Versuch einer neuen Grammatik der Differenz

Rezension von Bärbel Schomers

Sabine Hark, Paula-Irene Villa:

Unterscheiden und herrschen.

Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart.

Bielefeld: transcript Verlag 2017.

176 Seiten, ISBN 978-3-7328-3653-6, € 17,99 (E-Book)

Abstract: Differenzen können als Grundlage für Diskriminierungen funktionalisiert werden, wie die Veränderungen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs in Folge der Kölner Silvesternacht 2015 gezeigt haben. Wie Differenzen plural und anti-essentialistisch gedacht und gesagt werden können, führen Sabine Hark und Paula-Irene Villa in ihrer Analyse den Leser*innen vor Augen.

DOI: https://doi.org/10.14766/1255

In ihrem aus unerfindlichen Gründen mit dem Begriff ‚Essay‘ bezeichneten, allerdings weder in Länge noch Aufbau an einen klassischen Essay erinnernden Text, beschäftigen sich Sabine Hark und Paula-Irene Villa anhand der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015 und deren medialer Aufbereitung mit der Frage nach der Erschaffung von Differenzen und nach deren Wirksam-Werdung und Wirkmächtigkeit im öffentlichen und politischen Raum (vgl. S. 25). Den Autorinnen ist es darum getan, einen „anti-essentialistischen Ethos der Differenz“ (S. 59) zu entwickeln und den Feminismus zu entkolonialisieren (vgl. S. 92).

Hierzu stellen sie der Essentialisierung sozialer Positionen deren reale Komplexität gegenüber, verbunden mit einer Kritik an einem universalistischen und als unveränderbar wahrgenommenen Identitätsbegriff. Artikulationen begreifen sie vielmehr als transformatorische Bewegung und als Praxis der Verknüpfung von relationalen Figurationen, durch die die Identität der Elemente verändert werden kann (vgl. S. 33). Die Betitelung „Unterscheiden und herrschen“ beschreibt eine Mechanik, die „Verfahren rassistischer Wir-Sie-Differenzierungen“ (S. 49) mit einem „Mechanismus der Versämtlichung durch Subsumption unter negative Zuschreibungen“ verbindet. Versämtlichung meint in diesem Kontext eine „wesenhafte Ontologisierung von Personen im Sinne einer essentialistisch verstandenen Gruppenzugehörigkeit“ (S. 49).

‚Köln‘ als Ereignis

Im Rahmen ihrer Analyse der Versämtlichung üben die Autorinnen herbe Kritik an der Vereinnahmung und Nutzbarmachung des (Differenz-)Feminismus durch rassistische Positionen. Um die Mechanismen dieser Nutzbarmachung deutlich und unmissverständlich zu beleuchten, untersuchen sie die Verstrickungen zwischen „Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart“ (S. 3) anhand des Aufhängers der Kölner Silvesternacht 2015, die, wie sie eindrucksvoll nachweisen, das Sprechen und Denken, den Diskurs und damit das, was zu sagen erlaubt ist, verändert haben. Nach ‚Köln‘ setzte eine Tendenz zur Fundamentalisierung des Diskurses ein, die die Autorinnen geschickt aufdecken und analysieren (vgl. S. 63). Sie stellen sich die Frage, wie aus der Kölner Silvesternacht ein Ereignis werden konnte und inwieweit der mediale Diskurs über dieses Ereignis das Verhältnis zwischen dem ‚Wir‘ und dem ‚Anderen‘ veränderte.

Bei der Lektüre dieser Untersuchung wird schnell klar, dass beide Autorinnen als Koryphäen der deutschsprachigen Gender Studies tief in den komplexen Denkstrukturen des poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Feminismus der dritten Welle verhaftet sind. Nichtsdestotrotz – oder gerade darum – liefern sie eine gut lesbare, auch für Lai*innen durchaus verständliche Analyse, in der komplexe theoretische Grundlagen quasi nebenbei und allgemeinverständlich vermittelt werden. Durch die geschickte Wahl der Schwerpunkte wird nicht nur den Leser*innen vor Augen geführt, wie die Kölner Silvesternacht als Chiffre und Projektionsfläche wirkt, in der die konkreten Ereignisse mit dem, was und wie über diese Ereignisse gesprochen und medial gezeigt wurde, zu einem Diskurs verschmelzen, sondern zusätzlich elegant die grundlegenden Thesen postmodernen feministischen Denkens am konkreten Beispiel offengelegt (vgl. S. 9). Die Autorinnen liefern durch eine Analyse der Berichterstattung deutliche Belege für ihre These, dass diese durch einen rassifizierenden Fundamentalismus dominiert wurde und dass in Folge beispielsweise die lang angestrebte Reform des § 177 StGB auffällig schnell und mit klarem diskursivem Bezug, sozusagen als Reaktion auf ‚Köln‘, verabschiedet wurde – genauso wie das Asylpaket II, das ja eigentlich nur die Umsetzung der bereits 2007 von Deutschland unterzeichneten Lanzarote-Konvention in nationales Recht bedeutete (vgl. S. 44). Das Ereignis ‚Köln‘ als „privilegierter, bedeutungsfixierender Signifikant in einem xenophoben Sicherheits-Diskurs“ (S. 10) führte zu einer Neubewertung der Willkommenskultur und „des politischen Umgangs mit Migration und Asyl sowie [...] mit sexualisierter Gewalt und Geschlecht“ (S. 36). Grundlegend wird in diesem Essay die Frage der ‚Betrauerbarkeit‘ und die Definitionshoheit über das, was einen „echten“ Menschen auszeichnet, verhandelt, auch wenn die Autorinnen diesen butlerschen Terminus nicht verwenden. Judith Butler beleuchtet diese Aspekte bereits 2016 und weist in ihrer profunden Analyse zu performativen Politiken darauf hin, dass die Diskurse um Geschlecht und Sexualität als Beispiele und Ansatzpunkte genutzt werden können, um die Zusammenhänge zwischen Diskriminierung, Ausgrenzung, Macht, Widerstand und Emanzipation im Bezug auf alle marginalisierten Gruppen neu zu denken (vgl. Butler 2016, S. 54). So vermögen Hark und Villa zwar durchaus die Debatte um einen kritischen feministischen Blick auf die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln zu bereichern, gehen jedoch nicht über die Analyse Butlers in systematischer Weise hinaus.

Die Deterritorialisierung der Differenzen

Des Weiteren bleibt eine fundierte Definition dessen, was unter dem Terminus ‚Ereignis‘ zu verstehen ist, leider aus. Zur besseren Verständlichkeit und Einbindung des Essays in den akademischen Diskurs um Transformationspotentiale wäre eine kurze Rückbindung beispielsweise an die Konzeption Slavoj Žižeks wünschenswert gewesen, der im Rekurs auf Alain Badiou, kursorisch gesprochen, das Ereignis als fundamentale Rahmenverschiebung begreift, als radikalen Wendepunkt, der nicht nur die Tatsachen verändert, sondern deren gesamtes Erscheinungsfeld (vgl. Žižek 2014, S. 16, 177). Die Definition als ein „Ding von Belang“ (S. 105), wie Hark und Villa das Ereignis mit Bruno Latour fassen, reicht meines Erachtens nicht aus, um die Tragweite des gegenwärtig herrschenden politischen Klimawechsels – der erst ermöglicht, dass aus zeitlich und örtlich begrenzten Vorfällen wie denen in der Kölner Silvesternacht ein Ereignis wird – hinlänglich und pointiert greifbar zu machen. Dies wäre allerdings dringend angezeigt, um davon ausgehend Wege der Kritik und ethische und politische Alternativen zu suchen und stark zu machen, die sich nicht im Denken und in Sprechakten erschöpfen, sondern auch das praktische Handeln als Bedingung gelebter Pluralität und politischer Mitbestimmung stärken. An dieser Stelle möchte ich die von Hark und Villa nur ansatzweise geleistete Auseinandersetzung mit den Implikationen des Begriffs Ereignis sowie die Argumentation der Autorinnen im Bezug auf die Notwendigkeit der Entwicklung eines anti-essentialistischen Differenzbegriffs aufgreifen und weiterführen.

Dabei geht es dezidiert nicht darum, Differenzen abzustreiten, sondern deren Hierarchisierung als Mittel der Abwertung des Fremden zur Aufwertung des Eigenen strukturell zu unterbinden. Das Ziel ist hier, „den Zwang, den Normen auf das Geschlechterleben ausüben, zu lockern – was nicht dasselbe ist wie die Überwindung oder Abschaffung aller Normen –, um ein lebbares Leben zu ermöglichen“ (Butler 2016, S. 48). Mit den Worten Étienne Balibars gesagt: „[...] die ‚anthropologischen Unterschiede‘, von denen wir jetzt sprechen, sind ihrem Wesen nach mehrdeutig, deterritorialisiert. Ein fortwährender Double bind charakterisiert sie: [...] sie sind notwendig, weil sich niemand die Menschlichkeit der Menschen ohne Rückgriff auf diese wesentlichen Unterschiede vorstellen kann [...] niemand kann uns jedoch jemals genau sagen, wo die grundlegenden anthropologischen Unterschiede verlaufen und folglich worin ihr wesentlicher Inhalt besteht. Niemand kann wirklich sagen, was ‚ein Mann‘ ist oder was ‚eine Frau‘ ist“ (Balibar 2012, S. 221f.).

Gleichheit und Freiheit sind dabei paradoxerweise sowohl Bedingung als auch Ziel von politischem Handeln (vgl. Butler 2016, S. 73). Nur die ‚Egaliberté‘, die ‚Gleichfreiheit‘, kann Bedingung und Ziel einer gesellschaftlichen Praxis sein, in der über Ausschlusskriterien wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Klasse oder sexuelle Orientierung hinaus ein demokratisches Miteinander in einer emanzipierten Welt möglich ist (vgl. Balibar 2012, S. 72–76). „Die Politik der Gleichfreiheit enthält eine Ethik der Immanenz beziehungsweise der Selbstbefreiung“ (Balibar 2012, S. 204). Und eben dieser Ethik der Immanenz, dieser Selbstbefreiung gilt es, die Treue zu halten, denn: „In seiner grundlegendsten Definition ist ein Ereignis nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen“ (Žižek 2014, S. 16). Nur in der Treue zum ereignishaften Selbst können die hetero- und cisnormativen Dichotomien unterlaufen werden. Somit wird eine Gesellschaft denkbar und möglich, die jenseits aller Marginalisierungen auf Gleichfreiheit setzt, denn das Ereignis ist ein radikaler Wendepunkt, der nicht nur die Tatsachen verändert, sondern „das gesamte Feld, innerhalb dessen Tatsachen erscheinen“ (Žižek 2014, S. 177).

Deshalb können die Diskurse um Geschlecht und Sexualität als Beispiele und Ansatzpunkte genutzt werden, um die Zusammenhänge zwischen Diskriminierung, Ausgrenzung, Macht, Widerstand und Emanzipation im Bezug auf alle marginalisierten Gruppen neu zu denken (vgl. Butler 2016, S. 54). Gerade die Gefährdung durch Diskriminierung kann eben auch zum Widerstand auffordern und damit zur Grundlage einer neuen Politik von individueller und kollektiver Emanzipation werden (vgl. Badiou 2003, S. 15). Die Muster und Motive von Hass und Diskriminierung erweisen sich im Rückgriff auf historische Vorlagen wie den Nationalsozialismus als die ewig gleichen. Die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ richtet sich immer gegen ‚die Anderen‘, seien es Frauen, Juden, psychisch Kranke, Muslime, Flüchtlinge, Homosexuelle, Bisexuelle oder Transidente (Heitmeyer 2005, S. 5, vgl. Emcke 2016, S. 65). Die Codes der Exklusion und die Folgen dieser Ausgrenzung unterscheiden sich voneinander und in ihren spezifischen Auswirkungen, die Techniken der Inklusion und Exklusion jedoch sind dieselben (vgl. Emcke 2016, S. 111): „Noch immer gibt es gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, noch immer werden Kollektiven ahistorische, unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben. [...] Es wird dieselbe Struktur der Ausgrenzung mit denselben Bildern und Motiven bedient – nur mit anderen Worten“ (Emcke 2016, S. 69).

Zugleich greifen auch diskriminierte Gruppen auf der Suche nach Möglichkeiten der Emanzipation auf die immer gleichen Mechanismen des diskursiven und performativen Kampfes um politische, juristische und gesellschaftliche Anerkennung zurück (vgl. Lucke/Hunfeld 2017, S. 155). Im Rahmen der Staatsbürgerschaftsdebatte wirft Butler die Frage nach der Möglichkeit von Allianzen zwischen verschiedenen, dem Prekariat zuzurechnenden gesellschaftlichen Minoritäten auf und weist explizit darauf hin, dass die Forderung nach dem Recht, in der Öffentlichkeit unbehelligt aufzutreten, einen koalitionären Rahmen bilden kann, der die geschlechtlichen und sexuellen Minoritäten mit prekarisierten Gruppen im Allgemeinen verbindet (vgl. Butler 2016, S. 40f.): „Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungssphäre ohne eine Kritik an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen – die Gefährdeten – verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu überwinden versuchen“ (Butler 2016, S. 70).

Wenn die Kriterien für soziale Anerkennung, Menschen- oder Bürgerrechte an zufällige Differenzen wie Geschlecht, sexuelle Präferenz, Glaube oder die Farbe der Haut gebunden werden, dann kann von Gleichheit und Freiheit keine Rede sein. Diese willkürlichen Codes, die hinter den gängigen Diskriminierungs- und Exklusionspraktiken stehen, mögen durch ihren historischen Hintergrund und ihre lange Tradierung naturalisiert wirken. Deshalb sind sie in ihren Auswirkungen schwer nachvollziehbar für diejenigen, die von den durch sie produzierten Ausschlüssen nicht betroffen sind, denn: „Wer der Norm entspricht, kann dem Irrtum erliegen, dass es sie nicht gibt. Wer der Mehrheit ähnelt, kann dem Irrtum erliegen, dass die Ebenbildlichkeit mit der die Norm setzenden Mehrheit keine Rolle spielt. Wer der Norm entspricht, dem oder der fällt oft nicht auf, wie sie andere ausgrenzt oder degradiert. Wer der Norm entspricht, kann sich oft ihre Wirkung nicht vorstellen, weil die eigene Akzeptanz als selbstverständlich angenommen wird. Aber Menschenrechte gelten für alle. Nicht nur für diejenigen, die einem ähnlich sind. Und so gilt es achtsam zu sein, welche Sorten der Abweichung, welche Formen der Andersartigkeit als relevant für Teilhabe oder als relevant für Respekt und Anerkennung ausgegeben werden. Und so gilt es zuzuhören, wenn diejenigen, die abweichen, von der Norm erzählen, wie es sich im Alltag anfühlt, ausgegrenzt und missachtet zu werden – und sich in diese Erfahrung erst einmal hineinzuversetzen, auch wenn sie einem selbst nie widerfahren sein mag“ (Emcke 2016, S. 97f.).

„Ich Tarzan, du Jane“

„Kultur ist Kontext“ (S. 13), und dieser Kontext hat in Folge des Ereignisses ‚Köln‘ eine Rahmenverschiebung erfahren, indem eine „moralisch aufgeladene Wir-Sie-Unterscheidung“ durch die Aktivierung eines rassistisch grundierten Alltagsbewusstseins wiederbelebt wurde (S. 36). Sich über andere zu erheben erweist sich als fundamental menschliche ingroup-outgroup-Differenzierung: ‚Wir‘ müssen besser sein als die ‚Anderen‘. Hierbei dient die „Skandalisierung von Sexismus“ der „diskursiven Plausibilisierung“ des „anti-muslimischen Rassismus“ (S. 40). Der wirkungsreiche und altbekannte koloniale Zivilisierungsdiskurs und somit der Status des ‚Anderen‘ als unzivilisiert, untermauert von der These, diese ‚Anderen‘ seien nicht „in der Lage, ihr sexuelles Begehren zu kontrollieren“, (S. 41) kehrt mit Vehemenz auf den Schauplatz der politischen und gesellschaftlichen Debatte zurück.

Sexismus wird innerhalb dieser Debatte im Rekurs auf altbekannte Dämonisierungsnarrative skandalisiert und der Feminismus hierzu in toxischer Weise mit Rassismen vernäht und für dessen Legitimisierung genutzt (vgl. S. 40, 63, 78). Das Feld des Sexuellen wird, im foucaultschen Sinne, einmal mehr zum Ort der Produktion von Wahrheit in Form eines Ausschließungssystems, das die Transformation von Verhaltensweisen zu Wissensobjekten bestimmt und in dem junge muslimische Männer an die Stelle der Figuration des nackten Wilden treten, vor dem das Abendland als Inkarnation von Zivilisation und Gleichberechtigung – und damit insbesondere dessen (selbstverständlich heterosexuell gedachte) Frauen – geschützt werden muss (vgl. Foucault 1974, S. 11).

Der (weibliche) Körper wird wieder einmal zum kulturellen Kampfplatz stilisiert, wie es Hark und Villa leider nur auszugsweise anhand von zwei der medialen Berichterstattung nach ‚Köln‘ entnommenen Bildbeispielen belegen. Mit ihrer Interpretation zeigen sie dabei, wie der Diskurs auch um Bildsprache offen und pluralistisch geführt werden kann (vgl. S. 61, 72), denn: „Niemand hat das letzte Wort in Sachen Bedeutung“ (S. 59).

Fazit

Die größte, den Autorinnen durchaus bewusste Lücke des Werkes, besteht in der insgesamt mangelnden Einbindung qualitativ empirischer Methoden (vgl. S. 11). Wünschenswert wäre es gewesen, wenn sich die Autorinnen die Mühe gemacht hätten, nach Betroffenen und Beteiligten zu suchen, Gespräche mit real in der Situation Anwesenden, seien sie Opfer, Täter, Beobachter*innen oder vor Ort gewesene Polizeibeamt*innen, zu führen und auszuwerten. Es kommen jedoch weder diejenigen zu Wort, die in der Kölner „Silvesternacht sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren“ (S. 11), noch diejenigen, die diese Gewalt ausgeübt, sie beobachtet oder zu verhindern versucht haben.

Insgesamt präsentiert sich eine – sowohl für Lai*innen und Einsteiger*innen als auch für Studierende und in den Bereichen Soziologie, Philosophie, Soziale Arbeit und Geschlechterstudien akademisch Tätige – durchaus lesenswerte und immer noch hochaktuelle Analyse – ein Plädoyer für Pluralität jenseits der Ontologisierung von Differenz, das daran erinnert, „dass Rassismus und Sexismus nicht von den Identitäten oder Eigenschaften einer Gruppe oder eines Individuums her gedacht werden können, sondern nur von den Verhältnissen, in denen diese produziert und relevant gemacht werden“ (S. 120). Während der Aufbau des Textes zunächst in altbewährt-akademischer Weise daherzukommen scheint – neben einem Vorwort erwartet die Leser*innen ein Nachwort und vier thematisch aufeinander aufbauende Kapitel –, überrascht das Werk in Kapitel fünf mit einem differenzierten Dialog der beiden Autorinnen, der deutlich die Binnendifferenzierung ihrer Standpunkte zum Ausdruck bringt.

Trotz der empirisch nicht eigens fundierten und wenig neue theoretische Erkenntnisse liefernden Auseinandersetzung mit Ausschlussmechanismen am Beispiel ‚Köln‘ kann die Lektüre somit, insbesondere aufgrund des abschließenden Dialoges zwischen den beiden Autorinnen, einen Zugewinn liefern, da hier den Leser*innen eindrücklich vor Augen geführt wird, wie Streit geführt werden kann und dass im Dialog die Chance besteht, der generellen Abwertung ‚des Anderen‘ mit Neugierde und Aufgeschlossenheit zu begegnen. Das Ziel der Autorinnen, einen im anti-essentialistischen Sinne konstruktiven Umgang mit Differenz argumentativ vorzuleben und damit einen Beitrag zur Entkolonisierung des Feminismus zu leisten, wird insbesondere in Kapitel fünf erfüllt (vgl. S. 59, 92).

Literatur

Badiou, Alain. (2003) [1993]. Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen. Wien, Berlin: Turia + Kant.

Balibar, Étienne. (2012) [2010]. Gleichfreiheit. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith. (2016) [2015]. Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Emcke, Carolin. (2016). Gegen den Hass. Frankfurt am Main: Fischer.

Foucault, Michel. (1974) [1972]. Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. 2. Dezember 1970. München: Carl Hanser.

Heitmeyer, Wilhelm. (2005). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und empirische Ergebnisse aus 2002, 2003 und 2004. (S. 5–20). Berliner Forum Gewaltprävention, 6 (20).

Lucke, Doris/Hunfeld, Jan-Malte. (2017). Rezension. Soziologie der Menschenrechte. (S. 153–156). Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 69 (1).

Žižek, Slavoj. (2014). Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: Fischer.

Dr. Bärbel Schomers

IUBH Internationale Hochschule, Standort Düsseldorf

Professur für Soziale Arbeit

E-Mail: b.schomers@gmx.de

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