Gudrun-Axeli Knapp, Angelika Wetterer (Hg.):
Soziale Verortung der Geschlechter.
Gesellschaftstheorie und feministische Kritik.
Münster: Westfälisches Dampfboot 2001.
338 Seiten, ISBN 3–89691–213–5, € 23,00
Abstract: Der Sammelband „Soziale Verortung der Geschlechter“ stellt einen Querschnitt aktueller feministischer Theoriediskussionen vor. Dass bei der Suche nach angemessenen gesellschaftsanalytischen Kategorien sowohl die Klassiker/-innen der Politischen Theorie und Gesellschaftstheorie wie auch ihre Epigonen mannigfache Kritik-, aber auch vielversprechende Anschlußpunkte zu bieten haben, vermögen alle Beiträge zu vermitteln. Somit bietet der Band mit seiner breit angelegten Konzeption, die wichtige und durchaus gegensätzliche Theorien verbindet, einen guten Überblick und regt gleichzeitig zur vertiefenden Lektüre an. Bemerkenswert ist, dass nahezu alle Beiträge für eine Verbindung von Empirie und Theorie plädieren und hierbei die Einbeziehung einer historischen Perspektive als grundlegend und unabdingbar für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse als Teil gesellschaftlicher Entwicklung erachtet wird.
Der vorliegende Sammelband – als erster Teil einer zweibändigen Ausgabe konzipiert – will mit einer Bündelung feministischer Theorieansätze und Kritik zu gesellschaftstheoretischen Überlegungen auffordern. Die in den letzten Jahrzehnten entwickelten feministischen Theorieänsätze zum einen und die feministische Kritik an den KlassikerInnen der Gesellschaftstheorie zum anderen sollen dabei die beiden Schwerpunkte bilden. Bei dieser Konzeption haben wir es gewissermaßen mit zwei Seiten eines roten Fadens zu tun, der sich durch die zehn Beiträge zieht. Denn auch wenn drei Beiträge (Knapp, Krüger, Mies) explizit neuere feministische Theorieansätze vorstellen, so sind diese selbstverständlich ohne die positiven und kritischen Bezüge zu den „Klassikern“ nicht erklärbar. Ebenso wird bei den anderen sieben Beiträgen, die sich ausdrücklich mit einzelnen Autor/-innen beschäftigen, deutlich, wie neue Fragestellungen analytische Kategorien verändern und weiterentwickeln können.
Damit ist auch schon die Frage berührt, die sich nach der Lektüre dieses breit angelegten Bandes stellt: Brauchen wir (wieder) eine umfassende gesellschaftstheoretische Fundierung sozialwissenschaftlicher Forschung? Und wie können die Thesen und Ergebnisse feministischer Forschung sinnvoll an gesellschaftstheoretische Ansätze anschließen? Hierzu bieten die Beiträge des Sammelbandes ein weit gefächertes und heterogenes Spektrum möglicher Antworten und werfen neue Fragen auf.
Nicht umsonst ist wohl der Beitrag von Beate Krais „Die feministische Debatte und die Soziologie Pierre Bourdieus: Eine Wahlverwandschaft“ am Ende des Bandes plaziert. Krais plädiert mit Bezug auf Bourdieu sehr überzeugend dafür, sich vom Wunsch nach einer umfassend und abschließend zu formulierenden Gesellschaftstheorie zu verabschieden. Vielmehr müsse die wissenschaftliche Praxis als Prozess begriffen werden. Krais bedauert die „Rezeptionssperre gegenüber Bourdieu“ (S. 318), die die Frauen- und Geschlechterforschung durchaus mit dem „mainstream der deutschen Soziologie“ gemein habe. Der Verbindung von Theorieentwicklung mit der empirischen Forschung, wie sie der „Außenseiter“ Bourdieu (S. 317) praktiziert habe, liege eine sinnvolle Handhabung von analytischen Kategorien als Instrumenten zugrunde, die diese Kategorien, so sie sich für das Forschungsfeld als unbrauchbar erweisen, weiterentwickelt und sie damit ihres dogmenhaften Charakters entkleidet hätten. Krais stützt ihre Überlegungen auf den Erklärungswert von Bourdieus Habitus-Begriff gegenüber dem auf Parsons zurückgehenden Rollenkonzept. Denn für das Anliegen feministischer Forschung, Geschlecht als zentrale Kategorie für das Verständnis moderner Gesellschaften zu begreifen, ist das Habitus-Konzept viel geeigneter, da das soziale Subjekt nicht innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern konstitutiv als vergesellschaftetes gedacht wird. Diese Sichtweise erlaubt nach Krais die Konstituierung von Geschlecht sowohl als „Handeln des Individuums“ als auch als „sozial vorstrukturierte Praxis zu begreifen“(S. 323). Hiermit ist ein selbstreflexiver Umgang mit der Kategorie Geschlecht bei der Analyse der Strukturen und Entwicklungen sozialer Ordnungen angelegt, der für feministische Forschung grundlegend sein sollte.
Doch zunächst steckt Gudrun-Axeli Knapp zu Beginn den Rahmen des Bandes ab. In ihrem überzeugenden Beitrag „Dezentriert und viel riskiert“, der die post-feministische Kritik in den Blick nimmt, weist sie die „These vom Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht“ in ihrer Pauschalität zurück. Die sogenannten post-feministischen Theorieansätze, die sich kritisch von der Kategorie Geschlecht abgrenzen, haben sich – verkürzt gesagt – nach Knapp die falsche Gegenposition ausgesucht. Legten sie doch einen Begriff von Feminismus zugrunde, der auch die Ansprüche an eine kritische Frauen- und Geschlechterforschung, wie Knapp sie für notwendig hält, nicht erfüllt. Sei es Judith Butlers Kritik an „identity politics“, die ein Kollektivsubjekt Frau voraussetze (S. 28); Donna Haraways Vorstellung von einer durch die modernen Technowissenschaften hervorgebrachten „Welt der hybriden Mischwesen“ (S. 30) oder auch Ulrich Becks Individualisierungsthese, auf deren Tendenz, die Bedeutung von Geschlecht als „Mediatorin sozialer Ungleichheit“ (S. 26) zu vernachlässigen, Knapp hinweist. Notwendig bleibe ein Konzept feministischer Forschung, das nicht von Identität ausgeht, sondern Komplexität zulässt – anders sind die Strukturen, Entwicklungen und Widersprüche in den Geschlechterverhältnissen nicht erfassbar. Die notwendige Einsicht in soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Frauen müsse das Kritikpotential feministischer Forschung schärfen, deshalb sei es „unabdingbar, die in diesem Feld typische Konzentration auf ‚Frauen‘ aufzugeben“ (S. 47). Der Blick auf das Geschlechterverhältnis erschließe sich eben, so Knapp, wie bei allen Achsen gesellschaftlicher Differenz, wenn Relationen in den Blick genommen werden.
Engagiert stellt Helga Krüger in ihrem Beitrag „Gesellschaftsanalyse: der Institutionenansatz in der Geschlechterforschung“ die Vorzüge des Institutionenansatzes gerade für die differenzierte Analyse der Prozesshaftigkeit von Geschlechterverhältnissen vor. Ihr Erkenntnisinteresse ist es, verschieden stark ausgeprägte gesellschaftliche Bedeutungszuweisungen von Geschlecht zu unterscheiden, um Angriffspunkte für eine gesellschaftsverändernde Praxis ausmachen zu können. Ausgangspunkt ist hierbei die Diagnose, dass sich „Geschlechter-Stereotypisierungen, bipolare soziostrukturelle Ordnungmuster“ sowie die „Zuordnung von gesellschaftlichen Territorien als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘“(S. 63) in unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten verschieden ausprägen, dass also die Ungleichzeitigkeit sozialen Wandels erfasst werden muss. Hierfür ist nun der Institutionenansatz nach Krüger besonders fruchtbar, erlaubt er doch, unterschiedliche Entwicklungen etwa in Familie, Bildungssektor und Arbeitsmarkt parallel zu untersuchen. Dabei werden die verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen deutlich, in denen die soziale Konstruktion von Geschlecht abläuft und auch „Verknüpfungslogiken“ (S. 80) zwischen diesen Dimensionen. Krüger betont die Notwendigkeit, die Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht zu untersuchen, und grenzt sich hierbei von dekonstruktivistischen Ansätzen ab, bei denen sie eine „Überbewertung der symbolischen Seite der Wirklichkeit von Geschlecht“ (S. 81) sieht, die die soziostrukturelle Seite vernachlässige. In diesem Argument scheint allerdings eine grundsätzliche Unterscheidung durch, die symbolische Prozesse von „realen“ abzugrenzen versucht – eine Unterscheidung, die nicht nur von dekonstruktivistischen, sondern bereits von konstruktivistischen Ansätzen seit Ende der sechziger Jahre in Frage gestellt wurde. Besonders hervorzuheben an Krügers institutionenorientierter Gesellschaftsanalyse ist, dass deren Ziel – gewissermaßen ganz im Sinne von Krais/Bourdieu – nicht die Formulierung einer allgemeinen Gesellschaftstheorie ist. Statt dessen ist die Verbindung von empirischer Analyse und potentieller Theoriebildung Programm. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die Forderung nach internationalen und intertemporalen Vergleichen, um die Besonderheiten der deutschen Institutionen und langfristige historische Entwicklungen herausarbeiten zu können.
Maria Mies argumentiert in „Hausfrauisierung, Globalisierung, Subsistenzperspektive“ vom Standpunkt der politischen Aktivistin aus. Sie ist als Repräsentantin des „Bielefelder Ansatzes“ auch diejenige der Autorinnen, die für eine grundsätzliche (und dafür auch letztlich abgestrafte) Abkehr von einer „Mainstream Soziologie“ steht. Es sei nur an die „Methodischen Postulate zur Frauenforschung“ (1978) erinnert, eines der Postulate war z. B. die Betroffenheit der Forscherin auf der Grundlage der gemeinsamen Erfahrung der Unterdrückung. Diese sind offensichtlich inzwischen von der vielgenannten Selbstreflexivität der feministischen Forschung abgelöst worden. Mies befragt hier den entwicklungssoziologischen Ansatz der siebziger Jahre und seine Begriffe auf seine Tauglichkeit für eine Analyse aktueller Globalisierungsprozesse. Ihr Ziel ist dabei die Entwicklung von Gegenstrategien. Dabei wird im Rückgriff auf die feministische Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem (S. 157) deutlich, wie die Perspektive auf Frauenarbeit und den Charakter der bäuerlichen Subsistenzproduktion als unbezahlte oder niedrig entlohnte Arbeit in globaler Perspektive für die Analyse aktueller Prozesse sinnvoll ist. Der Ratlosigkeit angesichts der weltweit stark ausdifferenzierten Ökonomien und Lebensweisen und der sich verschärfenden Gegensätze von Armut und Reichtum kann nach Mies mit einer Kritik am globalen Kapitalismus begegnet werden. Als Alternative skizziert sie auf dem Hintergrund von Rosa Luxemburgs Imperialismuskritik im Sinne der Subsistenzperspektive die „Wiedererlangung der Kontrolle von Gemeinwesen über ihre lokalen und regionalen Existenzbedingungen“ (S. 184). Mies‘ Beitrag ist somit ein explizit politisches (und sympathisches) Plädoyer für lokales und regionales politisches Engagement in globalisierungskritischer Perspektive. Deutlich wird allerdings – eine kleine Anmerkung zum Stil sei hier gestattet – wie stark der Wunsch nach Anschlussfähigkeit auch die kritischste Perspektive prägt. So werden die Positionen von Luxemburg und Clara Zetkin als quasi Zwiegespräch der Autorin mit „Rosa“ und „Clara“ formuliert, was distanzlos und merkwürdig vereinnahmend anmutet. So dass sich die Leserin nach kurzer Zeit durchaus amüsiert fragt, ob – im Sinne einer einheitlichen Konzeption des Sammelbandes – ihr in den folgenden Beiträgen die Analysen von „Hannah“, „Norbert“, „Michel“ oder „Pierre“ in feministischer Perspektive erläutert werden. Ein Lektorat wäre hier nicht fehl am Platz gewesen. An dieser Stelle sei eine weitere Kritik an der Gestaltung des Bandes genannt. Obwohl hier namhafte Vertreterinnen der Frauen- und Geschlechterforschung versammelt sind, wären dennoch zumindest kurze Anmerkungen zu den Autorinnen über gegenwärtige Wirkungsstätten und Arbeitsschwerpunkte sowie ggf. Kontaktadressen durchaus wünschenswert gewesen.
Regina Becker-Schmidt setzt sich in ihrem Beitrag „Was mit Macht getrennt wird, gehört gesellschaftlich zusammen. Zur Dialektik von Umverteilung und Anerkennung in Phänomenen sozialer Ungleichstellung“ mit den Positionen von Nancy Fraser auseinander. Fraser unterscheidet drei Dimensionen sozialer Ungleichheit: Fragen der Umverteilung, der Anerkennung und der politischen Partizipation. Becker-Schmidt kritisiert hier eine fehlende gesellschaftstheoretische Orientierung, die eine „Gewichtung“ dieser Dimensionen erlauben würde (S. 91). Becker-Schmidt bezieht sich auf die Kritische Theorie Adornos, um die diagnostizierte gesellschaftstheoretische Lücke bei Fraser zu schliessen, und plädiert für einen „Rekurs auf Geschichte und gesellschaftliche Verhältnisse, zu denen das Geschlechterverhältnis gehört“ (S. 95). Im Ergebnis ergänzt sie Frasers Überlegungen zum Verhältnis von „recognition“ und „redistribution“ mit einer an Adorno anschließenden theoretischen Fundierung, die den Charakter einer Gesellschaft grundsätzlich auf Tauschbeziehungen zurückführt. Diese Tauschbeziehungen sind in verschiedenem Grad durch eine Gleichzeitigkeit von Güterverteilung und Anerkennung geprägt. Die Basis der aktuellen Geschlechterverhältnisse bilden in dieser Sichtweise Arbeitsteilung, Tausch und Macht vor dem Hintergrund der Modernisierung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von überlieferten geschlechtlichen Herrschaftsverhältnissen.
Auch der Beitrag von Ulrike Teubner „Soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern – kein Thema innerhalb der Systemtheorie?“ hat die soziale Ungleichheit zum Thema. Sie befragt Luhmanns systemtheoretischen Ansatz bezüglich seiner Aussagekraft in dieser Hinsicht. Teubner plädiert zunächst, wie auch Krüger und Krais, für einen selbstreflexiven Umgang mit der Kategorie Geschlecht. Ansonsten sei eine Analyse der sozialen Ordnung zwischen den Geschlechtern unter Berücksichtigung aller Strukturierungen, Normierungen und ihres prozesshaften Charakters unmöglich. Als mögliche Anschlussstellen der Luhmannschen Systemtheorie für feministische Forschung macht die Autorin dann Luhmanns Verortung sozialer Ungleichheit in Familie, Jugendkultur und Generationenverhältnissen aus, die bei ihm als Nebeneffekte „rationalen Operierens einzelner Funktionssysteme“ (S. 310) erscheinen. Über diese „residualen Wirkungen stratifikatorischer und segmentärer Differenzierungsformen“ (S. 310) lasse sich Geschlecht als Statuskategorie in die Systemtheorie integrieren. Allerdings steht Teubner dem potentiellen Nutzen einer solchen Integration skeptisch gegenüber. Letztlich drohe die Analyse dann dabei stehen zu bleiben, dass eine hierarchische Differenz der Geschlechter als systemische Funktionaliät beschrieben werde.
Für Hannelore Bublitz („Geschlecht als historisch singuläres Ereignis: Foucaults poststrukturalistischer Beitrag zu einer Gesellschafts-Theorie der Geschlechterverhältnisse) ist die Erfahrung von Geschlechtsidentität historischen Veränderungen unterworfen und in einem binären Deutungsmuster der Zweigeschlechtlichkeit verortet. Sie schließt an Foucaults historische Analyse des anatomischen Blicks an, der am Beispiel des abweichenden Hermaphroditen die Klassifikation von Körpern als eindeutig weiblich oder männlich als Machteffekt deutlich gemacht hat. Die Historizität des Geschlechts, der Geschlechterordnung und der Geschlechterdifferenz, die „Generativität“ (S. 263) des Geschlechts wird von Bublitz in den Vordergrund gerückt. Sie interessiert Geschlecht als Schnittstelle des geschlechtlichen Individuums mit der Frage der Regulierung der Bevölkerung und wie sich diese Regulierung im Prozess der Vergesellschaftung des Individuums vollzieht. Geschlecht, so Bublitz, stelle nicht die vermittelnde Kategorie zwischen Arbeit, Sexualität und Gattungsreproduktion dar, sondern sei vielmehr das organisierende Prinzip der symbolischen gesellschaftlichen Ordnung. Diese Aufwertung des Geschlechts als „biologische Materialisierung des Sozialen“ (S. 271) zeige sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den Diskursen der Gesundheit, Eugenik oder Rassenhygiene. Bublitz Beitrag lässt sich als Aufforderung zur Erforschung dieser Diskurse lesen, um Geschlecht als „historisch singuläres Ereignis“ zu erfassen und den verschiedenen Ausprägungen dieses „Ereignisses“ auf die Spur zu kommen.
Brigitte Aulenbacher untersucht „Die ‚zweite Moderne‘, ein herrenloses Konstrukt – Reichweite und Grenzen modernisierungstheoretischer Zeitdiagnosen“. Diese Zeitdiagnosen unterliegen Konjunkturen, mit deren aktuellen Repräsentanten, nämlich Anthony Giddens und Ulrich Beck, sich die Autorin beschäftigt. Grundsätzlich positioniert Aulenbacher die Modernisierungstheorien und feministische Theorie als gegensätzlich, bieten sie doch „gegenläufige Selbstbeschreibungen der Moderne“ (S. 189). Das klassische modernisierungstheoretische Paradigma nach Parsons ist androzentrisch konnotiert und geht von einer evolutionären Überlegenheit westlicher Gesellschaften aus, was sich in Begriffen wie „nachholende Modernisierung“ ausdrückt. Dagegen richtet feministische Theorie nach Aulenbacher den Blick auf die Hegemoniebestrebungen westlicher Gesellschaften und lasse vielfältige „Entwicklungsoptionen“ (S. 190) zu. Giddens und Beck ordnet sie demgegenüber als „modernisierungskritische“ Modernisierungstheoretiker ein (S. 213), die allerdings keinen Aufschluss über die „gesellschaftliche Relevanz“ (ebd.) der von ihnen identifizierten Phänomene geben könnten. Obwohl sie wegen ihrer Thematisierung des Geschlechts als „geschlechtersensibilisierte“ (S. 214) Theorien beschrieben werden können, blieben die Ansätze von Giddens und Beck „im Kern geschlechtsblind“ (ebd.), da sie die Frage, wie sich Vergesellschaftungen des Geschlechterverhältnisses im Modernisierungsprozess ausdrücken, aus ihrer Analyse ausblenden. Dies identifiziert die Autorin gleichzeitig als Anschlusspunkt für feministische Theorie, da sie die Geschlechtsblindheit weniger auf das Modernisierungskonzept an sich als vielmehr auf das Vorgehen der Autoren zurückführt.
Gabriele Klein und Katharina Liebsch stellen in ihrem Beitrag „Egalisierung und Individualisierung. Zur Dynamik der Geschlechterbalancen bei Norbert Elias“ unveröffentlichte Manuskripte von Elias zum Thema „Wandlungen des Geschlechtergleichgewichts“ (S. 227) vor, die seit den vierziger Jahren entstanden waren. Hier betrachtet Elias den Wandel des Geschlechterverhältnisses innerhalb des von ihm analysierten Prozesses der Zivilisation. Er macht mit den zunehmenden Individualisierungstendenzen der Gesellschaft im Zuge des Zivilisationsprozesses eine zunehmende Egalisierung im Geschlechterverhältnis aus. Dieser Befund wird auch von aktuellen modernisierungstheoretischen Analysen geteilt, etwa von Ulrich Beck, und in der feministischen Forschung kontrovers diskutiert. Klein und Liebsch befragen nun Elias‘ Argumentation und Kategorien nach ihrer Brauchbarkeit für die Analyse heutiger Geschlechterverhältnisse und gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Sie kommen zu dem – nicht sonderlich überraschenden – Schluss, dass die universalhistorische und figurationssoziologische Perspektive Elias‘, die ihre empirische Fundierung nicht im einzelnen offenlegt, gewissermaßen zu „großformatig“ ist, um gegenwärtige Verschiebungen im Geschlechterverhältnis angemessen differenziert analysieren zu können. Hierin sei er für seine Generation „typisch“ (S. 248). Dennoch stelle Elias‘ Theorie und sein Blick auf die langfristigen historischen Veränderungen im Geschlechterverhältnis Koordinaten und Eckpfeiler zur Verfügung, um ein Verständnis zu entwickeln für „die langfristige historische Umstrukturierung des Geschlechterverhältnisses“ (ebd.). So wird etwa anhand seiner vergleichenden Analyse des römischen und des mittelalterlichen kanonischen Eherechts deutlich, dass durchaus Rückschritte in der Egalisierung des Geschlechterverhältnisses zu konstatieren sind, auch wenn er die Auswirkungen des Prozesses der Zivilisation und Individualisierung auf die Machtbalance zwischen den Geschlechtern insgesamt als positiv bewertet. Auch der Bezug auf Elias lässt sich somit als Plädoyer für konkrete empirische Analysen und ein deduktives Theorieverständnis lesen.
Die feministische Auseinandersetzung mit Hannah Arendt kann ebenfalls als Generationenkonflikt gelesen werden. Hat Arendt doch allenfalls harsche Worte für die Frauenbewegung übrig gehabt, sich selbst nie explizit als Frau positioniert (wohl aber als Jüdin) und mit der strikten Trennung von öffentlich-politischem und privatem Bereich in ihrer politischen Theorie feministische Kritik provoziert. Kathrin Braun richtet in ihrem Aufsatz „(K)eine Denkerin der Vermittlung? Gesellschaftstheorie und Geschlechterverhältnis im Werk von Hannah Arendt“ den Blick auf eine Grundlage der Theorie von Arendt, nämlich die Auseinandersetzung mit Karl Marx, und befragt Arendts Schriften auf ihren gesellschaftstheoretischen Gehalt, den sie in der zeitdiagnostischen und analytischen Relevanz sieht. Braun zufolge ist Arendts Unterscheidung und Bewertung von Arbeiten, Herstellen und Handeln in „Vita Activa“ in Abgrenzung zum Marxschen Arbeitsbegriff entwickelt. Den allerdings, so Braun, habe Arendt verkürzt rezipiert: die von ihr kritisierte „Naturalisierung der Geschichte“ bei Marx lasse sich mit Marx selbst widerlegen, der Arbeit als jeweils historisch spezifisch und abhängig von den Produktionsverhältnissen gesehen habe. Im Grunde hätten die Arbeitsbegriffe von Arendt und Marx eine ähnliche Struktur, denn die Unterscheidung von Herstellen und Arbeiten mache erst in gesellschaftstheoretischer Perspektive einen Sinn. So werde über Ziel und Charakter von Produktionsprozessen gesellschaftlich verhandelt. Arendts „Vita Activa“ ist damit als Analyse der Arbeitsgesellschaft der fünfziger Jahre zu lesen. Braun macht außerdem in überzeugender Weise auf den gesellschaftstheoretischen Gehalt von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ aufmerksam. Hier identifiziere Arendt gesellschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Westeuropa, den rassischen Antisemitismus, den Imperialismus und die Herausbildung der modernen Massengesellschaft, als begünstigende Faktoren für die Entstehung totalitärer Bewegungen . Eine ausschließliche Rezeption Arendts als Theoretikerin der Zivilgesellschaft greife somit zu kurz. Problematisch, so Braun, bleibe bei jeder Lesart Arendts jedoch ihre strikte Abgrenzung von privat und öffentlich, die ihr zur Grundlage für eine unhistorische und essentialistische Zuordnung menschlicher Tätigkeiten zu diesen Räumen werde. Körpergebundenheit, die mit Weiblichkeit verbunden wird, ist somit im Bereich des Privaten verortet und vom Politischen getrennt. Auch die merkwürdige Inhaltsleere des Politischen bei Arendt bleibt zu konstatieren: Armut etwa wie auch Körpergebundenheit werden ihr zu technisch, nicht zu politisch lösbaren Problemen. So schließt Braun, dass Arendt in ihrer politischen Theorie eher als Denkerin der Abgrenzung denn der Vermittlung zu lesen ist. Ihre Sphärenteilung der Gesellschaft lasse keine Historisierung und damit Veränderbarkeit dieser Grenzziehungen zu. Allerdings seien zentrale Kategorien ihres Denkens, Arbeiten, Herstellen und Handeln, gesellschaftlich vermittelt. Dies mache Arendt zu einer durchaus anschlussfähigen Denkerin der modernen Arbeits- und Massengesellschaft.
Insgesamt vermittelt der Sammelband „Soziale Verortung der Geschlechter“ das Bild einer ausdifferenzierten feministischen Theorie, die kritisch an gesellschaftstheoretische Ansätze anknüpft. Auch gesellschaftstheoretische Ansätze, die sich als Standpunkte kritischer Gesellschaftsdiagnose und kultureller Aufklärung verstehen, scheinen nach wie vor das Geschlechterverhältnis unzureichend zu thematisieren. Dass bei der Suche nach angemessenen gesellschaftsanalytischen Kategorien sowohl die Klassiker/-innen als auch ihre Epigonen mannigfache Kritik-, aber auch vielversprechende Anschlusspunkte zu bieten haben, vermögen alle Beiträge zu vermitteln. Somit bietet der Band mit seiner breit angelegten Konzeption, die wichtige und durchaus gegensätzliche politik- und gesellschaftstheoretische Ansätze verbindet, einen guten, komplexen und anspruchsvollen Überblick und regt zur vertiefenden Lektüre an.
URN urn:nbn:de:0114-qn032130
Silke Schneider
Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Arbeitsbereich Historische Grundlagen
E-Mail: sischn@zedat.fu-berlin.de
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