Gero Bauer, Regina Ammicht Quinn, Ingrid Hotz-Davies (Hg.):
Die Naturalisierung des Geschlechts.
Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit.
Bielefeld: transcript Verlag 2018.
226 Seiten, ISBN 978-3-8376-4110-3, € 24,99
Abstract: Die Tübinger Gender- und Diversitätsforscher*innen versammeln in ihrem Band Beiträge aus neun Disziplinen, in denen die Naturalisierung theoretisch gefasst und deren Wirkungsweisen im Alltag, in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, im Sport, in der Geschichte, im Christentum sowie in der Gleichstellungsarbeit aufgezeigt wird. Die Beharrlichkeit der geschlechtlichen Naturalisierung wird durch Herausforderungen, die sich in Bezug auf nicht-heterosexuelles Begehren und intergeschlechtliche Körper ergeben, diskutiert. Die Beiträge lassen zahlreiche interessante Facetten von Naturalisierung deutlich werden, zugleich finden sich jedoch in einigen Aufsätzen Tendenzen zur Naturalisierung.
Mit dem Aufkommen der zweiten Frauenbewegung und dem Diktum von Simon de Beauvoir, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht wird, hat sich eine feministische Perspektive artikuliert, die die Frage, wie Gesellschaft und Kultur dazu beitragen, den Menschen als das eine oder andere Geschlecht hervorzubringen, als Ausgangspunkt der Kritik nimmt. Diese Frage erwies und erweist sich nach wie vor gerade deshalb als unglaublich produktiv, weil nicht mehr von einem einfachen Gegeben-Sein von Geschlecht ausgegangen werden kann. Aus dieser Perspektive wird erklärungsbedürftig, warum es überhaupt die Vorstellung gibt, dass es eine Natur gibt, die hinter diesen binär verstandenen Geschlechterkategorien steht und die Grundlage für die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter bilden soll. Diese Vorstellung wird als Naturalisierung diskutiert, wobei der Begriff darauf aufmerksam macht, dass es gesellschaftliche und kulturelle Prozesse sind, die eine Natur postulieren, die der Gesellschaft und Kultur vorhergehend und damit sich außerhalb dieser Sphären befindend sei.
Im vorliegenden Sammelband wird diese Grundfrage der Gender Studies aufgegriffen und gegenwärtigen Formen von Naturalisierungen von Geschlecht nachgegangen. Die Aktualität dieser Frage sehen die Herausgeber*innen im gegenwärtigen politischen, sozialen und ökonomischen Diskurs gegeben, in dem die konservativ-binäre Vorstellung von Geschlecht aufgerufen wird (vgl. S. 7). Prägnant haben Sabine Hark und Paula-Irene Villa mit ihrem Sammelband Anti-Genderismus (2015) die kontroverse Diskussion und auch Diffamierung der Geschlechterforschung analysiert und eingeordnet. Die Herausgeber*innen verfolgen das Anliegen, einen Schritt hinter diese Diskussion zurückzutreten und zu fragen, wie die Naturalisierung von Geschlecht zustande kommt, unter welchen Bedingungen Geschlecht zu Natur wird (oder nicht), wie dieses Konstrukt gegen gegenläufige Evidenzen der Empirie abgesichert wird und unter welchen Bedingungen Geschlecht nicht einfach als selbstverständlich erscheint (vgl. S. 10). Im Gegensatz zum Sammelband von Hark und Villa wird hier keine aktuelle Standortbestimmung vorgenommen, und es wird auch eine weitere Eingrenzung und Zuspitzung der Fragestellung versäumt. Damit zusammenhängend ist es bedauerlich, dass die Herausgeber*innen auf weitergehende theoretische oder methodische Reflexionen zum zentralen Begriff der Naturalisierung verzichteten, denn damit hätte ein übergeordneter Rahmen angeboten werden können, auf den die diversen inhaltlichen Ausdifferenzierungen hätten bezogen werden können.
Die einzelnen Autor*innen beleuchten unterschiedliche Aspekte der Naturalisierung. Direkt an die Fragestellung der Einleitung schließt der Beitrag von Tobias Matzner an, der das geschlechterspezifische Alltagswissen zum Thema hat. Der Autor argumentiert, dass dieses Alltagswissen einer Gewissheit entspricht, die nicht durch mehr Wissen widerlegt werden kann. Er diskutiert die spezifischen Formen der Ausgrenzung, die mit einer solchen Gewissheit einhergeht, und sieht mit ihr eine epistemische Ungerechtigkeit verbunden. Mit der Demonstration der Spezifik dieser epistemischen Ungerechtigkeit, die deshalb nicht weiter auffällt, da sie als Normalität verdeckt wird, leistet Matzner einen innovativen Beitrag zur Debatte über die Naturalisierung.
Miriam Noël Haidle und Laura F. Mega zeigen in ihren Aufsätzen Formen von Naturalisierungen in ihren jeweiligen Disziplinen auf. Mega verfolgt zwei Stränge, da sie einerseits thematisiert, inwiefern die Disziplin der Kognitionswissenschaften zur Essentialisierung von Geschlecht beiträgt. Andererseits macht sie deutlich, welche Komplexitäten sich eröffnen, wenn man versucht, in einer empirischen kognitionswissenschaftlichen Studie Geschlecht kritisch reflektiert einzubringen. Haidle weist auf die Vereinnahmung der Ur- und Frühgeschichte zur Legitimierung traditioneller Geschlechtervorstellungen hin. Zugleich problematisiert sie, dass gerade das traditionelle, alltägliche Verständnis in diese Wissenschaft einfließt. Dennoch ist dieser Beitrag weniger überzeugend, da die Autorin an der Vorstellung eines binären körperlichen Geschlechts festhält. Zudem zieht sie Analogien zur Primatologie und Ethnographie und argumentiert, dass ihre Disziplin auf solche Analogien angewiesen bleibt (vgl. S. 26) – eine These, die es aus einer postkolonialen Perspektive dringend kritisch zu reflektieren gälte.
Auch die religionswissenschaftlichen Beiträge von Ruth Scoralick und Regina Ammicht Quinn fallen sehr unterschiedlich aus. Scoralick legt eine Interpretation der Genesis vor, die auf Widersprüche, Multiperspektivität, Vielstimmigkeiten und Ambivalenzen hinweist, und zeigt so die Kontexte und Zeitgebundenheit von Genesis-Interpretationen auf. Dieser differenzierten Sichtweise steht der Aufsatz von Ammicht Quinn gegenüber, die mit einem übergreifenden Begriff der „traditionell-religiösen Grammatik der Geschlechterverhältnisse“ (S. 81) arbeitet, den sie zeitlich nicht weiter einordnet. Obwohl sie ihren Fokus auf Transgressionen dieser Ordnung legt, vermag sie nicht aufzuzeigen, inwiefern solche Überschreitungen die Grammatik der Geschlechterverhältnisse zu verändern vermögen. Darüber hinaus berücksichtigt sie nicht die Diskussion um den Umbruch in der Geschlechterordnung zu Beginn des 18. Jahrhunderts, den Ingrid Hotz-Davies in ihrem Beitrag aufgreift.
Homosexualität steht im Zentrum der Beiträge von Gero Bauer und Halyna Leontiy. Bauer bestimmt drei Perspektiven auf Homosexualität (strukturelle, soziologisch/ethnologische und die internalisierte Homophobie) und formuliert Desiderate für die jeweiligen Perspektiven. Zu bedauern ist, dass Homosexualität in diesem Beitrag implizit zur Bezeichnung schwuler Jugendlicher und Männer dient. Leontiy hingegen nähert sich dem Untersuchungsgegenstand auf eine eher ungeschickte Art. Sie untersucht spielerische kommunikative Angriffe mit Referenz auf Homosexualität in einer Gruppe männlicher Jugendlicher, wobei sie die religiösen Hintergründe (Islam) sowie die „Herkunft aus traditionellen Gesellschaften“ (S. 156) als spezifische Gemeinsamkeit der Jugendlichen anführt. In der theoretischen Einbettung dieser Forschung wird deutlich, dass sich ein solcher Fokus nur ungenügend gegen Naturalisierungstendenzen in der Form einer okzidentalistischen Selbstversicherung (vgl. Dietze 2009) abgrenzen kann – so dass sich die Frage stellt, inwiefern diese Forschungsperspektive gar zur okzidentalistischen Selbstversicherung beiträgt.
Zu einer weitergehenden kritischen Reflexion regt der Beitrag von Angelika von Wahl an, die ihr Augenmerk auf intergeschlechtliche Aktivist*innen, die das Anliegen verfolgen, chirurgische Eingriffe zur Normalisierung der Genitalia zu verhindern, und auf deren Strategien für die politische Einflussnahme richtet. Theoretisch interessant ist ihre Darlegung, dass die konstruktivistische Grundannahme, auf deren Grundlage der Begriff Gender für den Feminismus so fruchtbar wurde, aus einer intergeschlechtlichen Perspektive (teilweise) als ‚Wegkonstruktion‘ der direkten Leibeserfahrung erscheint. Leider werden diese Überlegungen und die möglichen Konsequenzen für eine Kritik an der Naturalisierung nicht weiter verfolgt. Ebenfalls erfreulich erkenntnisreich ist der Beitrag von Marion Müller, die den Sport als geschlechtsnaturalisierende Instanz untersucht. Mit einem kritischen Blick auf diese wichtige Arena der Geschlechterkonstruktion vermag sie aufzuzeigen, dass gerade der Wunsch nach klaren biologischen Klassifizierungen dazu führt, dass jegliche Einteilung der Menschen aufgrund körperlicher Gegebenheiten scheitert, womit die soziale Dimension von Geschlecht wie auch ethnischer Herkunft umso deutlicher hervortritt.
Maria Bitzan, Gerrit Kaschuba und Barbara Stauber stellen fest, dass Gleichstellungsarbeit auf kategorialen Einteilungen beruht, und überlegen, wie die Kategorisierung in Frage gestellt werden kann, ohne dass jedoch strukturelle Bedingungen unsichtbar gemacht werden. So diskutieren die Autorinnen mögliche Konsequenzen einer Vermeidung von Kategorisierungen, wobei sie diese Vermeidung mit einem „spätmodernen Diktum der Individualisierung“ (S. 205) überblenden. Sie unterstellen der Postmoderne, die Geschlechterfrage für überwunden zu halten (vgl. S. 204 f.). An dieser Stelle ist die Argumentation nicht vollständig nachvollziehbar. Es ist schade, dass es dieser Abgrenzungsfolie ‚Postmoderne‘ bedarf, wenn es darum geht, im Anschluss daran eine kritische, intersektionale Herangehensweise stark zu machen, die eine Übertragung theoretischer Einsichten in das Feld der empirischen Sozialforschung leisten soll.
Dem Sammelband hätte insgesamt eine Zuspitzung der Fragestellung gut getan. So hätte beispielsweise das Augenmerk vermehrt auf die in der Einleitung nur beiläufig aufgeworfenen Frage gelenkt werden können, „wie diese Automatismen [der Naturalisierung, Anm. KH] hinterfragt werden können“ (S. 9). Denn wie einzelne Beiträge erkennen lassen, kann die Erörterung von Naturalisierungen durchaus damit einhergehen, eine Binarität der Geschlechter auf der körperlichen Ebene (Haidle), eine überzeitliche Geschlechtergrammatik (Ammicht Quinn) oder gar eine Korrelation zwischen Migrationshintergrund mit Homophobie (Leontiy) anzunehmen oder implizit vorauszusetzen. Zur Frage, wie sich die Persistenz von Naturalisierungen aufzeigen, problematisieren und kritisieren lässt, ohne selbst eine Form von Naturalisierung zu betreiben, liefern jedoch die Beiträge von Mega, Scoralick und Müller durchaus interessante Ansätze.
Angesichts der Tatsache, dass sich der Diskurs der Naturalisierung von Geschlecht bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als dominante Logik durchsetzen konnte, wäre es wünschenswert gewesen, die Herausgeber*innen hätten die gegenwärtigen Auseinandersetzungen spezifischer eingeordnet und damit eine kritische Gegenwartsbestimmung versucht. So bleibt jedoch die Frage offen, ob sich in diesem Zeitraum neue Felder der Naturalisierung eröffnet haben oder sich Verschiebungen in den (Formen der) Naturalisierungen verzeichnen lassen. Auch bleibt im Anschluss an die Lektüre des Bandes unklar, inwiefern die nun bereits einige Zeit andauernde Infragestellung der zweigeschlechtlichen Norm nicht nur zur Anfechtung, sondern auch (ungewollt) zur Aufrechterhaltung der Naturalisierung beiträgt.
Dietze, Gabriele. (2009). Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung. In Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.). Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. (S. 23–55). Bielefeld: transcript.
Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.). (2015). Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript.
Dr. des. Karin Hostettler
Universität Basel
Zentrum Gender Studies
Homepage: https://genderstudies.philhist.unibas.ch/de/personen/karin-hostettler/
E-Mail: karin.hostettler@unibas.ch
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