Weiße Männlichkeit in der Krise – Antisemitismus in den USA um die Wende zum 20. Jahrhundert

Rezension von Sina Arnold

Kristoff Kerl:

Männlichkeit und moderner Antisemitismus.

Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre.

Köln u.a.: Böhlau Verlag 2017.

374 Seiten, ISBN 978-3-412-50545-5, € 60,00

Abstract: Der jüdische Fabrikdirektor Leo Frank wurde 1915 von einem Mob angloamerikanischer Männer gelyncht, nachdem er des Mordes an einer jungen angloamerikanischen Arbeiterin für schuldig befunden wurde. Kristoff Kerl zeigt durch eine intersektionale Analyse, wie sich im Laufe der Affäre, die als bekanntestes Beispiel antisemitischer Gewalt in den USA gilt, vormalige Versatzstücke zu einem kohärent antisemitischen Weltbild zusammenfügen. Hintergrund dazu waren Krisenwahrnehmungen in den Südstaaten seit Ende des Bürgerkriegs: Industrialisierung, Urbanisierung, die Sklavenemanzipation und die Zunahme weiblicher Lohnarbeit interpretierten Angloamerikaner auch als Angriff auf ihre Männlichkeit. Der Kampf gegen den Juden Frank wurde zum Kampf für die Wiederherstellung der hegemonialen Geschlechterordnung.

DOI: https://doi.org/10.14766/1235

Die USA gelten oft als ein Land, in dem Antisemitismus kein nennenswertes Problem ist. Im globalen Maßstab gibt es wenig antijüdische Straftaten, die jüdische Community ist nicht strukturell benachteiligt. Seit der Präsidentschaft Donald Trumps und der sie begleitenden Zunahme rechter Hate Groups hat sich dies geändert und führt auch in wissenschaftlichen Debatten dazu, dass vergangene Episoden von Diskriminierung gegenüber Juden und Jüdinnen noch einmal neu betrachtet werden. Einen erhellenden Beitrag dazu liefert das Buch von Kristoff Kerl, in welchem er einen der frühesten öffentlich diskutierten Fälle des US-amerikanischen Antisemitismus analysiert. Kohärent geschrieben und stringent argumentierend hat die historische Studie das Ziel, den Leo Frank Case, eine zweijährige öffentliche Justizaffäre, zum Ausgangs- und Angelpunkt einer intersektionalen Analyse von Antisemitismus und Männlichkeit(en) in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu machen.

Der Leo Frank Case

Leo Frank, jüdischer Leiter einer Stifte-Fabrik im Bundestaat Georgia, wurde 1913 zum Tode verurteilt für den vermeintlichen Mord an der 13-jährigen angloamerikanischen Mary Phagan, die als Arbeiterin bei ihm tätig war. Nachdem das Urteil zu lebenslanger Haft umgewandelt wurde, entführte im Sommer 1915 eine Gruppe angloamerikanischer Männer unter dem Namen The Knights of Mary Phagan Frank aus dem Gefängnis und erhängte ihn. Der Mord wurde von großen Teilen der Bevölkerung gefeiert, zur Leichenschau in New York kamen 15 000 Menschen. Der Prozess, das Urteil und der Lynchmord polarisierten das Land und prägten die medialen Diskurse.

Während zwischen 1890 und 1917 in den Südstaaten wöchentlich zwei bis drei Schwarze von angloamerikanischen Mobs gelyncht wurden, war diese Form von Gewalt gegenüber Juden eher selten und ist, so Kerls These, Ausdruck einer Verdichtung antisemitischer Vorstellungen zur damaligen Zeit. Dass Frank ein jüdischer Mann war, wurde auf unterschiedlichen Ebenen der Stereotypisierung relevant. Kerl arbeitet diese heraus, verweist auf ihre historischen Vorläufer sowie ihre Nachwirkungen, zu denen etwa die Wiedergründung des Ku-Klux-Klans im Jahr 1915 mit einer dezidiert antisemitischen Stoßrichtung gehörte. Wie unter einem Brennglas betrachtet der Autor also das Ereignis, seine Vor- sowie seine Nachgeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung der vergeschlechtlichten Krisen- und Bedrohungswahrnehmungen werden die Genese und die Auswirkungen des modernen Antisemitismus in den USA analysiert.

Verdichteter Antisemitismus

Eingangs verortet der Autor die Studie innerhalb der historischen Antisemitismusforschung – insbesondere in Bezug auf die USA und den Frank-Case – einerseits sowie der Geschlechterforschung – insbesondere zu hegemonialer Männlichkeit (Connell 2006) und zu Männlichkeit(en) in der Geschichte der USA (Kimmel 2012, Martuschkat/Stieglitz 2007) – andererseits.

Empirische Grundlage der Studie ist eine historische Diskursanalyse vor allem regionaler Zeitschriften und Zeitungen. Auch wenn das genaue methodische Vorgehen in der Arbeit, die spezifische Analyse der jeweiligen Quellen und worauf diese Bezug nehmen, für die Leserin nicht ganz deutlich wird und an einigen Stellen eine Quantifizierung von Aussagen die jeweilige historische Relevanz stärker hätte verdeutlichen können, gelingt es Kerl auf Grundlage des empirischen Materials doch überzeugend, die Umstände zu beleuchten, die seit dem Ende des amerikanischen Bürger_innenkriegs und der Reconstruction-Ära (1865-1877) den Fall begleiteten. Der Frank-Case gilt ihm zufolge als Wegbereiter für eine „kohärent antisemitische Weltsicht“ (S. 322), die in den 1930er und 1940er Jahren, der Hochzeit des amerikanischen Antisemitismus, gesellschaftlich virulent wurde. Bei diesem modernen Antisemitismus geht es um mehr als vereinzelte Stereotype, sondern vielmehr um eine Weltanschauung, bei der unterschiedliche Versatzstücke aufeinander verweisen und in ihrer Verbindung auf das Ausmachen konkreter Schuldiger an den Übeln der Welt hinauslaufen: die Juden. Mit beigetragen zu dieser Wegbereitung hat der Ku-Klux-Klan, der dieses „neuartige Wissen“ (S. 322) insbesondere in den Südstaaten verbreitete. Es kam zur Zeit des Frank-Case also nicht nur zu einer quantitativen Zunahme an antisemitischen Vorurteilen und Handlungen, sondern zu einer grundsätzlich qualitativen Veränderung. Diese neue Erkenntnis wird auch im Vergleich zu zentralen Studien zum amerikanischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts (Dinnerstein 2004, Hertzberg 1989, Higham 1988, Michael 2005) detailreich herausgearbeitet.

Der Verlust der ‚manly independence‘

Verstehen lässt sich diese Veränderung nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Krisenwahrnehmungen seit dem Ende des Amerikanischen Bürger_innenkrieges 1865. Dazu gehörten die sich ausbreitende Industrialisierung und Urbanisierung sowie der Niedergang des Southern Way of Life, der auf einer agrarischen Gesellschaftsformation basiert hatte. Die Krise des Südens wurde von Angloamerikanern dabei auch als eine Krise hegemonialer Männlichkeit empfunden: Die Rolle des Yeoman – des unabhängigen Farmers, der das „Fundament der republikanischen Ordnung der USA“ war (S. 202) – wich zunehmend der des Pächters. Die Verfügungsgewalt von Weißen über Afroamerikaner_innen nahm ab durch die formale Abschaffung der Sklaverei 1865 und dadurch, dass Sklav_innen drei Jahre später Bürger_innenrechte zugesprochen wurden. Eine große Anzahl von Arbeiter_innen migrierte in die Städte und ließ den Lebensentwurf des autonomen Farmers abermals erodieren – allein zwischen 1880 und 1900 verdreifachte sich die Zahl der Industriearbeiter_innen in der Mehrzahl der Südstaaten. Dabei traten gerade angloamerikanische Frauen verstärkt in Lohnarbeitsverhältnisse ein, was eine Steigerung weiblicher „Autonomie und Agency“ (S. 253) nach sich zog und traditionelle Familien- und Ernährermodelle ins Wanken geraten ließ.

Kristoff Kerl arbeitet heraus, dass diese Krisenwahrnehmung weißer Männlichkeit maßgeblich zur Entstehung des modernen Antisemitismus beitrug, konnten doch Juden für all diese Veränderungen verantwortlich gemacht werden. Drei Figuren wurden dabei im Laufe des Prozesses um Leo Frank verwoben: der Carpetbagger, der Yankee und der ‚Jude‘. Carpetbagger waren angloamerikanische Nordstaatler, die nach dem Bürgerkrieg in den Südstaaten politische und ökonomische Macht und Kontrolle übernahmen; auch Yankees waren mit negativen Eigenschaften ausgestattete Nordstaatler. Diese Bilder aus der Reconstruction-Ära verschmolzen mit bestehenden Stereotypen von ‚Juden‘ als überzivilisiert, verschwörerisch wirkend, das Urbane repräsentierend, gierig und tugendlos zum Jew Carpetbagger. Diese „Agenten des Kapitals“ (S. 137) wurden zudem noch verantwortlich gemacht für die wahrgenommene Subordination von Angloamerikaner_innen unter Schwarze – also die Zersetzung der „natürlichen“ Ordnung – sowie dank ihrer ‚perversen Sexualität‘ für Prostitution und Zuhälterei angloamerikanischer junger Frauen, die Rede war von White Slavery. Juden wurde in dieser Konstellation also eine „tugendlose Männlichkeit“ (S. 324) zugeschrieben, die als Bedrohung der Unschuld angloamerikanischer Frauen imaginiert wurde – welche wiederum ein vermeintliches Schutzbedürfnis durch angloamerikanische Männer nach sich zog.

Vor diesem Hintergrund macht die Analyse deutlich, welches Feindbild Leo Frank einnahm: Der jüdische Fabrikleiter wurde als Yankee wahrgenommen, als Fremder, der nicht zur Südstaatenkultur gehörte. Er zwang die junge Mary Phagan – die im öffentlichen Diskurs wiederholt mit Begriffen der „Reinheit und christlichen Tugend“ (S. 253) assoziiert wurde – nicht nur zur Arbeit, ihm wurde auch sexuelle Nötigung nachgesagt. Doch war er angeblich nicht nur ein Aggressor gegenüber Frauen, sondern wurde auch als „Aggressor gegenüber der Color Line“ (S. 259) konstruiert. Frank, der Jude, wurde letzten Endes das personifizierte Sinnbild des Niedergangs des weißen Mannes des Südens. Zeitgenoss_innen verstanden umgekehrt den „Kampf gegen ‚Juden‘ als einen Kampf für die Überwindung der Krise des Südens durch die Rekonstitution angloamerikanischer Männlichkeit“ (S. 83). Franks Mörder gehörten noch im selben Jahr zu den Mitbegründern des zweiten Geheimbundes der Knights of the Ku Klux Klan, der im darauffolgenden Jahrzehnt mit über vier Millionen Mitgliedern den weißen Terror gegen Juden und vor allem gegen Schwarze im ganzen Land fortsetzen sollte.

Fazit: eine inter-sektion-ale Analyse

Kristoff Kerl gelingt es mit seinem Buch, gleich mehrere Leerstellen zu füllen: Er unternimmt eine detaillierte historische Analyse eines der zentralsten Ereignisse im amerikanischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts, die über den gegenwärtigen Kenntnisstand der Forschung hinausgeht; er bringt Erkenntnisse aus der Antisemitismus- und der Genderforschung – als zwei gerade im US-Kontext oftmals getrennten wissenschaftlichen Feldern – zusammen; und er trägt zum Verständnis der Genese des modernen Antisemitismus als eines Phänomens bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsordnungen wie auch seiner Rolle insbesondere in gesellschaftlichen Krisenzeiten bei. Seinem intersektionalem Zugang folgend analysiert der Autor Männlichkeiten in ihrem Zusammenspiel mit race, Jüdischsein und Klasse und hat damit die erste Studie zu verwobenen Vorurteilen in den Südstaaten um die Wende zum 20. Jahrhundert verfasst, in der Antisemitismus den Ausgangspunkt darstellt. Diese zeigt auch, wie in dieser bestimmten Epoche die Kategorie ‚Sektion‘ – also die Zugehörigkeit zur Nord- oder Südstaatenkultur – relevant wurde. Obwohl der Vergleich mit Europa kein Ziel des Autors ist, ist doch auffällig, dass die Existenz dieser Kategorie einen Unterschied gegenüber dem europäischen Antisemitismus darstellt. Die Ergebnisse erinnern uns somit an die Notwendigkeit, bei intersektionalen Zugängen Herrschaftsverhältnisse immer entsprechend der historisch und lokal spezifischen Gegebenheiten zu analysieren. Und auch wenn das Buch vor der Wahl Donald Trumps fertiggestellt wurde, mögen die Erkenntnisse einen Beitrag leisten zum Verständnis der heutigen USA, in denen eine Finanzkrise und eine Krise der Männlichkeit ebenfalls zu Tage treten und antisemitische Akteure auf historische Vorläufer in ihren Erklärungsmodellen zurückgreifen.

Literatur

Connell, Robert W. (2006). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Dinnerstein, Leonard. (2004). Antisemitism in America. New York/Oxford: Oxford University Press.

Higham, John. (1988). Strangers in the Land. Patterns of American Nativism 1860-1925. New Brunswick/London: Rutgers University Press.

Hertzberg, Arthur. (1989). The Jews in America: Four Centuries of an Uneasy Encounter. New York: Columbia University Press.

Kimmel, Michael. (2012). Manhood in America: A Cultural History. New York: Oxford University Press.

Martschukat, Jürgen /Stieglitz, Olaf (Hg.). (2007). Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Bielefeld: transcript Verlag.

Michael, Robert. (2005). A Concise History of American Antisemitism. Lanham: Rowman and Littlefield.

Dr. Sina Arnold

Humboldt-Universität zu Berlin

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Homepage: https://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/dr-sina-arnold/

E-Mail: sina.arnold@hu-berlin.de

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