Die Tücken liegen in der Nicht-in-Fragestellung akademischer Wissensproduktionen – LGBTIQ*-Forschungsgeschichten

Rezension von Veronika Springmann

Norbert Finzsch, Marcus Velke (Hg.):

Queer | Gender | Historiographie.

Aktuelle Tendenzen und Projekte.

Berlin: LIT Verlag 2016.

512 Seiten, ISBN 978-3-643-13219-2, € 44,90

Abstract: Der Sammelband umfasst 18 Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der LGBTIQ*-Geschichte auseinandersetzen. Vermittelt wird so ein Einblick in unterschiedliche Projekte und die Komplexität einer LGBTIQ*-Geschichte. Leider kommt dabei die Perspektive lesbischer Frauen zu kurz. Der damit verbundene Zusammenhang zu hegemonialen Wissensproduktionen wird leider nicht problematisiert. Damit wird die Chance vertan zu fragen, welche epistemologischen Implikationen überhaupt erst verändert werden müssten, um LGBTIQ*-Geschichten in der akademischen Welt schreiben zu können.

DOI: https://doi.org/10.14766/1220

1990 erschien Gender Trouble von Judith Butler (Butler 1990). Durchgeschüttelt und nachhaltig beeinflusst hat dieses Buch die Gender Studies, aber auch die Geschlechtergeschichte, und es hat wesentlich zur Etablierung der Queer Studies beigetragen. (Genschel 1996, Hark 1993). Dass Geschlecht konstruiert ist und performiert werden muss, ist heute selbstverständliches Wissen. Es führte in den Geschichtswissenschaften dazu, dass aus der Frauengeschichte Geschlechtergeschichte wurde, die von der Konstruiertheit von Zweigeschlechtlichkeit und der damit einhergehenden Heteronormativität ausgeht. 1995 erschien Raewyn Connells Masculinities, das im angloamerikanischen und später im deutschsprachigen Raum wesentliche Impulse setzte für eine Auseinandersetzung damit, wie und in welcher Form Männlichkeiten hergestellt werden. Das doing gender, so machten Connell und andere deutlich, gilt für alle Geschlechter. (Connell 1995, West/Zimmermann 1987).

Die Analysekategorien und Forschungsfelder Queer und Gender verweisen auf voraussetzungsvolle Debatten, gerade auch innerhalb der akademischen Wissensproduktion. Mit Queer | Gender | Historiographie hat die vorliegende Publikation also durchaus einen gewichtigen Titel, der viele Erwartungen weckt. Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die 2014 anlässlich der Hirschfeld-Tage in Köln stattfand. Schon beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses fällt auf, dass sich das Gros der Beiträge vor allem mit der Geschichte männlicher Homosexualitäten auseinandersetzt. Selbstkritisch weisen die Herausgeber in ihrer Einleitung darauf hin, dass es ihnen nicht gelungen sei, Aufsätze zu akquirieren, die die Perspektive für „lesbische Identität, Kultur und Geschichte“ öffnen (S. 11). Der Titel des Buches hält also nicht ganz, was er verspricht. Insgesamt zeigt er in seinen unterschiedlichen Beiträgen zwar eine große Spannbreite hinsichtlich der Materialfülle, fokussiert werden aber eben vor allem auf Männer und Männlichkeiten.

Von fünf Richtungen sei die Forschungsgeschichte der Homosexualitäten beeinflusst, konstatieren die beiden Herausgeber: erstens der Geschichte von Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen, wie bspw. Magnus Hirschfeld, zweitens der Frauengeschichte, drittens dem Poststrukturalismus mit Verweis auf Foucault, viertens der Alltagsgeschichtsschreibung und schließlich der Geschichte der Sexualitäten. Diese etwas knappe Einführung hätte etwas ausführlicher sein dürfen, um beispielsweise den Zusammenhang von hegemonialer Wissensproduktion und dem Fehlen lesbischer Perspektiven zu problematisieren. Auch wird Intersektionalität im Kontext Frauengeschichte angerissen, wäre aber eher in der später entstandenen Geschlechtergeschichte anzusiedeln, die hier noch nicht einmal erwähnt wird. So bleibt das, was in diesem Sammelband fehlt, zwar offensichtlich und doch unsichtbar gemacht.

Struktur

Die inhaltlich und qualitativ sehr heterogenen 18 Beiträge sind in fünf Themen gegliedert: Identitäten, Männlichkeiten, Diskriminierung/Verfolgung, Diskurse und Emanzipation. Gleich zu Beginn findet sich ein theoretisch anspruchsvoller Artikel der Historikerin Jane Preuß, die den Roman Funny Boy von Shyam Selvadurais analysiert, der im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommen wurde. Erzählt wird die Geschichte eines jungen schwulen Tamilen in Sri Lanka. Im Mittelpunkt steht allerdings weniger das Schwulsein des Protagonisten, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit Sexualitäten, die sich „außerhalb normativer und oft sexistischer, rassistischer und heterosexistischer Parameter“ formieren (S. 22). Jane Preuß diskutiert, dass in diesem Roman ‚schwule und heterosexuelle Liebe‘ nicht als binäres Oppositionspaar gelten, und knüpft damit an Überlegungen der Queer Studies an. (Bargetz/Ludwig 2015). Sie verortet die Opposition vielmehr in den Interessen der Individuen versus des Nationalstaats versus der Community. Der Autor lehnt, wie Preuß betont, einen kulturellen Essentialismus ab, gerade vor dem Hintergrund seiner eigenen Hybridität. Informativ zeigt sie in ihren theoretischen Überlegungen, wie und in welcher Form sich Queer Theory von den Ansätzen der Schwulenbewegung abgrenzt, gerade in Hinsicht auf die Verwendung des Identitätbegriffs. Während die Queer Theory gesellschaftliche Normen und Werte, und das heißt auch Sexualitäten, dekonstruiert, ging es der Schwulenbewegung in vielen Fällen darum, ‚schwule Identität‘ innerhalb einer heteronormativen Gesellschaft zu legitimieren. Das Besondere ist, so Preuß, dass Selvadurais viele Formen ‚gesellschaftlich nicht tolerierter Liebe‘ thematisiert. Sie versucht ausgehend von diesem Roman Queer Theory mit postkolonialer Theoriebildung zu verschränken. Das ist, wie sie selbst konstatiert, ambitioniert, und die Argumentation bzw. These wird nicht immer deutlich: Geht es ihr um die Problematisierung von Sex/Liebe, die Herstellung postkolonialer Subjekte oder die Frage danach, was als ‚normal‘ bzw. ‚Normalität‘ bezeichnet wird?

Auch wenn der Aufsatz bisweilen seinen roten Faden im Theoriedschungel zu verlieren droht, zeigt Preuß, dass – gerade auch bei einer Geschichte von Homosexualitäten – Kategorien wie Herkunft oder Nation intersektional mitgedacht werden müssen. Interessant auch der Hinweis darauf, dass in dem Roman gleichgeschlechtliche Sexualität zwar gelebt werden durfte, gleichgeschlechtliche Partnerschaft jedoch sanktioniert wurde.

Diskurse

Genau das Wissen um diesen Unterschied ist im folgenden Beitrag zu vermissen. Christian Mühling thematisiert Homosexualität am französischen Königshof am Beispiel Philipps I. von Orléans (1640–1701) und stellt dar, wie in zeitgenössischen Berichten dessen Homosexualität wahrgenommen wurde. Die Frage, die der Autor daran anschließt, ob sich daraus „Schlüsse“ auf sein Liebesleben ziehen lassen, mutet nach der Lektüre von Preuß’ Aufsatz merkwürdig an. Was bedeutet die Bezeichnung Liebesleben in diesem Kontext? Ist damit die sexuelle Praxis gemeint? Ein Zusammenleben mit Partner_innen? Mühling stellt fest, dass Homosexualität zu keiner Marginalisierung führte [immerhin war er der Bruder des Königs], es gelingt ihm aber nicht zu zeigen, welche Aussagen damit über die Vorstellung von (hegemonialer/adliger) Männlichkeit, Sexualität oder auch von Beziehungen getroffen werden könnten.

Aufbauend auf Connells Überlegungen zu Maskulinität und Konzepten des doing gender zeigt Norbert Finzsch in seinem Beitrag „Aunts, Pederasts, Sodomists, Criminals, Inverts: Homosexuality, Masculinity and the French Nation in the Third Republic“, dass der Diskurs um Homosexualität verlagert wurde von einer teleologischen-juristischen Debatte in einen Diskurs über Reproduktion und Schutz der Familie. Prostitution und Homosexualität wurden deswegen nun zu den Hauptzielen der disziplinierenden öffentlichen Ordnung und Moral. Das Jahr 1871 markierte daher eine Wasserscheide in der Geschichte der Homosexualitäten, denn weniger die Kriminalisierung, sondern vielmehr die Pathologisierung stand nun im Vordergrund (vgl. S. 101). Nicht mehr von Sünde wurde gesprochen, sondern von Perversität.

Kristoff Kerl zeigt in seinem Beitrag „‘Sodomy is not the crime of nature, barbarism or of lustful black bruters; it is the over-ripe fruit of civilization’: Krisenwahrnehmungen protestantisch-angloamerikanischer Männlichkeiten und rassifizierte Sexualitäten im Leo Frank Case“, wie produktiv es sein kann, intersektional zu arbeiten und Geschlecht und Sexualität mit anderen Machtachsen in Beziehung zu setzen. Leo Frank wurde 1913 vorgeworfen, die junge Angloamerikanerin Mary Phagan ermordet zu haben. Der jüdische New Yorker wurde angeklagt und schließlich von einem Lynchmob erhängt. Im Verlauf des Falles gegen den als Jew Pervert bezeichneten Leo Frank kam es immer wieder zu antisemitischen Ausschreitungen. Am Beispiel des Leo Frank Case analysiert Kerl Sexualitätskonstruktionen innerhalb der Zeit der Reconstruction und der Wiederherstellung der White Supremacy. Auch gelingt es ihm herauszuarbeiten, wie sexuelle Begehrensmuster verzahnt werden mit gesellschaftlichen Machtstrukturen innerhalb von „sozioökonomischen und kulturellen Transformationen“ (S.144), innerhalb derer sich der agrarisch geprägte Süden vom urbanen industrialisierten Norden bedroht sah.

Ging es Kerl vor allem um die (De-)Konstruktion der Vorstellungen von Männlichkeit, beschäftigt sich der Kunsthistoriker Nicolas Maniu mit Robert Mapplethorpes Photographie „Self Portrait with Whip“ von 1978. In seinem Artikel geht es ihm um nichts weniger als das „revolutionäre Potential“ dieses Selbstportraits. An Penetration bzw. Penetrationsangst sowie an den Sehgewohnheiten in der europäischen Kunst, in der Männer selten als begehrliche Objekte (vgl. S. 154) dar- und ausgestellt wurden, entlang argumentierend, sieht Maniu in der Transgression des Bildes, der analen Penetration, die „bedeutsamste und eindrucksvollste Inszenierung von Männlichkeit im 20. Jahrhundert“ (S. 146).

Diskriminierungen

Unter dem Stichwort Diskriminierung/Verfolgung finden sich die Artikel von Jakob Michelsen sowie von Gottfried Lorenz und Ulf Bollmann, die sich mit der Rechtspraxis im 18. bzw. im 20. Jahrhundert beschäftigen. Michelsen zeichnet die großen Linien der Verfolgung des Delikts Sodomie im 18. Jahrhundert in Brandenburg-Preußen nach und zeigt, wie sich die normativen Veränderungen in Strafrechts- und Sexualitätskonzepten auf die Strafpraxis der Beurteilung von sexuellen Handlungen gegen Frauen auswirkten. Diese war nämlich mit der Schwierigkeit verbunden, dass diese die sexuelle Handlung nicht konkret beschreiben konnten, da im phallozentrischen Konzept Sexualität an Penetration und Ejakulation geknüpft war. Wenn Frauen vor Gericht kamen, dann solche, die durch das Tragen von Männerkleidung Geschlechtergrenzen überschritten hatten. Lorenz und Bollmann wiederum untersuchen auf der Basis der Hamburger Haupt- und Vorverfahrensregister der Staatsanwaltschaft aus den Jahren 1948 bis 1969 den Verfolgungsdruck auf homosexuelle Männer, auch nach dem Ende des Nationalsozialismus. Die Autoren plädieren für einen Paradigmenwechsel, nämlich nicht mehr die Zahl der Urteile in den Vordergrund zu stellen, sondern „die Mechanismen der Diskriminierung homosexueller Menschen in der Gesellschaft“ in den Blick zu nehmen (S. 279). Damit würde sich auch der Blick auf Frauen öffnen, die nämlich bei einer alleinigen Betrachtung der Folgen der § 175 und 175 a StGB nicht berücksichtigt würden.

Abgeschlossen wird der Band mit drei Artikeln zu „Emanzipation“. Sascha Förster untersucht ausgehend von einer Inszenierung von Tony Kushners Engel in Amerika das Konzept „queerer Imagination“ (S. 407) und setzt diese in Beziehung zu der Notwendigkeit von Sichtbarkeit und einer LGBTIQ*-Geschichtsschreibung. Das ist zwar richtig, dennoch erscheint sein Wunsch, die „eigene Identität als Angehörige der LGBTIQ*-Community“ gestärkt zu sehen, etwas romantisch, verdeckt er doch gleichsam wieder die Unterschiede.

Fazit

Die Beiträge in diesem Sammelband sind sehr heterogen und auch bezogen auf den Forschungsstand auf einem sehr unterschiedlichen Niveau. Während in einigen der Artikel versucht wird, queertheoretische Konzepte mit Postcolonial Studies zu verzahnen, liegen auch Beiträge vor, die sich einer eher konventionellen Geschichtsschreibung von (männlicher) Homosexualität verpflichtet fühlen. (Çetin/Voß 2016). Der Band vermag nur in Teilen einen Überblick über „Aktuelle Tendenzen und Projekte“ zu zeigen und lässt einen deswegen eher unzufrieden zurück.

Literatur

Bargetz, Brigitte/Ludwig, Gundula. (2015). Bausteine einer queerfeministischen politischen Theorie. Eine Einleitung. (S. 9−24). Femina Politica. Zeitschrift für eine feministische Politikwissenschaft, 24 (1).

Butler, Judith. (1990). Gender Trouble. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Çetin, Zülfukar/Voß, Hans-Jürgen. (2016). Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven. Gießen: Psychosozial Verlag.

Connell, Raewyn. (1995). Masculinities. Berkeley/Los Angeles: University of California Press.

Genschel, Corinna. (1996). Fear of a Queer Planet: Dimensionen lesbisch-schwuler Gesellschaftskritik. (S. 525−537). Das Argument, 38 (4).

Hark, Sabine. (1993). Queer Interventionen. (S. 103–109). Feministische Studien, 11 (2).

West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987). Doing Gender. (pp. 125-151). Gender and Society, 1 (2).

Veronika Springmann

Humboldt-Universität zu Berlin

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