Lothar Böhnisch:
Der modularisierte Mann.
Eine Sozialtheorie der Männlichkeit.
Bielefeld: transcript Verlag 2018.
256 Seiten, ISBN 978-3-8394-4075-9, € 21,99 (E-Book)
Abstract: Nach zahlreichen Auflagen seiner am Lebenslauf orientierten Publikationen zu Männlichkeit und Sozialisation legt Lothar Böhnisch nun eine Sozialtheorie der Männlichkeit vor. Ausgangspunkt ist die Dialektik zwischen Kapitalismus und Sozialem. Im Weiteren nutzt der Autor eine Vielzahl theoretischer Zugänge. Durch den gesamten Band ziehen sich sieben Begrifflichkeiten, die er „Strukturierungen von Männlichkeit“ nennt: Vor allem Hilflosigkeit und Bedürftigkeit sowie Externalisierung und Gewalt bilden Kristallisationspunkte männlichen Bewältigungshandelns. Eine Perspektive sieht Böhnisch in der Entwicklung einer Kultur der Anerkennung und (Selbst-)Sorge. Die vom Neokapitalismus angebotenen und konsumierbaren Männlichkeitsmodule bieten dagegen keine Lösung.
Laut Duden ist ein „Modul“ ein Begriff, der besonders in der Elektrotechnik vorkommt und definiert ist als „austauschbares, komplexes Element innerhalb eines Gesamtsystems, eines Gerätes o. Ä., das eine geschlossene [Funktions]einheit bildet“.[2] Der modularisierte Mann wäre demnach weniger ein menschliches Wesen als vielmehr eine – mehr schlecht als recht? – funktionierende Maschine. Nun ist das Mensch- bzw. Mann-Maschine-Gleichnis so alt wie die Aufklärung, und daher ist zu fragen, in welcher Absicht der Soziologe Böhnisch diese Metapher nutzt. Darüber klärt er gleich in seiner knappen, teils ironisch überspitzten Einleitung auf: „Vom Bild des ‚Maschinenmannes‘ aus der vorletzten Jahrhundertwende bis hin zu dem des abstract worker zu Beginn dieses Jahrhunderts zieht sich das gleiche Klage- und Kritikmotiv industriell zugerichteter Männlichkeit durch die Verständigungsschriften (männer-)kritischer Wissenschaftler und Publizisten.“ (S. 9, Kursivierung i. O., auch in der Folge) In der medial vielfach thematisierten Männer- und Jungenkrise sieht Böhnisch folglich eine „Demontage des Mannes“ (ebd.). Trotzdem sei R. W. Connells „Theorie der ‚hegemonialen Männlichkeit‘“ (S. 10) – von Böhnisch distanzierend in einfache Anführungszeichen gesetzt – in der universitären Geschlechterforschung ‚eigenartigerweise‘ (ebd.) weiterhin vorherrschend. Im Gegensatz dazu sieht der Autor die Connellʼsche Theorie angesichts einer „paradoxe[n] Pluralität“ (S. 11), die dadurch gekennzeichnet sei, dass Männlichkeit gleichermaßen abgewehrt und aufgerufen werde, als nicht mehr ausreichend an. Er begründet dies u. a. damit, dass Männer einerseits vermehrt prekärer Arbeit unterworfen seien und ihnen andererseits emanzipierte Frauen als Profiteure des Neoliberalismus gegenüberstünden. Soweit seine als durchaus kampflustig beschreibbare Einführung in den Band.
Wie geht Böhnisch nun vor? Er gliedert sein Buch in vier Teile: Der erste Teil hat den Titel „Vorstudien“, der zweite Teil ist überschrieben mit „Das Theorieprogramm und die disziplinären und paradigmatischen Zugänge“, der dritte Teil mit „Strukturierungen von Männlichkeit“, der vierte und letzte Teil mit „Perspektiven“.
Im ersten Teil, den „Vorstudien“, erfolgt auf 20 Seiten in drei sich thematisch überlappenden Abschnitten ein Streifzug durch Geschlechter- und Arbeitsverhältnisse, der in vielen Teilen durch ältere und einige neuere Studien empirisch gedeckt ist, in manchen eher thesenhafte Züge trägt. Für die angestrebte Sozialtheorie greift Böhnisch zwei Aspekte heraus: den „Kapitalismus […], in dem nun auch Männer […] als den Verhältnissen Ausgelieferte sichtbar werden“, und „die Gleichzeitigkeit von Wandel und Resistenz maskuliner Sozial- und Verhaltensmuster“ (S. 32). Aus der Fortdauer als typisch geltender männlicher Handlungsweisen zieht er den Schluss, dass „evolutionspsychologische Argumente in eine Theorie der Männlichkeit einbezogen werden müssen“ und es „einen psychodynamischen Zugang“ braucht (ebd.).
Sozialanthropologisch bzw. evolutionspsychologisch rekurriert Böhnisch auf biologische Unterschiede und eine heterosexuelle Reproduktionsstruktur sowie die daraus resultierenden leibseelischen Differenzen – auf Seiten des Mannes werden Angst vor der Frau und Gebärneid angeführt (vgl. S. 45-49). Hieran schließt der Autor im Abschnitt zum psychodynamischen respektive tiefenpsychologischen Zugang an. In Anlehnung an den Psychoanalytiker Arno Gruen gelangt er zu der Aussage, dass Männer im Vergleich zu Frauen Hilflosigkeit nicht so gut bewältigen, und er schlussfolgert: „Diese kulturanthropologisch verwurzelte, gesellschaftlich mediatisierte Benachteiligung des Mannes führt ihn immer wieder in den Zwang zu gewaltförmigen Entäußerungen“ (S. 61) – eine generalisierende These, die an das feministische Diktum von „Alle Männer sind (potentielle) Vergewaltiger“ erinnert, das allerdings ohne Verständigung suchende Erklärungen auskam. Damit sind bereits drei von den insgesamt siebzehn paradigmatischen Zugängen skizziert, die den zweiten Teil des Buches, das Theorieprogramm, ausmachen.
Bekannt aus früheren Veröffentlichungen sind die sozialisations- und bewältigungstheoretischen Überlegungen wie auch die Ausführungen zu den gesundheits- und sexualitätsbezogenen Aspekten von Männlichkeit (vgl. Böhnisch 2013). Neu ist der narrationstheoretische Zugang (S. 96-103), der an die Arbeit von Toni Tholen über Männlichkeiten in der Literatur (Tholen 2015) anschließt. Das Potential dieses Zugangs sieht Böhnisch im „Reden über Möglichkeitsräume anderen Mann-Seins“ (S. 98 f.). Im hierauf folgenden medientheoretischen Abschnitt nimmt er jedoch eine entschieden skeptische Haltung ein, z. B. wenn er dem Internet eine „parasoziale Dynamik der Abstraktion“ (S. 101) attestiert, die zu einer „Abstumpfung in der Wirklichkeit“ (S. 102) führen könne. Auch diese Überlegungen finden sich in ähnlicher Form bereits in Böhnisch 2013.
In seiner Hinführung zum Theorieprogramm erklärt Böhnisch den sozialökonomischen Zugang im Anschluss an Eduard Heimann (1889 – 1967) zum Ausgangspunkt seiner Sozialtheorie der Männlichkeit. Kern ist hierbei die Dialektik von Kapitalismus als These, Sozialem als Antithese und Sozialpolitik als Synthese (vgl. S. 37). Ergänzend formuliert der Autor noch einmal explizit, dass er sich „nicht am Hegemonialkonzept“ orientiert, sondern „am Konstrukt der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung als Geschlechterordnung des ökonomischen Systems“ (S. 34). Dennoch lehnt er sich an die Connellʼsche Terminologie an, so z. B. in den Abschnitten über die „männliche Dividende“ (S. 39, S. 139) – aber er ordnet diese neu ein im „dialektischen Paradigma der Spannung zwischen männlicher Dominanz und männlicher Verfügbarkeit“ (S. 139).
Damit komme ich zu den Begriffen, die Böhnisch als „Strukturierungen von Männlichkeit“ zentral setzt und die das gesamte Buch durchziehen: Mit „Verfügbarkeit“ meint er vor allem die im entgrenzten (Neo-)Kapitalismus gegebene ökonomische Verfügbarkeit (z. B. S. 38), die Männer immer noch stärker als Frauen in geschlechtshierarchische Erwerbskontexte ein- und gleichzeitig auch unterordne. Der daran anschließende Gang der Argumentation lautet kurz gefasst so: Die oben genannte Spannung zwischen Verfügbarkeit und Überlegenheitsanspruch bewirke, dass Zustände wie „Hilflosigkeit“ (z. B. S. 121) und „Bedürftigkeit“ (z. B. S. 130) von Männern nur schwer thematisiert werden könnten und daher abgespalten werden. Es sei nahezu unausweichlich, dass hieraus „Externalisierung“ (z. B. S. 135) und vor allem „Gewalt“ (z. B. S. 105) als männliches Muster der „Bewältigung“ (z. B. S. 104) von Krisen resultierten und damit „die männliche Dividende immer wieder neu aktiviert“ werde (S. 39). Dieser Zusammenhang verhindere „eine reproduktionsorientierte Modernisierung von Männlichkeit“ (S. 127) und damit auch die Auflösung einer zweiten Spannung. Diese bestehe darin, dass Männer im Kontext von Feminismus und Gleichstellung zunehmend dazu aufgefordert sind, sich neben der Erwerbsarbeit auch in Sachen „Sorge“ (z. B. S. 83) und „Selbstsorge“ (S. 170 f.) stärker zu engagieren. Hinzu komme, dass Männer auch selbst eine „reproduktiv orientierte[] Sehnsucht“ (S. 39) entwickeln und sich neuerdings ebenfalls mit der „Vereinbarkeitsthematik“ (S. 82) konfrontiert sehen. An verschiedenen Stellen weist Böhnisch aber daraufhin, dass trotz gewisser Veränderungen die traditionellen Muster der Geschlechterungleichwertigkeit „unter der Decke der offiziellen Geschlechternivellierung“ (S. 27) weiter virulent sind (vgl. S. 142, S. 174).
Nach wie vor scheint also das Konzept einer dem Weiblichen überlegenen Männlichkeit stabil und attraktiv zu sein – trotz all der Leiden und Probleme, die damit für Männer verknüpft sind. Böhnisch fasst die männliche Dividende als Überlegenheitsgefühl, das auf einem Konglomerat aus Deklassierung von Sorgetätigkeiten, Zurückweisung eigener Hilfsbedürftigkeit und Bevorzugung homosozialer Kumpanei (vgl. S. 139) basiere. Bemerkenswert ist, dass er die männliche Dividende um einen Exkurs zur rassistischen Dividende ergänzt und damit einen neuen Begriff einführt. Die rassistische Dividende definiert er knapp als „von manchen deutschen Männern gezogenen Vorteil vor allem gegenüber MigrantInnen“ (S. 144 f.). Es entstehe ein „maskulinistischer Zirkel“ (S. 145), da zugewanderte Männer mit Widerstand und Dominanzgebaren reagierten, was wiederum bei ‚deutschen Männern‘ den Rassismus verstärke. Diese Argumentation erscheint mir allerdings mechanistisch, und die Verwendung des Begriffs Rassismus erfolgt lediglich schlagwortartig. In der Folge geht der Autor dann auf das Konzept der ‚Ehre‘ ein und resümiert, dass dieses in Verknüpfung mit Gewalt „ein Medium der Bewältigung“ (S. 150) ist. Insgesamt irritiert hier, wie schnell der Autor von der rassistischen Dividende ‚deutscher Männer‘ zu einem Diskurs über gewalttätige ‚türkische Jugendliche‘ übergeht.
Um den Dilemmata widersprüchlicher und u. a. in „Risikoverhalten“ (S. 115) mündender Anforderungen an Männlichkeit respektive Männer zu entgehen und um Blockierungen wie Gewalt und Externalisierung zu überwinden, gehen Böhnischs Überlegungen in Richtung einer „Kultur der Anerkennung von Hilflosigkeit“ (S. 217). Der Autor setzt seine Hoffnung auf „die neuen sozialen Bewegungen, die das Soziale über seine traditionelle Bindung an die Arbeit hinaus in Richtung der Sicherung der Existenzgrundlagen des Menschen neu aufbauen und erweitern wollen“ und in denen „die Geschlechterfrage keine strukturelle Bedeutung mehr hat“ (ebd.). Erst diese neue Kultur – und damit ein neues und weites Verständnis von Sorge – ermögliche es auch, dass Männer in ihrer Bedürftigkeit mehr „Hilfe und Unterstützung von außen“ (S. 171) bekommen. Wenn Männer „ihr Inneres“ (ebd.) thematisieren könnten, sei die zentrale Blockade, die in der Option zur Gewalttätigkeit als Bewältigungshandeln besteht, abbaubar: „Wo Sprache ist, ist keine Gewalt.“ (S. 117, S. 171)
Dieser optimistischen Vision stellt Böhnisch wieder die „Dialektik des neuen Kapitalismus“ (S. 204) gegenüber und bringt dafür Beispiele aus der Werbung. Hier zeige sich, „wie vielfältig heutige Geschlechteridentitäten sind“ (S. 205): Neben „dem sorgenden Familienmann“ tauchen „erfolgs- und arbeitsorientierte Businessmen“ und „ein durchtrainierter harter Sportlerkörper auf dem Bildschirm“ auf (ebd.). Die Kombination unterschiedlicher Module von Männlichkeit erlaube es, Identitätskonflikten und kritischen Anfragen an Reflexivität auszuweichen. Für die Männer in der „Randzone, in der die marginalisierten und sozial deklassierten Gruppen der Gesellschaft ausgegrenzt sind“ (S. 207), seien solch flexible Identitäten allerdings kaum noch verfügbar. Schlussendlich landet der Autor wieder „beim Grundkonflikt zwischen kapitalistischer Ökonomie und Mensch“ (S. 235) in der zweiten Moderne, in der man(n) „es nun mit einer weiteren Informalisierung von Männlichkeit zu tun“ habe (ebd.). Darunter versteht er, dass im Zuge eines „neokapitalistischen degendering“ (ebd.) offen patriarchale Institutionen und Strukturen mehr und mehr verschwinden, nicht jedoch die ehemals dadurch erfüllten Bedürfnisse. Daher gibt sein letzter Satz – in dem er schlicht feststellt: „Informalisierung der Männlichkeit und Remaskulinisierung entsprechen einander“ (ebd.) – wenig Anlass zu Hoffnung: Männer bleiben demnach bis auf weiteres außer sich.
Dem Autor gelingt eine umfassende und gut verständliche Darstellung der komplexen Facetten (heterosexueller) Männlichkeit im Kapitalismus. Eine leitende Intention ist dabei, sich vom Konzept der hegemonialen Männlichkeit Connell’scher Prägung abzusetzen und mit dem Begriff der modularisierten Männlichkeit eine neue Setzung im Diskurs über Männlichkeiten vorzunehmen. Dieses Konstrukt kann das Changieren männlicher Handlungs- und (Selbst-)Darstellungsweisen zwischen Tradition und (Post-)Moderne aufschließen. Gegenüber den bisherigen Publikationen des Autors zu männlicher Sozialisation ist hier der kapitalismuskritische und dialektische Zugang als zentrale Achse herausgearbeitet. Dadurch erfährt die spannungsvolle Widersprüchlichkeit männlicher Identitäten eine überzeugende Rahmung.
An einigen Stellen sind Aussagen stark zugespitzt, und manche Argumentationen geraten etwas knapp. An anderen Stellen hätte dem Buch eine redaktionelle Betreuung mit Fokus auf Straffung und Vermeidung allzu vieler Wiederholungen gutgetan. Insgesamt betrachtet lässt sich der Band gut als Seminarlektüre in Mensʼ Studies nutzen, vorzugsweise in Verbindung oder im Kontrast zu (queer-)feministischen, postkolonialen sowie rassismus- wie abeleismuskritischen Studien.
[1]: Das Titelzitat „Viele Männer sind in einem Mann“ findet sich auf S. 199.
[2]: Die Definition von „Modul“ findet sich unter dem zuletzt am 25.02.2019 abgerufenen Link https://www.duden.de/rechtschreibung/Modul_Element_Lehreinheit
Böhnisch, Lothar. (2013). Männliche Sozialisation. Eine Einführung. 2. Auflage. Weinheim und München: Beltz Juventa.
Tholen, Toni. (2015). Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Bielefeld: transcript.
Barbara Scholand
Universität Bremen
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ITB – Institut Technik und Bildung, Abteilung Arbeits- und berufsorientierte Übergänge, Bildungsverläufe und Diversität
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