Was war Geschlecht? Debatten um Trans(sexualität) in der Bundesrepublik

Rezension von Anson Koch-Rein

Adrian de Silva:

Negotiating the Borders of the Gender Regime.

Developments and Debates on Trans(sexuality) in the Federal Republic of Germany.

Bielefeld: transcript Verlag 2018.

436 Seiten, ISBN 978-3-8376-4441-8, € 52,99

Abstract: Die Geschichte der Trans(sexualität) in der Bundesrepublik ist eine Geschichte sich wandelnder Verständnisse von Geschlecht und Geschlechterordnung. Adrian de Silva betrachtet in seiner Dissertation die Entwicklungen und rechtlichen Auswirkungen dieser Verständnisse in Sexualwissenschaft, Rechtsprechung, Gesetzgebung und der Transgender-Bewegung. Er analysiert die Entstehungs- und Reformprozesse des Transsexuellengesetzes (Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen) und seine folgenreiche Verquickung von Recht, Medizin und Geschlechterpolitik. Historische und aktuelle Debatten um die „Borders of the Gender Regime“ in Deutschland lassen sich auf der Basis von de Silvas Buch neu verstehen und einordnen.

DOI: https://doi.org/10.14766/1259

Die rechtspolitische Geschichte von Transgender und – wie Adrian de Silva es in Anlehnung an den historisch wechselvollen Sprachgebrauch seiner Quellen nennt – „Trans(sexualität)“ in der Bundesrepublik Deutschland war bisher weitgehend ungeschrieben. Existierende Arbeiten folgten anderen, disziplinär geprägten Fragestellungen: Transgender als Kategorie und das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) wurden rechtswissenschaftlich analysiert, etwa im Hinblick auf Antidiskriminierungsrecht und rechtliche Auslegungen von Geschlecht (z.B. Adamietz 2011; Cottier/Büchler 2004) oder auf Familienrecht (Theile 2013). Sozialwissenschaftliche Studien zur Konstruktion von Transsexualität fokussierten mikrosoziologisch auf den Transitionsprozess (Hirschauer 1992) oder auf eine historische Analyse des (internationalen) medizinischen Diskurses seit Ende des 19. Jahrhunderts (Weiß 2009). Ein umfassender Überblick über die spezifische Entwicklung des TSG, ihre Akteure und die politischen Prozesse zwischen und innerhalb der beteiligten Wissensfelder fehlte bislang.

In diese Forschungslücke tritt Adrian de Silvas interdisziplinäre, politikwissenschaftlich basierte Doktorarbeit in den Gender Studies, die die Konstruktionen von Trans(sexualität) im Kontext der legislativen Prozesse zum TSG und der Reformdebatte von der Mitte der 1960er Jahre bis 2014 zum Thema hat. Der Fokus liegt dabei auf der Frage danach, wie Sexualwissenschaft, Recht, die politische Transgender-Bewegung und die Bundespolitik bei der Entwicklung des Transsexuellengesetzes interagiert haben und wie sie jeweils Trans(sexualität) und Geschlechterordnung definiert und verhandelt haben. Das TSG erweist sich in dieser detailreichen Darstellung als das Resultat eines konfliktreichen politischen Prozesses, der mit Inkrafttreten des Gesetzes erst so richtig an Schwung gewann. Wie de Silva zeigt, wird Trans(sexualität) im Debattenverlauf innerhalb dieser diskursiven Felder oft widersprüchlich definiert – als Störung pathologisiert oder als eine von vielen Existenzweisen betrachtet, als abgegrenzte Minderheit oder als Beispiel der Schaffung einer Minderheit (durch Diagnose und Spezialgesetzgebung) dargestellt, als Kritik an Zweigeschlechtlichkeit oder als deren reaktionäre Wiedereinschreibung gesehen. In seiner Analyse dieser Positionen stellt der Autor sowohl das Zusammenspiel als auch die spezifischen Entwicklungen innerhalb der einzelnen Wissensfelder vor und arbeitet auf allen Ebenen widerstreitende, differenzierte Positionen heraus. Durch diese Vorgehensweise spricht die Arbeit neben Interessierten an interdisziplinärer Aufarbeitung des Themas auch Leser_innen mit spezifisch disziplinärem Interesse aus Politikwissenschaft, Sexualwissenschaft und Rechtssoziologie an.

Geschlechtliche Vielfalt im sexologischen, rechtlichen und politischen Diskurs

In der Einleitung erläutert der Autor die umfangreichen Quellen – sexologische und juristische Literatur, Urteile, Kommentare, Programme, Satzungen, Gesetzesentwürfe und Forderungen von NGOs, Eingaben, Sitzungsprotokolle und andere öffentliche Dokumente aus Bundestag und Bundesrat – und bedient sich feministischer Heteronormativitäts-, Gender- und Staatstheorie für seine Analyse der politischen Dynamiken um Trans(sexualität): „For the purpose of this study, the state will be considered as a historically-specific and dynamic central condensation of social relations with fuzzy boundaries, which contributes to shaping social relations and organizes the actors before, during and after the proceedings” (S. 51).

Die Studie ist in drei Perioden unterteilt. In der Vor- und Entstehungsgeschichte des TSG (Kapitel 2) werden die Kompromisse um Mindestalter- und Ehelosigkeitsbestimmungen im Gesetzgebungsprozess und die Verquickung von Medizin und Recht deutlich. Durch diese wurde der Stand sexualwissenschaftlicher Debatten der späten 1970er Jahre in den Gesetzestext gemeißelt und Gutachten zur entscheidenden Hürde für TSG-Verfahren und Fragen der Kostenübernahme in der Krankenversicherung gemacht. Die Reformentwicklungen bis 2010 (Kapitel 3) reichen von der Entstehung der sogenannten Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen zum Beginn eines sexologischen Verständnisses von Geschlechtervielfalt und der Kritik an Geschlechternormen. Sie umfassen die politische Formation einer überregionalen, diversen Transgender-Bewegung, sozialrechtliche Urteile sowie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bis 2011, die sukzessive weite Teile des TSG für verfassungswidrig befanden (u.a. Mindestalter, Ehelosigkeit, Staatsangehörigkeit). Die neueren Debatten bis 2014 (Kapitel 4) erstrecken sich von der Verfassungswidrigkeit körperlicher Eingriffe (Sterilisation, ‚Geschlechtsangleichung‘) für die Personenstandsänderung bis zu den nachfolgenden Reformbestrebungen.

Durch diese Perioden hindurch analysiert de Silva zum einen die Entwicklung in der Sexualwissenschaft: von Pathologisierung und normativen Vorstellungen von Geschlecht zu Entpathologisierung und heterogenen Definitionen von ‚Trans‘; zum zweiten zeigt er auf der Ebene von trans-Akteur_innen die Verschiebung von vereinzelten lokalen Gruppen hin zu überregionalen Netzwerken und koordinierter Lobbyarbeit, auf Regierungsebene schließlich den Wechsel von zurückhaltender, aber aktiver Politik hin zu zunehmender Untätigkeit, durch die dem Bundesverfassungsgericht die Rolle der treibenden Kraft in Sachen Reform der rechtlichen Lage und Anpassung an sich ändernde Geschlechterverhältnisse überlassen wurde.

Die diskursanalytische Untersuchung wird von drei Unterfragen geleitet: Wie wird Transgeschlechtlichkeit in Medizin, Recht und Politik in Relation zu konventionell vergeschlechtlichten Subjekten in verschiedenen Zeiträumen konstruiert? Welche Dynamiken entstanden dabei zwischen Medizin, Recht und Politik? Welche Verschiebungen fanden innerhalb der hegemonialen zweigeschlechtlichen Ordnung statt? Zur Beantwortung dieser Fragen beleuchtet der Autor in detaillierter Quellenanalyse jeweils einzeln, wie Transgeschlechtlichkeit und Geschlechternormen innerhalb von Medizin, Recht und Politik in jeder Periode verhandelt werden, und hebt dann die Dynamiken hervor, die diese verknüpfen (etwa in der Rolle von sexualwissenschaftlichen Diskursverschiebungen nicht nur für erstinstanzliche TSG-Entscheidungen auf der Ebene individueller Gutachten, sondern auch für die Auffassung von Geschlecht seitens des Bundesverfassungsgerichts). Die Frage nach Verschiebungen in der hegemonialen zweigeschlechtlichen Ordnung wird ebenso differenziert beantwortet. Insgesamt ergibt sich ein von verschiedenen Akteur_innen geprägtes Bild sozialer Veränderung, das zwar die Definition von Trans(sexualität), nicht aber das System der Zweigeschlechtlichkeit insgesamt neu geordnet hat: „Overall, these developments have contributed to an ongoing process of social change with regard to trans, without however displacing the heteronormative gender binary which remained in place, albeit in varying historically-specific forms” (S. 52).

Fazit

Das vorliegende Buch leistet einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Debatten um Trans(sexualität) in der Bundesrepublik. Was Geschlecht hier jeweils für welche Beteiligten im politischen Prozess war und wie die Grenzziehungen der binären Geschlechterordnung neu ausgehandelt wurden, ist für die Geschlechterforschung und Queer Theory gleichermaßen interessant wie für zukünftige rechtliche Reformbestrebungen. Als englischsprachige Veröffentlichung ist das Buch einer breiteren internationalen Leser_innenschaft zugänglich und formuliert einen wichtigen deutschen Beitrag zu Transgender Studies im Sinne Susan Strykers, die auch in transnationalen Analysen die Notwendigkeit der Beachtung regionaler, nationaler und kultureller Kontexte in der jeweils spezifischen Konstruktion von Trans(geschlechtlichkeit) anmahnt (Stryker 2012, S. 291). Der stilistische Preis einer englischsprachigen Arbeit über ein bundesrepublikanisches Thema ist die Übertragung sperriger Bezeichnungen aus dem Amtsdeutschen in oftmals dementsprechend holprige Übersetzungen. Die möglichen Bezüge zu internationalen Debatten werden in der umfangreichen Studie leider nicht immer gezogen: So taucht z.B. Maria Sabine Augstein zwar als Autorin einiger Quellen auf, aber de Silva geht nicht explizit auf ihre anwaltliche Beteiligung an den meisten erfolgreichen Verfassungsbeschwerden zum TSG ein, die als ein herausragendes deutsches Beispiel von strategischer Prozessführung als rechtspolitischer Strategie diskutiert werden könnte, was gerade angesichts der ausgeprägten Rolle von impact litigation im US-amerikanischen Raum – u.a. bei Leachman (2013) und Katri (2017) – ein sehr anschlussfähiger Aspekt gewesen wäre.

Die Entwicklung der 2017 vom Bundesverfassungsgericht eingeforderten Neuregelung der Geschlechtszuweisung für Menschen, „die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen“ (BVerfGE 147, 1), und das Festhalten des Gerichts an der Gutachtenpflicht für TSG-Verfahren (1 BvR 747/17) im selben Jahr zeigen, dass de Silvas Buch hochaktuell ist und Denkanstöße weit über den Untersuchungszeitraum hinaus gibt. Mit der gesetzlichen Verankerung einer medizinischen Beweispflicht der Intersexualität durch ärztliches Attest für den neuen Geschlechtseintrag ‚divers‘ hat die Gesetzgebung nämlich einmal mehr eine rechtliche Regelung von administrativem Geschlecht geschaffen, die Recht und Medizin verquickt – und damit sehr an die Debatten um das TSG angeknüpft, ohne dass dabei aus ihnen die wichtigen Lehren gezogen worden wären, die de Silvas fundierte Analyse offensichtlich werden lässt.

Literatur

Adamietz, Laura. (2011). Geschlecht als Erwartung: Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität. Baden-Baden: Nomos.

Cottier, Michelle/Büchler, Andrea. (2004). Transgender-Identitäten und die rechtliche Kategorie Geschlecht. Potential der Gender Studies in der Rechtswissenschaft. In Therese Frey Steffen/Caroline Rosenthal/Anke Väth (Hg.). Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. (S. 223–231). Würzburg: Königshausen & Neumann.

Hirschauer, Stefan. (1992). Die Soziale Konstruktion der Transsexualität: Über die Medizin und den Geschlechtswechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Katri, Ido. (2017). Transgender Intrasectionality: Rethinking Anti-Discrimination Law and Litigation. (S. 51–79). University of Pennsylvania Journal of Law and Social Change, 20 (1).

Leachman, Gwendolyn M. (2013). From Protest to Perry: How Litigation Shaped the LGBT Movement’s Agenda. (S. 1667–1752). University of California Davis Law Review, 47.

Stryker, Susan (2012). De/Colonizing Transgender Studies of China. In Howard Chiang (Hg.). Transgender China. (S. 287–292). New York: Palgrave Macmillan.

Theile, Janett. (2013). Transsexualität im Familienrecht: eine vergleichende Untersuchung der rechtlichen Anerkennung des Geschlechtswechsels und ihrer Rechtsfolgen auf die Ehe und Lebenspartnerschaft im deutschen, englischen und französischen Recht. Regensburg: Roderer.

Weiß, Volker. (2009). „... mit ärztlicher Hilfe zum richtigen Geschlecht?“: Zur Kritik der medizinischen Konstruktion der Transsexualität. Hamburg: Männerschwarm.

Anson Koch-Rein

Grinnell College, Iowa

Visiting Assistant Professor of Gender, Women’s, and Sexuality Studies

Homepage: http://ansonkoch-rein.com

E-Mail: anson.kochrein@gmail.com

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