Silke Arnold-de Simine:
Leichen im Keller.
Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminalliteratur (1790–1830).
St. Ingberg: Röhrig 2000.
535 Seiten, ISBN 3–86110–263–3, € 37,84
Abstract: Die Arbeit stellt „Angst“ als sozialhistorisches Phänomen dar. Sie kann zeigen, dass diese aus einem diskursiven Prozess entsteht, in dem auch ästhetische Produktion eine leitende Funktion übernimmt. Aus dieser Beobachtung heraus wird Schauerliteratur zum Zeugnis für Geschlechterkampf. Deutsche Autorinnen und ihre Schauerromane sowie Ängste erscheinen zum einen als „Produkt“ eines männlich geprägten Herrschaftsdiskurses. Zum anderen unterlaufen die Autorinnen, so das Ergebnis der Untersuchung, mit ihrer ästhetischen Produktion die sie unterdrückenden Strukturen. Leider sind die Textanalysen der Autorin zugunsten einer nacherzählenden Einordnung im zuvor entworfenen (männlichen) „Machtdiskurs“ kaum an Quellentexten nachvollziehbar.
Silke Arnold-de Simine reagiert mit ihrer Arbeit, so führt sie in ihren umfassenden Vorüberlegungen aus, auf ein Forschungsdefizit. Erstens fehle eine Bearbeitung speziell der von Frauen in Deutschland verfassten Schauerromane (Vgl. S. 23 und 218), was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sei, dass in Deutschland „der Großteil aus männlicher Feder“ stamme (S. 227). Zweitens mangele es an einer Auseinandersetzung, die den geschlechtsspezifischen Ausformungen dieser Literatur gerecht werde. Arnold-de Simine will diesem Defizit durch eine Textanalyse „von jüngst wiederentdeckten“ (S. 25) Romanen abhelfen. Mit ihr soll „die spezifische Funktion der Schauerromane in der ästhetischen Bearbeitung, Erzeugung und Gestaltung von Angst“ (S. 14) dargestellt werden. Auf diese Weise will sie zeigen, „welche realen Ängste in die Schauerromane Eingang finden und inwiefern die Literatur mit ihren spezifischen Mitteln zur Verarbeitung dieser Ängste beiträgt“ (S. 12).
Die Äußerungen, mit denen im 18. Jahrhundert „hohe Literatur“ von „Trivialliteratur“ unterschieden wird, bedienen sich derselben Begriffe wie die zu dieser Zeit unternommene Beschreibung der Geschlechtscharaktere (S. 93 und 103). Daraus schließt Arnold-de Simine auf eine enge Beziehung zwischen sozialer und literarisch-ästhetischer Gesellschaftsformierung. Literatur wird diskursanalytisch als Dokumentation einer „Schaltstelle zwischen gesellschaftlichen Zwängen und den sich im Individuum konkretisierenden Wünschen und Ängsten“ (S. 119) betrachtet. Die Autorin geht davon aus, dass „die Angst als soziokulturelles und als diskursives Phänomen gleichermaßen geschlechtsspezifisch kodiert ist.“ (S. 17 und 122). Diese Annahme bildet die theoretische Grundlage ihrer Arbeit, durch sie wird es ihr möglich, von Literatur auf „reale“ sozialhistorische Zusammenhänge zurückzuschließen.
„Angst“ beschreibt die Autorin im Anschluss an Norbert Elias (S. 49) als Ergebnis eines gesellschaftlich-historischen Prozesses. Die Annahme, es handele sich bei diesem Phänomen um eine anthropologische Konstante, wird so als Bestandteil einer bürgerlichen Ideologie erkennbar. In dieser Ideologie nun bewegen sich nach Arnold-de Simine beispielsweise auch die Romane von Benedikte Naubert oder Caroline de la Motte-Fouqué. Als Beleg stellt Arnold-de Simine ausführlich die „Angstdiskurse im 18. Jahrhundert“ (S. 125 ff.) dar, deren Kerngestalt die Diskussion um das „Erhabene“ bildet. Inwiefern kann aber von einer ästhetisch-philosophischen Diskussion, die vor allem von „großen Männern“ (Kant, Schiller, Hoffmann, vgl. 448 ff. und 451 ff.) geführt wurde, auf sozialhistorische Realität, insbesondere von Frauen geschlossen werden? Um diesen Bezug herstellen zu können, bestimmt Arnold-de Simine diese „männlichen“ Positionen als herrschenden Diskurs, mit dem sich die schreibenden Frauen hätten auseinandersetzen müssen. Diese Determinierung „weiblichen“ Schreibens ex post führt dazu, dass all jene Zuschreibungen, die von „männlichen“ Autoren gegenüber einer Diskursfigur „Frau“ vorgenommen wurden, wiederholt werden müssen (vgl. S. 157f.). Die vermeintliche Rekonstruktion sozialer Realität wird so zur Konstruktion eines diskursiven Doppels: Von dem, was geschrieben wurde, „wie die Weiber seien“, wird darauf geschlossen, was deren soziale Realität bestimmt habe. Leider bleiben die Einschätzungen Arnold-de Simines durch sekundäre Bezüge geprägt. Es findet sich kaum ein längeres und näher analysiertes Zitat aus jenen „nahezu unbekannte[n] Texte[n]“ (S. 25). Statt den Diskurs aus den Texten heraus zu entwickeln und so deren konstruktive Teilhabe daran sichtbar machen zu können, werden die Romane der Autorinnen des 18. Jahrhunderts gewissermaßen zu „Leichen im Keller“ einer männlich dominierten Sozialgeschichte.
Dass diese Arbeit ungewollt ihre eigenen Absichten unterläuft, zeigt sich am deutlichsten an der Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Psychoanalyse. Diese werde „im Unterschied zu einem Großteil besonders der feministischen Forschung zum Gothic Novel nicht zur Interpretation der literarischen Texte eingesetzt, sondern ist selbst Gegenstand der Untersuchung.“ (S. 170) Nicht zuletzt Samuel Weber hat in seiner Freud-Legende (Wien, Passagen 1989)[1] die zentrale Position des „Angst“-Begriffs und die Produktivität von dessen widersprüchlicher und ambivalenter Funktion in Freuds Psychoanalyse zeigen können. Arnold-de Simine verzichtet aber darauf, die methodischen und theoretischen Positionen an ihrem historischen Ort zu beschreiben, um von dort aus ihren Spuren und gerade für die Geschlechterforschung produktiven Verschiebungen nachzugehen. Stattdessen werden sie vermeintlich ad fontes als ideologisch entlarvt und damit als von Anfang an „verstellt“ verworfen. Tatsächlich ist Arnold-de Simine dabei mehr einer imaginären Figur „S. Freud“ verhaftet als seinen Texten. Die Bewertung der Psychoanalyse „als eine ‚Sozialisationstheorie des Patriarchats‘ im bürgerlich-kapitalistischen Zeitalter“ (S. 46), die sich – wie auch dieses Zitat von Rohde-Dachser zeigt – nahezu ausschließlich auf Sekundärliteratur stützt, bleibt zu sehr in den ideologiekritischen Absichten befangen, um überzeugen zu können.
Das ist besonders deshalb schade, weil der Gestus „hier irrte Freud“ einen großen Teil der methodischen und theoretischen Vorüberlegungen besetzt (vgl. S. 181, 184 ff.). Indem sie das Ziel der Arbeit von einer literaturwissenschaftlichen Studie zu einer umfassend ideologiekritischen Untersuchung von Angst und deren ästhetisch-sozialen Bedingungen verschiebt, kann die Autorin weder dem literaturhistorischen noch dem ideologiekritischen Anspruch angemessen gerecht werden. Stattdessen kehrt der so radikal Verworfene gespensterhaft zurück, wenn es beispielsweise um eine Bestimmung der „Angstszenarien“ ohne Freud geht, diese jedoch bis in die Begriffe hinein Freud folgt. So wird auf der einen Seite Freud abgelehnt, indem ihm unterstellt wird, Literatur wie Träume behandelt zu haben (S. 118), um ihn auf der anderen Seite zur Anwendung zu bringen, indem die Sichtweise auf Literatur als Dokument der Verwebung von inner- und intersubjektiven Strukturen gerade die Existenz eines „sozialen Unbewussten“ nahelegt (S. 119). In der Geste der Abgrenzung und Verwerfung bindet sich die Autorin nur um so fester an ihre „Leichen im Keller“. Die Quellen bleiben, wie die Autorin selbst betont, „schwer zugänglich“ (S. 270, Fußnote 180).
Im Produzieren von Trivial- bzw. Schauerliteratur, so das zentrale Ergebnis von Arnold-de Simines Arbeit, haben die Autorinnen ihre soziale Realität in die Romane eingeschrieben und damit zugleich jenen Diskurs unterwandert, der sie erst dazu gezwungen habe, nur Schauerliteratur zu schreiben. Die „ewig stachelnde Anmahnung“ (S. 366), von der beispielsweise Caroline de la Motte-Fouqué 1813 an K. A. Varnhagen schrieb, ist nach Arnold-de Simines Lesart der männliche Diskurs, der von der Autorin eine Rationalität abfordert, der sie weder nachkommen kann noch will und deshalb sich ins „uneigentliche Sprechen“ flüchtet (S. 367). Nun ist auch hier die Frage, inwiefern Schauerliteratur „uneigentlich“ ist – wenn nicht gänzlich in Abhängigkeit von den zuvor angenommenen Bestimmungen der Eigentlichkeit. Die Analyse der Texte unter der Prämisse der Abgrenzung führt gerade zu einer Restaurierung des zu kritisierenden diskursiven Geflechts (vgl. Fußnote S. 178).
Trotz dieser Determiniertheit durch ihr Gegenbild regt das Ergebnis der Arbeit, die Bestimmung des Phänomens „Schrecken“ als sozialhistorisch einzuordnende symbolische Form, zum Weiterdenken an. Schrecken sei, so Arnold-de Simines Schluss, in der Familie aufgehoben. In der Inszenierung der Angst vor und in dieser Familie werde dieses gerade Anfang des 19. Jahrhunderts als Hort der Sicherheit installierte soziale Gebilde in all seiner Brüchigkeit und gewaltsamen „Ordnung“ dargestellt. (S. 487) Gleichsam das Innere eines patriarchal geprägten Gesellschaftsentwurfs würden die besprochenen Schauerromane auch als Quelle der Angst markieren. Damit wird deutlich, in welchem Umfang Literatur nicht nur gesellschaftliche Realitäten spiegelt, sondern auch mit konstruiert. Denn Arnold-de Simine zeigt auch, dass die widersprüchliche Lebenswirklichkeit der Autorinnen sie jene Horrorszenarien als Angstinszenierung umsetzen lässt, die vice versa an der Konsolidierung der Imagination der Familie als Ort größter Sicherheit mitwirkten. (S. 484 f.) Es gehörte wohl zum Schicksal all jener, die Bestandteil der Entwicklung des bürgerlichen Diskurses um Familie und Rollenverteilung waren, dass ihre Literatur gerade durch den Schauer und das Triviale diesen Diskurs nicht umzulenken vermochte, sondern ihn als dessen Bestandteil mit verwirklichte. (S. 490) Eine Restaurierung des Bilds von der unterlegenen Frau, der Frau als Opfer und die Fixierung auf Mächtige, die Frau von allen Errungenschaften des Patriarchats abhaltenden Männer ist letztlich die „Leiche“, die im „Keller“ von Arnold-de Simines Arbeit selbst liegt.
[1]: Samuel Weber, Freud-Legende, Wien: Passagen, 1989.
URN urn:nbn:de:0114-qn032064
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