Maria E. Müller, Ulrike Vedder (Hg.):
Reflexive Naivität.
Zum Werk Marieluise Fleißers.
Berlin: Erich Schmidt 2000.
280 Seiten, ISBN 3–503–04961–4, € 32,80
Abstract: Der Sammelband zu Marieluise Fleißer (1901–1974) beschäftigt sich mit ästhetischen und rhetorischen Strukturen ihrer Texte. Die Beiträge umfassen dabei das gesamte Spektrum des Werkes der Dichterin von der Weimarer Zeit bis in die siebziger Jahre.
Der Sammelband beginnt mit kulturhistorischen Fragestellungen zur Geschlechtertypologie der Weimarer Zeit, gefolgt von Beiträgen, die den Schreibweisen Fleißers nachgehen, und behandelt im dritten Teil die Problematik der Autorschaft Fleißers im Spannungsfeld von Werkherrschaft, Selbstkritik und Öffentlichkeit. Dabei decken die Beiträgerinnen das gesamte Spektrum der Fleißerschen Werke ab, es werden Essays, Romanversionen, Dramen, Erzählungen, frühe und späte Prosa bis hin zu unveröffentlichten Dokumenten analysiert und als Material genutzt.
Ulrike Baureithel beleuchtet die Machtbeziehungen im Roman Mehlreisende Frieda Geier unter Bezugnahme auf Bourdieus Habituskonzept. Sie betrachtet die Geschlechterkollisionen bei Fleißer als Ausdruck habitueller Differenzen. Statt einer ideologiekritischen Ableitung zu folgen, die ein „falsches Bewusstsein“ der Handelnden entlarvt, stellen sich in dieser Lesart die Handlungen als gerade nicht bewusst durchgesetzt dar.
Kerstin Barndt kommt in ihrer Analyse der weiblichen Typologiender Neuen Sachlichkeit zu der Erkenntnis, dass die Desillusionierungsprozesse, wie sie neben der Mehlreisenden Frieda Geier auch Keuns kunstseidene Doris durchleben, als gelungene weibliche Beiträge zu den zeitgenössischen „neu-sachlichen“ Verhaltenslehren anzusehen sind, als literarisch gestaltete Formen des Überlebens in der Weimarer Frontengesellschaft.
Lucia Maria Licher interessiert sich für die Ökonomie des Alltags, d. h. dieliterarische Betrachtung der alltagsweltlichen Konstruktion von Wirklichkeit in Mehlreisende Frieda Geier und Der Tiefseefisch.
Genia Schulz widmet sich in ihrer Dramenanalyse von Fegefeuer in Ingolstadt dem Verhältnis von Gewalt und Magie in Bezug auf die Zwänge der Religion. Dorothee Römhild fokussiert ihren Beitrag auf die Tierbilder in Fleißers Werk, die keinem kollektivsymbolischen Ordnungsschema entsprechen (wild/zahm kann austauschbar sein). Deren kleinster gemeinsamen Nenner stellt ihre semantische Verweisfunktion auf Herrschaftsverhältnisse dar; das Thema „Geschlechterkampf“ ist bei Fleißer leitmotivisch dem Tierreich assoziiert.
In der Sektion Schreibweisen wird u.a. Fleißers unverkennbarer Stil, der eine dialektal gefärbte, naiv wirkende Sprache mit Einschüben von poetischer Reflektion verschränkt, in den Blick genommen. Ihre stilistische Naivität stellt ein Verfahren der Komplexitätssteigerung dar (Im Gegensatz zu Brechts Verfahren, der die sprachliche Vereinfachung zugunsten der Vereindeutigung nutzte und auf Reduktion gesellschaftlicher Realität abzielte).
Silvia Henke widmet sich dem Blick als Geste in Fleißers Texten. Im bürgerlichen Theater der Ich-Pschologie war der Blick für Erkenntnis und Selbsterkenntnis konstitutiv. Henke arbeitet die Unterschiede der fleißerschen Blickregie zu diesem Konzept heraus.Claudia Albert betrachtet die Geschlechterverhältnisse in der frühen Prosa Fleißers in Bezug auf (Sprach-)Gewalt und Macht und zeigt auf, wie Fleißer Opfer-Täter-Strukturen aufbricht. Maria E. Müller interessiert sich für die Suche Fleißers nach dem Autor-Ich und analysiert zu diesem Zweck die Funktion der Komik in Der Tiefseefisch. In vergleichender Perspektive wird das mimetische Schreiben bei Jelinek und Fleißer von Vera Jost untersucht. In ihrer Betrachtung zur Rhetorik der Verneinung konstatiert Johanna Bossinade, dass Fleißers einfache und doppelte Verneinungen ein Geflecht von Wünschen freilegen, die ihr Gegenüber verfehlen oder sich in sich selbst verzweigen. Dies führt zu einer literarischen Strategie, die Leser/-innen zu einer hintergründigen Lesehaltung zwingt.
Ulrike Vedder liest den Text Avantgarde als kluge Erzählung vom unmöglichen Ort der weiblichen Autorschaft. Auf der Grundlage der Kittlerschen Medientheorie legt Vedder dar, wie, bedingt durch die männlichen Autormodelle der Aufschreibesysteme 1800/1900, weibliche Autorschaft ausgeschlossen wird. Frauen werden nur in ihrer medialen Funktion sichtbar, z. B. in ihrer akustischen Übertragungsfunktion (Abtippen nach Diktat). Der Beitrag befreit den Rezeptionskontext des Textes Avantgarde von der reduktionistischen Deutung als bloße Aufarbeitung der gescheiterten Beziehung Brecht – Fleißer.
Anschließend untersucht Carmel Finnan die „wechselseitige Durchdringung von Leben und Werk“ Fleißers als poetologisches Verfahren und zeigt eine Entwicklung auf, die von einer als Selbstbewahrung (v. a. gegenüber den männlichen Vorbildern) in den frühen Texten charakterisierten Haltung hin zu einer der Selbstkritik im späteren Werk reicht. Fleißer, die nach dem 1929er Skandal (der skandalisierten Brechtbearbeitung der Pioniere in Ingolstadt) unerwünscht war und im Krieg und danach zunächst vergessen war, hat später immer wieder die alten Texte überarbeitet um an den früheren Erfolg anzuknüpfen. Im Vergleich zweier Texte in ihren frühen und späteren Versionen arbeitet Finnan minutiös heraus, wie sich zunächst Fleißers Poetik einer weiblichen Stimme zwischen Kritik am Gegebenen und dem Risiko der Auslöschung bewegt. Im Blick auf die späteren Versionen konstatiert Finnan, dass ein verinnerlichter Zensor, ein Anpassungsbedürfnis an die Öffentlichkeit Fleißer dazu bewegte, Texte zu zähmen und zu glätten.
Bei den Materialien aus dem Nachlass Fleißers, deren Entwicklungslinien Eva Pfister nachzieht und die sie als „neorealistische“ Schriften charakterisiert, handelt es sich um zwischen 1944 und 1947 verfasste Hörspielentwürfe, Prosafragmente und – neu für Fleißer – Filmskizzen. Jedoch versuchte die Dichterin letztendlich, mittels ihr vertrauter Formen und durch Überarbeitungen der alten Texte und Dramen wieder Anschluss an den Literaturbetrieb zu gewinnen
Anette Sabelus zeigt abschließend, wie ambivalent die „Fleißer-Renaissance“ (durch Fassbinders Bearbeitungen der Pioniere in Ingolstadt 1968) sich für die Autorin gestaltete. Fassbinders radikalisierte Version des Zusammenspiels von gesellschaftlicher Unterdrückung und psychischer Deformierung der Menschen war wie ein Widerhall der Brechtschen Umarbeitung des Stückes (1929), deren Aufführung Fleißer den Ruf als „Nestbeschmutzerin“ einbrachte.
Auf methodisch vielfältige Weise versammelt dieser Band Positionen zu Fleißer, die geeignet sind, das Projekt der Einschreibung von Autorinnen in die Kultur- und Literaturgeschichte unter Berücksichtigung geschlechstdifferenzierender Methodologien fortzuführen. Es finden sich geeignete Beispiele dafür, wie biographische Aspekte der Autorin Fleißer zur Klärung der poetologischen Konzeptionen ihrer Werke in Anspruch genommen werden können ohne die bei Autor/-innen fast reflexhaft vorkommenen autobiographistischen Verkürzungen.
URN urn:nbn:de:0114-qn032114
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