Lyrik chinesischer Frauen aus vergangenen Jahrhunderten

Rezension von Dorothee Dauber

Susanne Becker:

Lyrik chinesischer Dichterinnen.

Von den Anfängen (11. Jh. v. Chr.) bis zum 10. Jh. n. Chr. (mit chinesischem Originaltext der Gedichte).

Frankfurt/M: Peter Lang Verlag 1999.

307 Seiten, ISBN 3–631–34861–4, DM 98,00

Abstract: Susanne Becker stellt 74 klassische chinesische Dichterinnen mit 108 Gedichtübersetzungen vor, angefangen von der legendären Kaiserinmutter des Westens, die im 11. Jahrhundert v.Chr. angesiedelt wird, bis hinein ins 10. Jahrhundert. Jedem Gedicht folgt ein formaler Kommentar und eine Interpretation, zu jeder Dichterin eine biographische Notiz, etwas schematisch; doch Beckers Übersetzungen sind gut und oft in schönem Deutsch.

Susanne Becker legt in ihrer Dissertation die Übersetzungen von 108 Gedichten von 74 Dichterinnen vor, aus der Zeit vom 11. Jahrhundert v.Chr. und dem 10. Jahrhundert, also aus einem Zeitraum von über zwei Jahrtausenden. An jedes Gedicht schließt sich ein Kommentar an, der sich aus einer kurzen formalen Beschreibung und einer Interpretation zusammensetzt. Dazu werden sämtliche Dichterinnen mit einer knappen Biographie vorgestellt. In Anbetracht des Alters der Gedichte ist dies an sich schon eine beträchtliche Leistung und ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Frauen und ihrer literarischen Tätigkeit. Dazuhin sind die Übersetzungen philologisch recht genau und dicht am Original, sie zeichnen sich aus durch schönes, wohlklingendes Deutsch ohne Altertümelei und moderne Modewörter. Gelegentlich wird der literarische Kontext miteinbezogen.

Ziel der Arbeit ist es, den bisher oft ignorierten und stark vernachlässigten Anteil der Frauen am immensen Corpus der klassischen chinesischen Lyrik aufzuzeigen, von der Zhou- bis zur Tang-Dynastie. In der Tat ist das bisher in westlichen Sprachen dazu vorliegende Material mager, gerade die Gedichte selbst fanden teilweise noch nicht viel Beachtung. Beckers kurze Bibliographie (6 Seiten) läßt jedoch relevantes Material vermissen: Es fehlt Hu Wenkais bahnbrechende, fast zweitausend Jahre umfassende Bibliographie der Werke von Frauen, erschienen 1957, neu aufgelegt 1985, ebenso die Arbeiten, sämtlich mit Übersetzungen, von Genevieve Wimsatt (1936), Jan Wilson Walls (1972) und Dieter Kuhn (1985) über die heute als bedeutendste Dichterin der Tang-Zeit geltende Yu Xuanji, und die von Jeanne Larsen (1987) über Yu Xuanjis bekannte Zeitgenossin, die Dichterin Xue Tao. Auch Hanne Chens Übertragungen tangzeitlicher Liebesgedichte von Frauen hätten herangezogen werden können. Für viele der von Becker neu übersetzten Gedichte lagen also bereits Versionen in europäischen Sprachen vor, z.T. sogar auf deutsch, doch dies nimmt der Arbeit nichts von ihrer Aktualität. Oft sind ihre Übersetzungen besser als die bisherigen.

Daß bei einer solchen Materialfülle nicht so sehr in die Tiefe gegangen werden kann, liegt auf der Hand. Es würde den Rahmen einer Dissertation übersteigen, 74 chinesische Biographien aus so ferner Zeit zu recherchieren und auszuarbeiten oder den literarischen Kontext für 108 Gedichte aufzufächern. Eigenartig wirkt jedoch die Wahl der Textgrundlage, der chinesischen Anthologie, der Becker die Originalgedichte entnommen hat. Die Wahl wird auch nicht überzeugend begründet; die Fakten, die uns über diese Anthologie mitgeteilt werden (S. 11f.), wie z.B., daß die Gedichte teilweise unvollständig wiedergegeben und ohne Erklärungen sowie ohne Angaben zu den Dichterinnen und zu den Auswahlkriterien vorgestellt werden, sprechen gegen die Verwendung dieser Quelle. Auch fehlen nähere Informationen über das – kaum zugängliche – Werk: enthält es nur die 108 Gedichte der 74 Dichterinnen, die Becker übersetzt hat, oder mehr, welchen Umfang hat es etc.

So werden z.B. die Zi Ye-ge erstaunlicherweise nicht erwähnt, eine Reihe von Gedichten, die einer Sängerin namens Zi Ye zugeschrieben werden, die im 3. oder 4. Jahrhundert gelebt haben soll (vgl. u.a. Dorothee Schaab-Hanke/Hans Stumpfeldt, „Lieder der Mitternacht“, Mitteilungen der Hamburger Sinologischen Gesellschaft, 6, 1998, S. 38). Eine zuverlässigere, ausführlichere und gut kommentierte Quelle hätte die Arbeit erleichtert und das Resultat gehoben; in den letzten Jahrzehnten sind mehrere umfangreiche Anthologien mit kommentierten Gedichten klassischer Dichterinnen erschienen, nicht selten mit ausführlicheren Kurzbiographien der Autorinnen als denen, die Becker zusammengestellt hat.

Die Hintergrundinformationen könnten wesentlich differenzierter sein; es werden z.B. zwei der vier einflußreichsten (neben mehreren nicht so verbreiteten) Frauenlehrbücher als Beispiele angeführt und eher oberflächlich charakterisiert, aber ohne die nötige Einordnung. Dabei wird die interessante kritische Interpretation des frühesten dieser Frauenlehrbücher leider nicht erwähnt (s. Ute Fricker: Schein und Wirklichkeit. Zur altchinesischen Frauenideologie aus männlicher und weiblicher Sicht im geschichtlichen Wandel. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens e.V., Band 112, 1988, S. 536). Als Quelle für weiterführende Literatur eignet sich Beckers Arbeit insgesamt wenig.

Obwohl der Anteil der Frauen an der klassischen chinesischen Lyrik, und somit auch an der literarischen Tradition, größer ist als bisher oft angenommen wurde, ist es illusorisch zu glauben, die klassische chinesische Lyrik sei nicht von Männern dominiert, wie es der Klappentext verspricht. Der Aspekt, daß Frauen sich der von Männern geprägten Tradition oft noch stärker angepaßt haben als Männer, um eben vor Männern mit ihrer Lyrik zu bestehen und Lob zu erheischen, wird hier kaum berücksichtigt; Becker kommt allerdings zu dem Schluß, daß Frauen nicht grundsätzlich einen Sonderweg eingeschlagen hätten. Darüberhinaus bescheinigt sie Frauen die führende Rolle im Bereich der Lyrik zum Thema Einsamkeit und auch der entsprechenden literarischen Topoi.

Der Erkenntnisgewinn der Arbeit besteht vor allem darin, daß viele dieser Gedichte überhaupt zum ersten Mal für nicht-sinologische Leserinnen und Leser erschlossen werden. Die Übersetzungen können Motivstudien im Bereich frühester Lyrik überhaupt dienen wie Vergleichen zwischen Männer- und Frauenlyrik oder Forschungen zur Frauenlyrik; wird der chinesische Text, der hier dankenswerterweise jeweils beigegeben wird, in den Vergleich miteinbezogen, können auch Untersuchungen zu frauenspezifischen Themen (Einsamkeit?), einer spezischen weiblichen Herangehens- und Ausdrucksweise oder einer weiblichen Sprache darauf zurückgreifen.

Die Arbeit wäre also in jedem Fall zur Anschaffung zu empfehlen, schon allein wegen der schönen Übersetzugen; überdies liefert sie viele interessante Anregungen, auch im Index, und gibt der sinologischen Frauenforschung neue Anstöße, indem sie so viele Dichterinnen aufführt. Auf viele von ihnen war bisher in westlichen Sprachen tatsächlich noch kein Hinweis zu finden; nun liegen einige Angaben zu ihrem Leben und mindestens ein Gedicht in guter deutscher Übersetzung vor.

URN urn:nbn:de:0114-qn011053

Dr. Dorothee Dauber

Ostasiatisches Seminar, Freie Universität Berlin

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