Katharina Volk:
Von der Gesellschaftsanalyse zur Utopie.
Ein historischer Rückblick auf materialistisch-feministische Theorien.
Münster: Westfälisches Dampfboot 2018.
378 Seiten, ISBN 978-3-89691-295-4, € 35,00
Abstract: Katharina Volk zielt in ihrer theoretisch und methodisch im historischen Materialismus verankerten Studie auf die (Wieder-)Belebung der feministischen Erkenntniskritik am Gesellschaftsbegriff und der Suche nach Ideen für ein ‚gutes Leben‘. Hierfür analysiert sie systematisch ausgewählte Theorien des 19. und des späten 20. Jahrhunderts, in denen es um die Verhältnisbestimmung von Erwerbs- und Familien-/Hausarbeit im kapitalistischen Patriarchat geht, und bettet diese in ihre jeweiligen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontexte ein. Die sorgfältigen, partiell auch langatmigen Rekonstruktionen erinnern an längst vergessene Analysen und Kritiken zum Zusammenhang von Frauenfrage und sozialer Frage und geben Impulse für zeitgenössische intersektionale Gesellschaftstheorien.
Beherzt wendet sich Katharina Volk in ihrer systematisch angelegten ideengeschichtlichen und vergleichenden Studie gegen das Vergessen von Theorien, die in den letzten beiden Jahrhunderten mit der Absicht verfasst wurden, die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu analysieren und zu kritisieren und die herrschende Gesellschaftsordnung zu überwinden bzw. zu verändern. Sich selbst im materialistischen Feminismus verortend, nimmt die Autorin Bezug auf Texte aus dem europäischen Raum, die auf den Marxismus als Denktradition zurückgreifen, und forscht nach Anknüpfungspunkten an den von Marx und Engels entwickelten historischen Materialismus. Diesen begreift sie als Methode, mit der die Dynamiken und Widersprüche in einer Gesellschaft herausgearbeitet werden können.
Im Zentrum des Buchs, das auf der Dissertation der Verfasserin am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität in Gießen basiert, stehen die Fragen: Mit welchem Erkenntnisinteresse wird die Verhältnisbestimmung von Erwerbs- und Familienarbeit in ausgewählten Theorien verfolgt, und welche theoretischen Begründungen werden für dieses Verhältnis angeführt? Die Erwerbs- und Familienarbeit dient dabei „als Chiffre für den strukturellen Zusammenhang von der historisch-spezifischen Organisation der (Re-)Produktion mit den patriarchal-kapitalistischen Produktionsverhältnissen“ (S. 15 f.).
Wenngleich Volk dezidiert den „Feminismus als ein gesellschaftskritisches und visionäres Projekt“ (S. 17) stärken möchte, bleibt die Entwicklung von eigenen „Ideen für das ,gute Leben‘ im Sinne einer auf Solidarität und Gleichberechtigung basierenden Gesellschaft“ (S. 18) leider unterbelichtet. Für diese Erkenntnis sind allerdings stolze 349 Seiten Lektüre zu bewältigen. Der Text ist in sieben Kapitel zuzüglich der nicht in die Kapitelzählung einbezogenen Einleitung gegliedert, in der die Zielsetzungen, die Vorgehensweise und die Auswahl der analysierten Texte begründet werden.
Die erste Zielsetzung der Studie liegt darin, „Theorien in den Fokus der feministischen Debatte zu bringen, die im Rahmen der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der kapitalistischen Produktionsweise stehen, wie sie sich im 19. Jahrhundert im Kontext der europäischen Moderne herausgebildet hat“ (S. 12). Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise sei eine Trennung von Produktion und Reproduktion, d.h. die Aufteilung in (männlich besetzte) Erwerbsarbeit und (weiblich besetzte) Familien-/Hausarbeit, einhergegangen, die eine differenzierte und verschärfte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zur Folge gehabt habe und bis heute einen Fokus feministischer Gesellschaftstheorien bilde.
Zweitens verfolgt die Autorin die Zielsetzung, „feministische Gesellschaftstheorien (aus den 1980er Jahren, H.K.) zu analysieren, die sich der theoretischen Verhältnisbestimmung von Patriarchat und Kapitalismus nähern“ (S. 13). Dieses Vorgehen begründet sie mit der These, dass das theoretisch mit dem Strukturzusammenhang von Patriarchat und Kapitalismus verbundene Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis, nämlich die Unterordnung der Familienarbeit unter die Erwerbsarbeit, seit dem 19. Jahrhundert nahezu unverändert geblieben ist sowie die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit und zwischen Arbeit und Leben seither persistent sind. Verändert hätten sich lediglich die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen diese Widersprüche zum Ausdruck kämen.
Volk versteht ihre Studie als materialistisch-feministische Kritik an der (zeitgenössischen) feministischen Kapitalismuskritik. Während letztere auf die Kritik am Ökonomiebegriff fokussiere, geht es ihr darum, darüber hinausgehend „Erkenntniskritik am Begriff der Gesellschaft“ (S. 15) zu üben. In Kapitel 1 nimmt sie daher eine Bestandsaufnahme von feministischen Kapitalismuskritiken vor, die Care und die Neuordnung der Reproduktion ins Zentrum stellen. Im Zuge dessen komme es nicht nur zu – wenn auch umstrittenen – begrifflichen Verschiebungen von Reproduktion zu Care, sondern auch zu theoretischen Verschiebungen, in denen Erkenntnisse der feministischen Theorie aus den 1970er und 1980er Jahren zum Verhältnis von Marxismus und Feminismus und zur Weiterentwicklung des feministischen Verständnisses von Materialismus verloren gegangen seien. Im Mittelpunkt stünden Analysen „der spezifischen Anordnung der Geschlechter und der Verortung der Geschlechterverhältnisse innerhalb des kapitalistischen Patriarchats“ sowie des „historischen Gewordensein[s] der Verhältnisse in ihren Widersprüchen, was die Produktionen von Leben und Lebensmitteln und die Positionierung der Geschlechterverhältnisse darin umfasst“ (S. 49). Das reicht Volk jedoch nicht: Ein materialistischer Feminismus der Gegenwart müsse auch Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Gestalt des kapitalistischen Patriarchats üben und Visionen zu deren Überwindung entwickeln.
In Kapitel 2 widmet sich die Autorin dem historischen Kontext der zu analysierenden Theorien aus dem 19. Jahrhundert. Darin werden die historische Entwicklung der Trennung von Erwerbs- und Familienarbeit sowie deren Folgen für die Geschlechterverhältnisse und die Organisation von Arbeit behandelt, und es wird erläutert, wie diese Entwicklungen wissenschaftlich und politisch erfasst wurden. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert fokussiert Volk hier zunächst das Spannungsverhältnis von Frauenfrage und sozialer Frage. Des Weiteren geht sie auf die Produktion des Lebens (Generativität) im Zusammenhang mit der Frauenemanzipation und den Auseinandersetzungen über die Bedeutung von Hausarbeit sowie auf die in frühsozialistischen und marxistischen Theorien formulierte Kritik an der Ehe und das hegemoniale Ideal der (romantischen) Liebe ein. Schließlich zeigt sie auf, welche Utopien und zum Teil auch konkreten Schritte es zur Vergesellschaftung der Reproduktion und zur Etablierung kollektiver Lebensweise gab, etwa Überlegungen zur Einrichtung eines Einküchenhauses mit Zentralküchenverpflegung, mit dem die Unvereinbarkeit von Erwerbs- und Familien-/Hausarbeit aufgelöst werden sollte.
Eingebettet in diesen Kontext untersucht die Autorin in Kapitel 3 ausgewählte Emanzipationstheorien seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in denen „die soziale Frage (Kapitalismus) mit der Frauenfrage (Patriarchat) zusammengedacht wird“ (S. 13). Entlang der zuvor festgelegten Thematiken – das Verhältnis von Erwerbs- und Familien-/Hausarbeit, Reproduktion, Liebe und Utopien – rekonstruiert sie Texte von Charles Fourier, August Bebel, Clara Zetkin und Alexandra Kollontai. Diese inzwischen in Vergessenheit geratenen Texte seien dadurch gekennzeichnet, dass aus ihnen Ideen für eine alternative Gesellschaft gewonnen werden könnten. Volk zeigt, dass die analysierten Theorien einen auf alle Menschen und Klassen bezogenen Emanzipationsanspruch und die Idee einer Gesellschaft mit dem Anspruch allgemeiner Gleichheit beinhalten. Dabei wird die Emanzipation von Frauen als Voraussetzung für die allgemeine menschliche Emanzipation vorgestellt. Die so gelöste Frauenfrage als Teil der sozialen Frage basiert auf einer veränderten Organisation der Produktion und der Reproduktion in gesellschaftlichen Zusammenhängen und Kollektiven des Lebens und Arbeitens.
In Kapitel 4 führt Volk in feministische Diskussionen der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ein und rekonstruiert damit den Entstehungskontext der im Anschluss analysierten Theorien. Eingebettet in die Darstellung der vermeintlich (un-)überwindbaren Widersprüche zwischen Marxismus und Feminismus, deren Abgrenzungen 1968 im legendären Tomatenwurf einen symbolischen Ausdruck fanden und in die Absicht mündeten, in der zweiten Frauenbewegung ein feministisches Subjekt zu formulieren, befasst sich die Autorin ausführlich mit der in den 1970er Jahren in westlichen Industrieländern breit geführten Hausarbeitsdebatte und der Figur der Hausfrau sowie des Lohnarbeiters als ihres männlichen Pendants. Diese Debatte habe das Ziel verfolgt, theoretisch zu belegen, dass die spezifische Form der Lohnarbeit unmittelbar mit der Hausarbeit zusammenhänge, Patriarchat und Kapitalismus also eng miteinander verflochten seien.
Wie diese Verflechtungen in feministischen Theorien aus den 1980er Jahren konzeptualisiert werden, zeigt Volk in Kapitel 5. Anhand der oben bereits benannten Thematiken rekonstruiert sie hier die Theorien von Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof, deren Subsistenzansatz in einem Unterkapitel zusammenfassend behandelt wird, sowie von Ursula Beer und Frigga Haug. Als relevante Probleme des Marxismus und Herausforderungen feministischer Gesellschaftstheorie kristallisiert die Autorin fehlende Begrifflichkeiten heraus, mit denen Gesellschaft in ihren Trennungszusammenhängen erfasst werden könnte, sowie die Einschreibung der Familien-/Hausarbeit (Produktion des Lebens) in eine materialistisch-feministische Gesellschaftstheorie. Gemeinsamkeiten der analysierten Theorien zur Verhältnisbestimmung von Erwerbs- und Familienarbeit seien die historische Perspektive zur Untersuchung der Prozesse der Trennung sowie der Über- und Unterordnung, die geschlechtliche Arbeitsteilung und ihre Bedeutung für die Reproduktion des kapitalistischen Patriarchats und die kritische Auseinandersetzung mit den Marx’schen Begriffen Produktion, Produktionsweise und Produktionsverhältnisse. Entwürfe einer konkreten Utopie bietet laut Volk vor allem die von allen Theoretikerinnen zentral behandelte Überwindung der Arbeitsteilung und die damit verbundene Neuorganisation der gesamten gesellschaftlichen Arbeit, also der Produktion des Lebens und der Lebensmittel, – kurz: die Abschaffung von Herrschaft.
Den Abschluss bilden die Zusammenführung der vorgestellten Theorien und die Prüfung der Anschlussfähigkeit der Ergebnisse, die Volk als Impulse für eine materialistisch-feministische Gesellschaftstheorie ansieht, an aktuelle Diskussionen. Hierfür fasst die Autorin in Kapitel 6 ihre Resultate vergleichend zusammen. Dabei fokussiert sie den Zusammenhang von Frauenfrage und sozialer Frage bzw. von Patriarchat und Kapitalismus, die Verschiebungen, Brüche und Persistenzen der Organisation von Haus- und Familienarbeit, Haushalt und familialer Lebensweise sowie von Generativität, die sich verändernde Bedeutung der Liebe im kapitalistischen Patriarchat und die entworfenen Utopien gesellschaftlicher Produktion. Ihr Fazit in Kapitel 7 mündet in „weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen für eine Gesellschaftstheorie“ (S. 342), nämlich die Infragestellung der Totalität des Kapitalismus, die Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Produktion des Lebens und der Lebensmittel und die Betrachtung der Trennung der Bereiche als historisch verknüpft mit den Geschlechterverhältnissen, die sie abschließend knapp ausbuchstabiert.
Auch diese Ausführungen bleiben stets eng den analysierten Ideen zu einem ‚guten‘ bzw. ‚besseren Leben‘ verhaftet, die freilich als weiterführender im Vergleich zu gegenwärtigen Überlegungen bewertet werden. Eigenständige und darüber hinausweisende Überlegungen sind insgesamt leider überschaubar. Volk bleibt insofern ihrem Anliegen der materialistisch-feministischen Kritik an der (zeitgenössischen) feministischen Kapitalismuskritik treu – und leider auch dabei stehen. Laut der Verfasserin besteht ihre Forschungsleistung denn auch darin, in vergleichender Absicht „Theorien zusammenzuführen und sie in ihren jeweiligen sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext einzubetten“ (S. 15). In dieser Aufarbeitung gegen die Geschichtsvergessenheit der feministischen Theoriebildung liegt in der Tat der große Verdienst der kenntnisreichen und sorgfältigen Studie, die in ihrem systematischen Vorgehen und der Breite der vergleichenden ideengeschichtlichen Analysen weit über die meisten feministischen Auseinandersetzungen mit dem historischen Materialismus hinausweist. Zugleich wirkt die Studie zum Teil aber auch etwas zu ausschweifend, detailverloren und manchmal auch redundant. Begrifflich fehlt es ab und zu an Präzision (etwa hinsichtlich des unreflektiert verwendeten Patriarchatsbegriffs). Der erkenntnistheoretische und historisierende Blick zurück nach vorn bietet dennoch eine reichhaltige Fundgrube für Perspektiven künftiger feministischer Kapitalismusanalysen und -kritiken und die Suche nach einem alternativen Gesellschaftsentwurf, überlässt deren Ausformulierung aber nachfolgenden Arbeiten.
Prof. Dr. Heike Kahlert
Ruhr-Universität Bochum
Homepage: http://www.heike-kahlert.de/
E-Mail: mail@heike-kahlert.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter https://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons