Genderkonstruktionen durch mediale Mythen in der Kinder- und Jugendliteratur

Rezension von Torsten Mergen

Kerstin Böhm:

Archaisierung und Pinkifizierung.

Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur.

Bielefeld: transcript Verlag 2017.

200 Seiten, ISBN 978-3-8376-3727-4, € 29,99

Abstract: Die Germanistin Kerstin Böhm untersucht am Beispiel zweier Jugendbuch-Reihen mediale Entwicklungstendenzen, die sich gegenseitig beeinflussen: Einerseits verändert sich der Markt der Kinder- und Jugendliteratur strukturell durch die wachsende Präsenz von Medienverbünden. Kaum ein Bestseller erscheint solitär in Buchform, komplementär werden häufig auditive, audiovisuelle oder grafische Begleitprodukte mitgeliefert. Anderseits ist damit aus Marketinggründen eine offensive geschlechtsspezifische Adressierung verbunden, die klar erkennbare Zielgruppen durch den Einsatz von Stereotypen, Markierungsstrategien und geschlechterbasierter Mythen zur Steigerung der kommerziellen Verwertbarkeit anvisiert.

DOI: https://doi.org/10.14766/1238

Die geschlechtsspezifische Aufteilung respektive Adressierung der Kinder- und Jugendliteratur als Mädchen- und Jungenliteratur repräsentiert kein aktuelles kulturelles Phänomen, vielmehr lassen sich seit dem Spätmittelalter literarische Texte nachweisen, welche explizit an Mädchen gerichtet sind, vorwiegend in Form von nicht-fiktionalen Texten mit dezidierten Erziehungszwecken. Im Bereich der Jugendlektüre konnte die historische KJL-Forschung für die Jahrhundertwende um 1900 eine zunehmende geschlechtsspezifische Ausdifferenzierung beobachten, die mit Backfischerzählungen (wie dem Trotzkopf, 1885) einen ersten Höhepunkt erreichte. Fortgesetzt wurde diese Geschlechterorientierung mit dem sogenannten Abenteuerbuch, wobei tendenziell deutlich wird, dass sich die Genres in der Explizitheit ihrer geschlechtlichen Markierung signifikant unterscheiden: Beim Mädchenbuch ist seine Zielgruppe festgelegt, bei der Abenteuerliteratur bleibt die Adressatengruppe teilweise nebulös bzw. unbestimmt, was als Hinweis für die androzentrische Natur des Feldes der Kinder- und Jugendliteratur gesehen werden kann. Dies wird gestützt durch den Befund der Studie von Kerstin Böhm, dass der Begriff der ‚Jungenliteratur‘ lange Zeit nicht gebräuchlich war. Gegenwärtig ist es jedoch, wie die Autorin feststellt, zu einer vehement vorangetriebenen Genreaktualisierung bzw. Genremarkierung unter dem Label ‚Jungenliteratur‘ gekommen, was als Ergebnis von Verwerfungen bzw. Neuausrichtungen in diesem literarischen Feld gedeutet werden kann. Dies ist verknüpft mit dem ‚boy turn‘ im Gefolge der PISA-Studie, demzufolge bei der Leseförderung in gewissen Grenzen die Reproduktion von Geschlechterstereotypen durch geschlechtsspezifische Lektüreangebote toleriert wird.

Kinder- und Jugendliteratur (KJL) in Medienverbünden

In ihrer Hildesheimer Dissertationsschrift stellt Böhm einleitend das Forschungsanliegen dar, das von der zunehmend geschlechtsspezifischen „Differenzierung kinderliterarischer Texte in Texte für Jungen sowie Texte für Mädchen“ (S. 8) als Ergebnis eines Marketingprozesses ausgeht. Dies untersucht die Autorin exemplarisch am Beispiel der Reihen Die Wilden Hühner, zwischen 1993 und 2009 in sechs Bänden erschienen, und Die Wilden Fußballkerle, zwischen 2002 und 2015 in fünfzehn Bänden erschienen. Einführend verweist Böhm bereits auf das Phänomen, dass diese Kinderliteratur nicht mehr nur in Buchform, sondern in Medienverbünden angeboten wird: „Sowohl ‚Hühner‘ als auch ‚Fußballkerle‘ treten […] nicht nur als textuelle Konstrukte in Erscheinung, sondern auch als Figuren von Filmen sowie Serien und […] als Werbeträger für Fußbälle sowie Haarspangen.“ (S. 10) Entsprechend verfolgt die Autorin in ihrer Studie das Ziel, eben solche Medienverbünde als neue Form der Gendergenerierung bzw. -markierung, evoziert durch ökonomische Interessen und Verwertungsketten, in den Blick zu nehmen. Theoretisch gestützt auf Bourdieus Feldtheorie und die Männlichkeitsforschung arbeitet sie präzise heraus, wie verschiedene Formen, Bilder und Narrationen hegemonialer Männlichkeit durch den Gebrauch von Stereotypen, geschlechtsspezifischen Inszenierungsmustern und Aktualisierungen archaischer Mythen gestützt werden, womit zugleich feminine Geschlechterrollen als qualitativ von anderer, partiell minderer Qualität konstruiert werden.

In einem kompakten zweiten Kapitel widmet sich die Autorin dem Phänomen der Medienverbünde, vorrangig verstanden als „Unterhaltungsmedienverbünde“. Erkennbar ist der Versuch, den Begriff zu schärfen, indem der neue Trend zu Verbünden im Kontext der klassischen Trivialitäts- und Stereotypendebatte, der neueren Serialitätsforschung sowie der Lesedidaktik ideologiekritisch verortet wird. Im Ergebnis konstatiert Böhm: „(Kinderbuch-) Serienliteratur kann somit als literarische Begleiterscheinung eines durch Prozesse der Kommerzialisierung geprägten und somit nicht autonomen ‚literarischen Feldes‘ begriffen werden, dem der triviale Charakter immanent ist.“ (S. 33)

Geschlechtsspezifik der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur

Komplementär zu dieser Begriffsbestimmung werden im dritten Kapitel kategorial die Aspekte von Geschlechtsspezifik in der KJL aufgearbeitet. Nach grundlegenden Gegenüberstellungen in Bezug auf wesentliche Merkmale von Mädchen- und Jungenliteratur, die diachron angelegt sind und ältere Forschungsergebnisse konzise zusammenfassen, konturiert Böhm die beiden Leitbegriffe ihrer Studie „Archaisierung“ und „Pinkifizierung“ als aktuelle Phänomene. Für die intentionale Jungenliteratur arbeitet sie als Ergebnis eines Transformationsprozesses Archaisierungstendenzen im Sinne geschlechtsspezifischer Erzählmuster heraus – „wie de[n] Rückbezug auf archaische Erzählmuster, welche sich aus mythologischen Erzählungen herleiten lassen und somit per se Elemente des Seriellen und Epischen in sich tragen sowie daraus resultierende (Re-)Inszenierungen des Heldenmotivs“ (S. 48). Als Paralleltendenz identifiziert sie eine „‚Pinkifizierung‘ der Mädchenliteratur“ (S. 51), welche plausibel in einen Konnex zu einer wachsenden Sexualisierung und einer Rückkehr zu einem klassischen Weiblichkeitsbild gebracht wird, wobei marktspezifisch besonders Bezüge zu scheinbar mädchenspezifischen Kosmetika und Bekleidungsartikeln hergestellt werden, die dann auch literarisch gestützt werden. Die durchweg plausible These Böhms besteht insofern in der medialen Revitalisierung des „Paradigmas der ‚Geschlechtscharaktere‘ mit einer spezifischen Männlichkeitsmarkierung“ (S. 53).

Detailanalysen zu den KJL-Serien Die Wilden Kerle und Die Wilden Hühner

Der Schwerpunkt der Studie liegt erkennbar im akribisch-stupenden Versuch einer detaillierten Analyse der möglichen Lesarten von KJL und derjenigen Medienverbünde, die mit den beiden Reihen Die Wilden Fußballkerle und Die Wilden Hühner verbunden sind. Auf der Basis von jeweils nachvollziehbar hergeleiteten Analysekategorien wie Inszenierungsmustern in männlich-männlicher und weiblich-weiblicher sowie männlich-weiblicher Konfiguration geht sie systematisch der Frage nach, wie textimmanent Männlichkeit bzw. Weiblichkeit konstruiert und symbolisch repräsentiert wird. In Die Wilden Kerle geschieht dies, neben der thematischen Fokussierung auf den Fußballsport, über die Attribute der Fußballmannschaft und der damit verbundenen Handlungsperformanzen: „Die Mannschaft muss sich – von Band zu Band – immer wieder neu konstituieren und sich diversen Herausforderungen stellen.“ (S. 63) Intensiviert werde dies durch die explizite Distinktion von den negativ konnotierten Mädchen, die zugleich mit Schwäche assoziiert werden. Diese Geschlechterkonstruktion wird gesteigert durch den weitläufigen Medienverbund, vor allem die entsprechenden Filme, die den Trend zur archaisierenden Heroisierung durch die Darstellung von mehrfachen Bedrohungen verstärken: „Männlichkeit wird in den vorliegenden Filmen anhand der Figur des Kriegers inszeniert und entlang von Kleidung […], Fortbewegungsmitteln […] sowie Handlungsräumen […] entwickelt.“ (S. 79) Dieser Trend wird auch in der 26-teiligen Fernsehserie und den umfangreichen Internetangeboten zu Film und Buchserie verstärkt.

Einen parallelen Erkenntnisweg wählt Böhm für die oftmals als progressiv bezeichnete Reihe Die Wilden Hühner, ursprünglich konzipiert und verfasst von Cornelia Funke, fortgeführt durch die von Thomas Schmid verfasste Reihe Die Wilden Küken. Als Kinderbandenromanserie bedienen die Bücher spezielle Klischees, die um triviale Erscheinungsformen früher Adoleszenz und damit korrespondierender Konflikte um das Verhältnis zu Homosexualität, zum weiblichen Körper und zum männlichen Gegenüber kreisen. Insofern klassifiziert sie Böhm als zugehörig zur Gruppe von Mädchenbüchern mit „Modernität bei gleichzeitiger Traditionalität“ (S. 129), die dabei Mädchenfiguren „in Tradition der ‚emphasized feminity‘“ (ebd.) zeigen. Der Medienverbund mit drei Filmen und einem (überschaubaren) Internetangebot stützt diese Tendenz, wobei die Sexualisierungsformen durch den Medienwechsel nach der Beobachtung von Böhm verstärkt werden.

„Archaisierung“ und „Pinkifizierung“

In den beiden abschließenden Kapitel werden Merkmale von Strategien der „Archaisierung“ und „Pinkifizierung“ aufgezeigt, welche überholt geglaubte Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in medialen Inszenierungsformen sowohl tradieren als auch aktualisieren: Klassische Zuschreibungen wie „Jungs spielen mit Autos“ und „Mädchen spielen mit Puppen“ werden in Kontexten von aktuellen Sozialisationsmedien aufgegriffen und gewinnen eine besondere Bedeutung bei der Bereitstellung von Identifikationsmöglichkeiten. Einerseits illustrieren und belegen die beiden Kapitel eine Renaissance von archaischen Erzählmustern, vor allem dank der Inszenierung männlicher Heldenfigurationen. Darunter subsumiert die Autorin Männlichkeitsmythen wie den Revolver- und Westernhelden, den sportlichen Helden oder den Krieger, die innerhalb der Narration in eine männliche Genealogie transponiert werden, in welche zugleich die männlich imaginierte Leserschaft integriert wird. Andererseits beschreibt Böhm mit dem Neologismus der „Pinkifizierung“ ein Muster, welches im Kontext des Gendermarketings zahlreiche (rosa) gefärbte Produkte für weibliche Zielgruppen kreiert hat. Auf Textebene sind nach den Ergebnissen Böhms zwei Motive bestimmend: Einerseits erkennt sie das Motiv der „schwärmerisch-romantische[n], emotionale[n] Liebe“ (S. 152), anderseits das Motiv der „Ästhetisierung der Demut“ (ebd.), welche beide auf antiquierte Bilder von Weiblichkeit rekurrieren und den Typus hegemonialer Männlichkeit stützen.

Fazit

Hervorzuheben ist das abschließende Fazit der Studie, das eine lange Kontinuitätslinie deutlich werden lässt: „Die Darstellung von Geschlecht, die Inszenierung von Weiblichkeit und Männlichkeit, folgt den Attribuierungsmustern, welche im Zuge der Etablierung der ‚Geschlechtercharaktere‘ Ende des 18. Jahrhunderts vorgenommen wurden, und tradiert diese somit weiter.“ (S. 159) Gerade die ausgewählten Medienverbünde Die Wilden Kerle und Die Wilden Hühner lassen durch die methodisch versierte Analyse der Hildesheimer Forscherin Rückschlüsse darauf zu, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Lektüreauswahl eher von ökonomisch-pekuniären als von genuin kulturellen Faktoren geleitet sind. Insofern zeigt die Studie sehr plausibel, dass die offensive geschlechtsspezifische Adressierung in der neueren KJL-Produktion, welche auf Strategien von ‚Archaisierung‘ und ‚Pinkifizierung‘ zurückgreift, weniger geschlechtsspezifischer Leseförderung, sondern vielmehr kommerzieller Orientierung geschuldet ist.

Mit ihrer gut lesbaren, klar gegliederten Studie hat Kerstin Böhm eine wichtige Entwicklung des Kinder- und Jugendliteraturmarktes systematisch analysiert und begrifflich klar auf den Punkt gebracht. Die Studie ist anschaulich gestaltet, die Analyse der Medienverbünde greift auch visuelle Inszenierungsformen auf. Zu monieren ist lediglich ein Schwachpunkt der Studie: die im Schlusskapitel verortete, knapp zweiseitige „Didaktische Reflexion“. Hier richtet die Autorin den Blick auf das weite Feld der schulischen Leseförderung bzw. Literaturvermittlung und konstatiert etwas monokausal und plakativ mit kaum vorhandener, lediglich auf eine schmale Literaturbasis gestützter Absicherung: „Je öfter suggeriert wird, dass das Lesen und der Deutschunterricht weiblich seien, je öfter das Lesen als das ‚Andere‘, das nicht Normale markiert wird, […] desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Jungen langfristig zum Lesen angeregt werden.“ (S. 163) An dieser Stelle hätte der Studie eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der genderorientierten Leseforschung gut getan. Unabhängig davon legt Böhms Studie ein wichtiges Fundament für die literaturwissenschaftliche Erforschung von serieller KJL und der kritischen Auseinandersetzung mit genderspezifischer Textgestaltung und -auswahl im Kontext von Männlichkeitsforschung, Feldtheorie, Kapitalismuskritik und schulischen wie außerschulischen Leseförderkonzepten.

Torsten Mergen

Universität des Saarlandes

Dozent für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur

E-Mail: Torsten.Mergen@gmx.de

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