Die elterliche Aushandlung der Verwertungslogik

Rezension von Lena Kahle

Lisa Yashodhara Haller:

Elternschaft im Kapitalismus.

Staatliche Einflussfaktoren auf die Arbeitsteilung junger Eltern.

Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2018.

250 Seiten, ISBN 9783593507774, € 39,95

Abstract: Lisa Yashodara Haller legt mit der Mehrebenenanalyse zu gesetzlichen Steuerungsmechanismen der Arbeitsteilung junger Eltern eine fundierte empirische wie auch feministisch-materialistische Analyse vor. Die Policy-Analyse auf der einen und die subjektorientierte Interaktionsanalyse auf der anderen Seite verweisen zusammen auf die Verflechtung von staatlicher Steuerung im kapitalistischen Wirtschaftssystem und den individuellen Aushandlungsstrategien junger Eltern. Dabei wird der Komplex struktureller Ungleichverteilung von Reproduktions- und Produktionsarbeit im Kapitalismus deutlich.

DOI: https://doi.org/10.14766/1266

Frauen-Streiks haben in verschiedenen Ländern in den vergangenen Jahren überraschend eine enorme Mobilisierungskraft entwickeln können. Auch in Deutschland wurde dieses Jahr gestreikt.[1] Plötzlich erhalten feministische Themen in aktuellen politischen Debatten eine vorher nicht gekannte Aufmerksamkeit. Es wird öffentlich über Themen und Fragen gestritten, die bislang vor allem eher in einem Teilbereich des Feminismus – dem Debattenstrang des feministischen Materialismus – rege diskutiert worden sind: unbezahlte Haus- und Reproduktionsarbeit, die gesellschaftliche Verteilung der Sorge-Arbeit (Care) oder die strukturelle Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

Unter dem Stichwort Care beschäftigt sich der feministische Materialismus bereits seit langem auch mit Paar- und Elternbeziehungen. Dabei geht es um ungleiche Anerkennungsverhältnisse aufgrund struktureller Positionen als Frau oder Mann sowie um deren Rollenerwartungen und -zuschreibungen, die sich in den Beziehungen niederschlagen können (vgl. u.a. Koppetsch/Speck 2015). (Heterosexuelle Paar-)Beziehungen zwischen Eltern und die feministische Perspektive auf Elternschaft bringen u.a. Fragen nach gerechter Aufteilung von Haushalt und Kindererziehung (vgl. u.a. Lohaus/Scholz 2015) mit sich. Affektive Aushandlungen von Mutterschaft, Liebe und Rollenerwartungen[2] gehören ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit den politischen Rahmungen der Kinderbetreuung. Diese Aushandlungen sind also in jeder Hinsicht gesellschaftlich flankiert.

Die Bedeutung familienpolitischer Leistungen im Kapitalismus

Lisa Yashodhara Haller widmet sich in ihrer politikwissenschaftlichen Monographie Elternschaft im Kapitalismus der Bedeutung staatlicher Steuerungsinstrumente für die Arbeitsteilung junger Eltern. Dabei fokussiert sie auf die Funktion einer geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die von feministischen Materialist_innen als strukturelle Grundlage kapitalistischer Wirtschaftssysteme begriffen wird. In Rückgriff auf Paardiskussionen mit jungen Eltern untersucht Haller die Wirksamkeit, Anwendung und Bedeutung familienpolitischer Leistungen nach der Familiengründung, also der Geburt des ersten Kindes.

Wer selbst schon einmal Elterngeld und Elternzeit beantragt hat, wird folgende einfache Rechnung kennen: Je geringer das Einkommen ist, desto niedriger fällt das Elterngeld aus. In Beziehungen, in denen die Partner_innen ein ungleiches monatliches Einkommen haben – u.a. aufgrund der strukturellen Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, aber auch gerahmt durch die geschlechtsspezifische gesellschaftliche Arbeitsteilung sind dies nach wie vor häufig Frauen –, muss daher vor der Beantragung ausgehandelt werden, wer wieviel der Elternzeit übernimmt. Die von Haller untersuchten paarinternen Auseinandersetzungen zeigen äußerst nachvollziehbar das Zusammenspiel aus sozial- und familienpolitischen Leistungen auf der Makroebene und den konkreten, geschlechtskonstituierenden Aushandlungen auf der Ebene der Subjekte – sprich, der jungen Eltern – auf. Die staatlichen Steuerungsinstrumente bilden dabei den Rahmen, vor dessen Hintergrund die Paare ihre Geschlechterrollen und -beziehungen gestalten.

Die Mehrebenenanalyse

Anhand der elterlichen Arbeitsteilung untersucht die Autorin, wie Geschlechterdifferenzen vor dem Hintergrund eines von ihr als wertformorientiert benannten Wirtschaftssystems und seiner staatlichen Steuerung hergestellt bzw. reproduziert wird. Dies lässt die Orientierung an einem Verständnis gesellschaftlicher (Produktions-)Verhältnisse erkennen, das sich auf die marxsche Theorie stützt. In jüngster Zeit werden solche Ansätze durch zum Teil innovative Neuverknüpfungen wiederbelebt und weiterentwickelt. Dies ist auch bei Haller der Fall. Sie erweitert ihren an Marx orientierten Rahmen um Arbeiten von Hanna Meißner sowie um Regine Gildemeisters Untersuchungen zum Doing Gender, in denen Geschlecht in der Interaktion hergestellt wird (vgl. S. 28). Methodisch erfordert die Verknüpfung der Makroebene sozial- und familienpolitischer Rahmenbedingungen mit der Mikroebene der Arbeitsteilung in den Familien eine Mehrebenenanalyse, welche es erlaubt, sowohl die strukturelle Ebene als auch die Subjektperspektive zu untersuchen.

Zunächst nimmt Haller eine ausführliche Politikfeldanalyse vor. Dafür untersucht sie steuerliche und unterhaltsrechtliche Grundlagen und formuliert auf dieser Basis eine feministische Kritik an der erwerbszentrierten Familienförderung (vgl. S. 97). Im zweiten Schritt wird die Struktur- und Handlungsebene über Paarinterviews untersucht. Hierfür greift sie methodologisch auf Ansätze des symbolischen Interaktionismus von George H. Mead und Herbert Blumer zurück. Diese werden um feministische Theorien u.a. von Angelika Wetterer oder Regina Becker-Schmidt ergänzt, mit dem Ziel, subjektive Handlungsspielräume in der alltagspraktischen Herstellung von Geschlecht nachvollziehen zu können (vgl. S. 33). Die Mehrebenenanalyse ist nicht nur eine Möglichkeit, einen komplexen Gegenstand aus zwei Perspektiven zu beleuchten, sondern ist hier auch eine Verbindung zweier unterschiedlicher fachspezifischer Untersuchungswerkzeuge: die Politikfeldanalyse und die mikrosoziologische Handlungstheorie zur Analyse struktureller Voraussetzungen junger Elternschaft.

Zentral für Hallers Erhebung ist das theoretische Sampling. Die Paare wurden danach ausgewählt, ob sie die für die Untersuchung relevanten familienpolitischen Leistungen empfangen. Entsprechend besteht das Sample ausschließlich aus entweder verheirateten oder zusammenlebenden heterosexuellen Paaren, die auf Transferleistungen angewiesen sind (vgl. S. 108). Zwar ist dieses Sampling konsequent und gut begründet, dennoch ist es zugleich eingeschränkt, und es wird nicht deutlich, ob kontrastierende Fälle in die qualitative Analyse einbezogen wurden und was diese zu den Ergebnissen beigetragen hätten. So kann der Eindruck entstehen, dass die Auswahl die zu erwartenden Untersuchungsergebnisse bereits vorstrukturiert.

Für die Paargespräche entwickelte die Autorin eine eigene Erhebungsmethode: In den Interviews legte sie ihren Gegenübern Spielkarten mit verschiedenen Begriffen vor – wie etwa steuerliche Erleichterung, Elterngeld, Kinderbetreuung, Kindergeld, Kinderzuschlag, ALG I, ALG II. Die Eltern waren aufgefordert, die Karten nach dem Grad ihrer Nützlichkeit anzuordnen. Durch den Einsatz der Karten leitete Haller den Aushandlungsprozess um die Bedeutungsbeimessungen der Leistungen methodisch an (vgl. S. 115).

Restriktive Auswirkungen der Gesetzgebung zum Elterngeld

Die entstandenen Interviews wertet Haller hinsichtlich der zentralen Fragestellung aus, „inwiefern die Veränderungen der Zugangsvoraussetzungen zu den sozial- und familienpolitischen Leistungen die Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern in den geschlechterkonstituierenden Tätigkeitsbereichen beeinflussen.“ (S. 109) Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass reproduktive Tätigkeiten in der wertförmigen Wirtschaft nur in sehr geringem Maße entlohnt oder auch nur anerkannt sind, „stehen die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um für jemanden sorgen zu können, einer Verwertungslogik diametral entgegen.“ (S. 231) An dieser Stelle rekurriert die Autorin direkt auf das Feld der Care-Arbeit und Care-Ökonomie, das in der Geschlechterforschung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und kritisiert deutlich die gesellschaftliche Entwertung der vielfältigen Tätigkeiten im Bereich der Care-Arbeit, die häufig wenig oder gar nicht bezahlt sind.

Im Laufe der Untersuchung wird nun ein klares Ergebnis formuliert: Die Gesetzgebung zum Elterngeld, das eine geschlechtergerechtere Organisation der Sorgearbeit mit ermöglichen soll, wirkt sich besonders auf einkommensschwache Eltern restriktiv aus (vgl. S. 133). Fest steht bereits nach den ersten Analysen: Diese Eltern profitieren nur dann vom Elterngeld, wenn sie den Anspruch darauf nicht egalitär geltend machen, wie es von der Gesetzgebung eigentlich intendiert ist (vgl. S. 154). Die Arbeitsteilung wird in den Paargesprächen vor dem Hintergrund der notwendigen Existenzsicherung verhandelt, denn das größte Problem sind geringer Lohn, prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Berufe, in denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mitgedacht wird. Hinzu kommt, dass die Rahmenbedingungen für mögliche Modelle der Arbeitsteilung zwischen den jungen Eltern in allen Fällen durch dritte Personen oder Instanzen – wie das Jobcenter oder die Arbeitsstätten – entscheidend beeinflusst und mitbestimmt werden. Diese Akteurinnen und Akteure legen dadurch, dass sie die Aufgabe der Kindesfürsorge nicht selten an die (werdenden) Mütter delegieren (vgl. S. 150), strukturelle Voraussetzungen fest, denen die Aushandlungsprozesse unterliegen.

Subjektive Verarbeitung und Lösungen bestehen darin, wie Haller herausarbeitet, dass Mütter sich infolge schwangerschaftsbedingter Diskriminierung vom Arbeitsmarkt zurückziehen (vgl. S. 213). Institutionelle Interventionen werden zudem infolge der Geburt des Kindes nicht mehr als solche bewertet: Die erfahrene Zurückweisung durch Arbeitgeber oder Amt wird in den Interviews als eigene Wahl umgedeutet. Ein Teil der befragten Mütter passt sich also den fremdbestimmten Vorgaben, die Sorgearbeit übernehmen zu müssen, an und behauptet dabei gleichzeitig – und paradoxerweise – Autonomie und Selbstbestimmung.

Fazit

Seit Juli 2015 existiert das von der damaligen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig entwickelte ElterngeldPlus. Diese Reform des Elterngeldes und mögliche Auswirkungen hinsichtlich der elterlichen Arbeitsteilung konnten in der Untersuchung zwar nicht berücksichtigt werden, doch ändert dieser Umstand nichts an den Ergebnissen des Buches. Der subjektorientierte Zugriff auf die strukturellen Ungleichheiten in der Gesellschaft sowie die politikwissenschaftliche Policy-Analyse fordern den Status-Quo der Geschlechter(un)gerechtigkeit heraus und verdeutlichen, wie durch politische Instanzen eine geschlechterdifferente Sichtweise auf Familie mit einer Reproduktions- (weiblich) und Produktionssphäre (männlich) gestützt wird.

Ein Manko der Studie hängt mit dem bereits erwähnten engen Samplingprozess zusammen, zudem auch mit der Vernachlässigung milieuspezifischer Einstellungen der Paare in der Befragung – z.B. in Bezug darauf, wie sie die Kinderbetreuung organisieren möchten, ob sie dabei einen egalitären Anspruch verfolgen. Es bleibt auch offen, wie sich die Bedürfnisse und Einstellungen von Paaren in urbanen Räumen von solchen im ländlichen Raum unterscheiden. Der Fokus auf verheiratete, heterosexuelle Paare, die alle aus einem ähnlichen Milieu kommen und Geringverdienende sind, ist hier zu exklusiv. Denn es drängte sich beim Lesen häufig die Frage auf, wie sich diese untersuchte Gruppe beispielsweise von geringverdienenden Paaren im akademischen Milieu unterscheidet. Eine zusätzliche Einstellungsanalyse, die kontrastierende Fälle einbeziehen müsste, hätte gerade deshalb im Vergleich wahrscheinlich aufschlussreiche weitere Ergebnisse erbringen können.

Dass die im Kapitalismus notwendigerweise komplementären Tätigkeiten der Produktion und Reproduktion in einem engen Vermittlungszusammenhang zur Aufrechterhaltung einer binären Geschlechterordnung stehen, die rigide zwischen männlich und weiblich unterscheidet, kann die Autorin zwar beeindruckend deutlich herausarbeiten. Die Internalisierung von Geschlecht durch Tätigkeit wird demgegenüber vor allem behauptet, dabei jedoch weder theoretisch noch empirisch fundiert. Dennoch zeigt die Arbeit eine große Fülle an Material, das die Autorin überzeugend von einem feministisch-materialistischen Standpunkt aus bearbeitet. Gerade dieser feministisch-materialistische Standpunkt in Bezug auf familienpolitische Leistungen ist ein wesentlicher Beitrag der Monographie und zeichnet die Arbeit aus. Elternschaft im Kapitalismus eignet sich sowohl als Einstieg in die Thematik wie auch als zur Vertiefung des Themas mit einem materialistischen Fokus.

Anmerkungen

[1]: Die Idee selbst ist nicht erst vor zwei Jahren entstanden, wie beispielsweise ein Beitrag von Gisela Notz im Feministischen Archiv zeigt, die einen Frauenstreik bereits 1994 im Raum Köln/Bonn ausrief: https://www.das-feministische-archiv.de/wir-haben-sie-noch-alle/frauenstreik-1994-8-maerz-schluss-uns-reicht-s.

[2]: Interessanterweise findet dazu der dezidierteste Austausch in feministischen Blogs statt und weniger in der Literatur, siehe u.a. die Blogs https://umstandslos.com/, https://fuckermothers.wordpress.com/, https://aufzehenspitzen.wordpress.com/, https://feministmum.wordpress.com/.

Literatur

Koppetsch, Cornelia/Speck, Sarah. (2015). Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lohaus, Stefanie/Scholz, Tobias. (2015). Papa kann auch stillen. Wie Paare Kind, Job & Abwasch unter einen Hut bekommen. München: Goldmann.

Lena Kahle

Stiftung Universität Hildesheim

Post-Doktorandin am Zentrum für Bildungsintegration

E-Mail: kahlele@uni-hildesheim.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter https://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons