Sinnlichkeit und Macht

Rezension von Claudia Opitz

Gisela Engel, Gisela Notz (Hg):

Sinneslust und Sinneswandel.

Beiträge zu einer Geschichte der Sinnlichkeit.

Berlin: trafo 2001.

160 Seiten, ISBN 3–89626–291–2, € 13,80

Abstract: Der Band ist aus einer gleichnamigen Tagung hervorgegangen und versammelt 10 Beiträge zu höchst unterschiedlichen Themen. Als übergreifendes Interesse formulieren die Herausgeberinnen das Anliegen, „Sinneslust und Sinneswandel“ historisch zu begreifen und politisch-emanzipatorische Aspekte dieser historischen Entwicklung zu verstehen und weiterzuführen. Zwar ist die historisch-kulturelle Dimension in den Beiträgen weniger deutlich ausgeprägt, als es eine solche Programmatik erwarten läßt. Das Interesse für den Zusammenhang von politischer Macht und Sinnlichkeit dagegen ist in praktisch allen Beiträgen deutlich herausgearbeitet und erscheint insgesamt als lohnender Zugang zu dem derzeit boomenden Feld der Sinnlichkeits- und Emotionenforschung.

Das schmale Bändchen mit dem verführerischen Titel „Sinneslust und Sinneswandel“ präsentiert sich als Beitrag zu einer Geschichte der Sinnlichkeit, der insbesondere „die politisch-emanzipatorischen Aspekte der historischen Entwicklung [verstehen] und weiter[ …]führen“ möchte, wie es im knappen Vorwort heißt. Es versammelt insgesamt zehn Beiträge zu sehr unterschiedlichen Themen und Fragestellungen und dokumentiert damit eine Konferenz, die im Sommer 2000 im schweizerischen Tagungszentrum Salecina stattfand.

Nicht untypisch ist dabei, dass es vor allem jüngere Autorinnen und Autoren sind, die sich der „Geschichte der Sinnlichkeit“ zugewandt und dazu größere Forschungsprojekte in Arbeit haben. Den konzeptionellen Rahmen steckt indes Gisela Engel als Mit-Herausgeberin mit einem derzeit eher ungewöhnlichen Rückgriff auf die theoretischen Entwürfe der „Frankfurter Schule“ ab. Ausgehend von Herbert Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969) möchte sie die Geschichte der Sinnlichkeit in den Blick nehmen, die ja lange Zeit – oder vielleicht schon immer – im Schatten der Vernunft stand oder gar der Herrschaft des Verstandes unterworfen war. (vgl. S.10) Ziel eines solchen Um-Schreibens der Geschichte könnte ihrer Auffassung nach zumindest „eine Re-Organisation der uralten Entwertung der Sinne, des Leibes, der Natur im Sinne der Klärung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse sein“, vielleicht aber auch, so die in Anlehnung an Marcuse formulierte Hoffnung, „so etwas wie libidinöse Vernunft oder, wie es neuerdings heißt, emotionale Intelligenz“.

Die Frage, ob bzw. inwiefern „die Sinne“ seit der bzw. durch die Aufklärung abgewertet oder gar unterdrückt wurden und wie dementsprechend eine Gesellschaft (oder auch: Wissenschaft) beschaffen sein müssten, um dem abzuhelfen, zieht sich tatsächlich durch etliche Beiträge, die von Lektüren der Kantschen Ästhetik (Tobias Jörgens: „Probleme des Begriffes ‚Ästhetik‘ seit Immanuel Kant“) über das Trügerische in der sinnlichen Wahrnehmung (Richard Lehun: „Affirmation und Schein“; Tobias Krohme: „Sinne und Erkenntnis: Über unbedenkliche und bedenkliche Relativitätstypen im Kontext sinnlicher Wahrnehmung“) bis hin zu künstlerischen Zugängen zum Thema Sinneswahrnehmung (Änne Soll: „Zur Rolle des Auges in Arbeiten von Pipilotti Rist und Janine Antoni“) reichen.

Vor allem der Zusammenhang von Sexualität, Geschlechterbeziehungen und Macht wird relativ breit thematisiert; in einigen Beiträgen (etwa bei Martina Sehrig, die den Ekel als spezifisch gesellschaftliche Sinnesäußerung zu beschreiben sucht) wird diese Dimension nur gestreift, in anderen an zentraler Stelle thematisiert, etwa bei Gisela Notz („Von Menschen, die ihre fünf Sinne beieinander hatten“) oder bei Martin Uebelhart in seinen Überlegungen „Über die Domestizierung von Natur, Weib und Ekstase“.

Ganz explizit nimmt Nina Zimnik solche Fragen in den Blick in ihrem Aufsatz über das masochistische Genießen. Sie stellt die traditionell recht unhinterfragte Gleich-bzw. Komplementärsetzung von Masochismus und Sadismus (die in der gängigen Formulierung „Sadomasochismus“ ihren Ausdruck findet), ausgehend von einem programmatischen Text des französischen Kulturphilosophen Gilles Deleuze, Le froid et le cruel (1967), grundsätzlich in Frage und verweist auf die Gewaltdimension des Sadismus, dem im Masochismus eine intensive Vertragsbindung der Partner/-innen gegenübersteht. Dabei wird neben der sexuellen auch die gender-Dimension der jeweiligen sexuellen Praktiken und ihrer symbolischen Konnotierungen in den Blick genommen, d. h. es steht in Frage, ob es sich bei beiden „Perversionen“ tatsächlich um die von Jacques Lacan konstatierten „Pèreversionen“ handelt, also um Imaginationen und Genuss-Praktiken, die um den Vater als Träger bzw. Vollstrecker „des Gesetzes“ organisiert sind, oder ob im masochistischen „Pakt“ nicht vielmehr eine von der Mutter ausgehende, „omphalische“ Kastration niedergelegt ist. Zimnik führt eine solche Um-Deutung überzeugend vor, wobei sie darauf hinweist, dass auch die „omphalische“ Dimension des masochistischen Genusses schlussendlich von einem väterlichen Gesetz kontrolliert und definiert wird. Eine umfassende Befreiung von der väterlichen Ordnung ist damit, so könnte man Zimniks Schlussfolgerungen weiterführen, ist auch im masochistischen „Pakt“ nicht möglich.

Die meisten der Beiträge, die von sehr unterschiedlicher Länge und Dichte sind, lassen sich sehr gut als Einführung in die von ihnen gewählten Themenbereiche lesen; da sie jedoch überwiegend auf philosophische (oder ggf. auch ästhetische) Konzepte zurückgreifen bei der Reflexion über „Sinneslust und Sinneswandel“, bleiben ihre Ergebnisse oftmals hinter den Erwartungen einer historisch-kulturwissenschaftlich interessierten Leser(innen)schaft zurück. Nicht zuletzt sucht man Rückgriffe auf die Schriften und Ideen Foucaults oder der französischen Poststrukturalisten vergeblich, während die in einigen Aufsätzen explizit gemachten Anleihen an phänomenologische Theoreme und Konzepte gänzlich unhistorisch argumentieren, sie treiben zwar die Reflexion über Vernunft und Sinne/Sinnlichkeit voran, bieten aber keine Erkenntnisse im Sinne des o.g. Interesses an einer (emanzipatorischen) Geschichte der Sinnlichkeit (dies gilt etwa für die ansonsten spannende Studie von Martina Sehrig über den Ekel oder auch für Ulle Jägers „Zum Eigensinn des Leibes“).

Erst dort, wo Geschlechterfragen stärker mit in die Darstellung einfließen, wird die überwiegend ideengeschichtlich-philosophische Reflexionsweise etwas aufgebrochen zugunsten einer deutlicher historisch bzw. kulturwissenschaftlich argumentierenden Sichtweise. Doch vermisst man gerade hier wiederum die methodische Präzision. Beiträge wie der von Martin Uebelhart können auch bei gutem Willen kaum überzeugen, wenn die Quellengrundlage der eigenen Überlegungen kaum deutlich gemacht und der Forschungsstand zum Zusammenhang von Sexismus, Rassismus und Faschismus so wenig präsent und präsentiert ist wie hier. Zudem liessen der Untertitel „Beiträge zu einer Geschichte der Sinnlichkeit“ wie auch die Einführung von Gisela Engel mehr historischen Weitblick erwarten als es die deutliche Konzentration auf die deutsche (Zeit-)Geschichte, die in einigen Beiträgen explizit gemacht ist, in anderen implizit mitschwingt, schlussendlich bietet.

Die von Gisela Engel einleitend aufgespannte Problemstellung jedoch, die explizit Fragen der politischen Herrschaft mit der Erforschung und Deutung von Sinneslust und Sinneswandel zusammenbringen möchte, erscheint mir im derzeit sich so ungeheuer rasch entwickelnden Feld der Studien über Sinnlichkeit und Emotionen ein eher seltenes, aber unverzichtbares Projekt zu sein. In dieser Hinsicht könnte der Band Schrittmacher sein für weitere und weitergehende Studien.

URN urn:nbn:de:0114-qn032156

Prof. Dr. Claudia Opitz

Universität Basel, Historisches Seminar

E-Mail: opitz-belakhal@t-online.de

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