paula-Irene Villa); außerdem die Methoden des Diskurses, wie die sprachliche Gewalt im Allgemeinen (Steffen K. Hermann) und im Besonderen die in sozialen Medien verbreiteten Formen trolling, hate speech und shitstorm (Kathrin Ganz und Anna-Katharina Meßner); und sie beleuchten auch die verschiedenen Akteure, die am anti-genderistischen Diskurs mitwirken − von evangelischen und evangelikalen Gruppen (Barbara Thiessen) über den Vatikan und die katholische Kirche (David Paternotte, Bożena Chołuj) bis hin zu konservativen Kreisen (Jasmin Siri) und Rechtsextremist/-innen (Juliane Lang).
Mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Anti-Genderismus beschäftigt sich hingegen nur ein einzelner Beitrag explizit. Unter dem Titel „Prekäre Selbstverständlichkeiten“ formulieren Christine Wimbauer, Mona Motakef und Julia Teschlade neun Thesen zum Zusammenhang von ökonomischem Wandel und Anti-Genderismus, in dem sie eine „Reaktion auf [die] Prekarisierung männlicher Privilegien“ (S. 44) sehen. Sowohl die neoliberale Erosion des Sozialstaates, die zunehmende Abwärtsmobilität als auch die steigende Zahl berufstätiger Frauen haben zum Bedeutungsverlust des männlichen Ernährermodells und der bürgerlichen Kleinfamilie beigetragen. Der gleichzeitige Erfolg feministischer, antirassistischer und LGBTTQI- sowie anderer emanzipatorischer Bewegungen hat den patriarchal-heteronormativen Common Sense weiter irritiert. Allerdings erfahren die neu prekarisierten Subjekte ihr Unbehagen an der kapitalistischen Entwicklung nicht als solches, sondern schieben es gemäß diesem Common Sense auf die gleichzeitigen emanzipatorischen Projekte ab. Befeuert von einer neoliberalen Eingemeindung von antirassistischen Motiven in Managing Diversity-Konzepte und von feministischen Forderungen in einen marktkonformen ‚neuen Feminismus‘, wird dann Gleichstellungspolitiken und emanzipatorischer Theorie vorgeworfen, Schuld an individueller Prekarisierung bzw. drohendem Abstieg zu tragen.
Explizit intersektionale Analysen sucht man in dem Sammelband leider vergeblich. Zwar wird in manchen Beiträgen darauf hingewiesen, dass anti-genderistische Akteure, wie die Partei Alternative für Deutschland (AfD), häufig auch rassistische und gegen den Islam gerichtete Politiken vertreten. Näher untersucht wird dieser Zusammenhang aber kaum. Juliane Lang bietet zwar eine mögliche Erklärung für die Verschränkung beider Themen bei der extremen Rechten, deren Politik um die „Konstruktion der ‚Volksgemeinschaft‘“ kreist (S. 168, siehe auch den Beitrag von Wimbauer, Teschlade und Motakef). Die Frage bleibt aber unbeantwortet, wie das anti-islamische Engagement mancher Anti-Genderist/-innen auf nationaler Ebene und anti-genderistische Kooperationen europäischer Akteure mit muslimischen Staaten auf internationaler Ebene (vgl. S. 135) zusammenpassen. Handelt es sich hierbei um getrennte Personenkreise mit nur punktuellen diskursiven Überschneidungen? Ließe sich vielleicht die Islamfeindlichkeit mancher Anti-Genderist/-innen als Islamneid lesen, als „affektivkollektive Projektionen […], in denen der Islam gerade deswegen verteufelt wird, weil die vermeintliche patriarchale Wertestabilität insgeheim Muslim_innen geneidet wird“ (Govrin 2016, S. 85)? Oder ist die Feindschaft zum Islam für solche Akteure weniger prinzipiell als ihr Hass auf Moderne, Universalismus, Liberalismus und was sie damit assoziieren, wie es Volker Weiß für die ‚Neue Rechte‘ aufzeigt (2017, S. 213–218)?
Auch der Frage, wie der Anti-Genderismus im kulturellen Kontext der Moderne zu verorten ist, geht keine der Autor/-innen ausführlich nach, obwohl vielleicht gerade hier − ebenso wie in dem Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse − Erkenntnisse über die Verschränkung mit anderen Ressentimentformen zu gewinnen wären (vgl. Soiland 2008 zur Notwendigkeit, Makroanalysen in intersektionalen Theorien zu berücksichtigen). Einen Wink in diese Richtung liefert Imke Schmincke: „Außerdem können diverse historische Studien belegen, dass und wie sehr sowohl die Figur des Homosexuellen wie auch der Feministin als pathologische Auswüchse der Moderne gedeutet und bekämpft wurden [vgl. etwa Mosse 1996; C.H.]. Insofern sind meines Erachtens Antifeminismus und Homophobie durchaus wesensverwandt mit Antisemitismus, Antiamerikanismus und Rassismus – was sich nicht zuletzt in deren Kombination in den Aussagen und Programmen neuer populistischer Parteien und Bewegungen in der BRD zeigt – und als jeweils spezifische Ausdrücke antimoderner antidemokratischer Reflexe zu analysieren.“ (S. 104, Fn. 18)
Antisemitische Denkformen – die leider in vielen feministischen und intersektionalen Ansätzen ausgeblendet werden (siehe Azulay 2001, Beck 1988, Edthofer 2015a, 2015b) – in die Analyse miteinzubeziehen hätte erlaubt, einige Brücken zu schlagen: zwischen dem Unbehagen an der Abstraktheit des post-fundamentalistischen Genderbegriffs, der Verschiebung eines Unbehagens an der Ökonomie auf kulturelle Schauplätze und dem antimodernen, antidemokratischen und antiwissenschaftlichen Impetus der anti-genderistischen Diskurse. Sie alle operieren nämlich mit einer für den Antisemitismus grundlegenden Denkfigur, die das angeblich gute Konkrete gegen das angeblich verderbliche Abstrakte ausspielt (was Jasmin Siri im vorliegenden Sammelband lediglich als allgemeines Merkmal konservativer Politik erwähnt; vgl. Postone 1982, insbesondere S. 22 f.). Das bedeutet nicht, dass Anti-Genderismus in Wahrheit Antisemitismus ist, aber es scheint naheliegend, dass beide dasselbe „ontologische Bedürfnis“ (Adorno 2003, S. 99) bedienen. Darunter kann man mit Theodor W. Adorno ein Bedürfnis nach Festem und Invariantem verstehen, das Sicherheit schaffen soll gegenüber den historischen Entwicklungen und den sozialen Verhältnissen (vgl. ebd., S. 100; siehe zur Relevanz der Frankfurter Schule für intersektionale Analysen des heutigen Rechtspopulismus auch Wodak 2015, S. 154 f.).
Gerade der Antisemitismus zielt auf eine solche Ontologisierung des Sozialen: „Der Antisemit strebt nach Stillstand und will sich lediglich auf essentialistisch unterstellte Gegebenheiten verlassen, die als angeboren begriffen werden und negiert zugleich das Erworbene und das Soziale“ (Salzborn 2015, S. 158); und im vorliegenden Band zeigt Juliane Lang mit Blick auf rechtsextreme Diskurse, dass auch der Genderbegriff solche ontologisierten Ordnungen zu bedrohen scheint: „Wo geschlechtliche Identitäten als offen verhandelbar dargelegt werden, erscheinen auch Kultur, Volk und Heimat – alles Grundpfeiler eines rechtsextremen Weltbildes – als unverbindliche Begriffe“ (S. 169; vgl. Weiß 2017, S. 228 f.). Anschließend an die (in mehreren Beiträgen des Bandes aufgegriffene) Theorie Pierre Bourdieus ließe sich die anti-genderistische Artikulation des ontologischen Bedürfnisses auch als Versuch beschreiben, die doxa wiederherzustellen, worunter er eine homologe Strukturierung von Gesellschaft und Subjekt versteht, die dazu führt, dass die soziale Ordnung als evident und natürlich wahrgenommen wird (Bourdieu 2005, S. 18-22; vgl. im vorliegenden Band insbesondere S. 46 f., 104 f.).
Mit Anti-Genderismus wollen Sabine Hark und Paula-Irene Villa eine „erste Zusammenstellung“ (S. 7) zu dem titelgebenden Phänomen des Anti-Genderismus abliefern, was ihnen auch gelungen ist. Der Band dürfte für Geschlechterforscher/-innen dabei zum einen aufschlussreich sein, weil hier die Angriffe auf ihre Disziplin analysiert werden; zum anderen, weil er vielfältige Ansatzpunkte bietet für intersektionale Analysen eines zentralen Themas christlicher, konservativer und rechtsextremer Strömungen. Darüber hinaus ist der Band für die Rechtsextremismus- und Rechtspopulismusforschung von Interesse, da anti-genderistische Diskurse und Bewegungen maßgeblich daran beteiligt sind, rechtsextreme Ideologien zu normalisieren und für den Mainstream tauglich zu machen (siehe S. 174, 240 f.; vgl. außerdem Weiß 2017, S. 83 f., Neiwert 2017). Und trotz des stellenweise anzutreffenden sozialwissenschaftlichen Jargons könnte sich eine Lektüre von Anti-Genderismus somit auch für allgemein am Zustand der europäischen Demokratien interessierte Leser/-innen lohnen.
Adorno, Theodor W. (2003). Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Azulay, Katya Gibel. (2001). Jewish After Mount Sinai: Jews, Blacks and the (Multi) racial Category. (pp. 31−45). Bridges: A Jewish Feminist Journal, 9,(1).
Beck, Evelyn Torton. (1988). The Politics of Jewish Invisibility. (pp. 93−102). NSWA Journal, 1, (1).
Bourdieu, Pierre. (2005). Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
DGS. (2014). Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zu aktuellen Kampagnen der Diskreditierung und Diffamierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. http://www.soziologie.de/de/nc/aktuell/stellungnahmen/single-view/archive/2014/07/23/article/erklaerung-der-deutschen-gesellschaft-fuer-soziologie-dgs-zu-aktuellen-kampagnen-der-diskreditierung.html [Download: 01.04.17].
Edthofer, Julia. (2015a). Gegenläufige Perspektiven auf Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus im post-nationalsozialistischen und postkolonialen Forschungskontext. (S. 189−207). Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 40, (2).
Edthofer, Julia. (2015b). Israel as Neo-Colonial Signifier? Challenging De-Colonial Anti-Zionism. (pp. 31−49). Journal for the Study of Antisemitism,7, (2).
Govrin, Jule Jakob. (2016). Sex, Gott und Kapital. Michel Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken. Münster: edition assemblage.
Mosse, Georg L. (1996). Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Neiwert, David. (2017). Birth of the Alt Right. (pp. 4−10). The Public Eye, Winter 2017. http://www.politicalresearch.org/2017/03/22/birth-of-the-alt-right/ [Download: 01.04.17].
Postone, Moishe. (1982). Die Logik des Antisemitismus. (S. 13−25). Merkur, 36, (403).
Salzborn, Samuel. (2015). Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext. Baden-Baden: Nomos.
Soiland, Tove. (2008). Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. querelles-net, Nr. 26. https://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/694/702 [Download: 01.04.17].
Weiß. Volker. (2017). Die Autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta.
Wodak, Ruth. (2015). The Politics of Fear. What Right-Wing Populist Discourses Mean. Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: SAGE Publications.
Christian Hammermann
Universität Hamburg
studiert Soziologie und Geschichte der Naturwissenschaften
E-Mail: chris.hammermann@gmail.com
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