Subjekt oder Objekt?

Rezension von Monika Kopczynski

Waltraud Ernst:

Diskurspiratinnen.

Wie feministische Erkenntnisprozesse die Wirklichkeit verändern.

Wien: Milena 1999.

284 Seiten, ISBN 3–85286–071–7, € 18,90

Abstract: Der vorliegende Band bietet einen Überblick über die feministische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Viele der anglo-amerikanischen Beiträge liegen derzeit noch nicht in einer Übersetzung vor und werden zum ersten Mal einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt.

Das Programm feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

Die Philosophin Waltraud Ernst analysiert im ersten Kapitel ihres Buches zunächst das Verhältnis von wissenschaftlicher Wissensproduktion und soziohistorischer Wirklichkeit und benennt das feministische Interesse im epistemologischen Diskurs: „Die Wissenschaften waren, ebenso wie die Politik immer sowohl diskursiver Ort hegemonialer Normierung und Herrschaft als auch Ausgangspunkt, diese zu kritisieren. Feministische Wissenschaften sind in ähnlicher Weise an der Auflösung und der Etablierung von Normierung und Herrschaft beteiligt“ (S. 13). Von zentraler Bedeutung ist hierbei das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Ernst versteht unter Erkenntnis „den Prozess [einer] Person, die sich in die Position des Erkenntnissubjekts im Forschungsprozess setzt, die forschungsrelevanten Fragen definiert, das Erkenntnisobjekt bestimmt und die erkenntnisrelevanten Antworten auswählt“ (S. 16). Erkennende und erkannte Instanz stehen dabei in einer Wechselwirkung miteinander. Für Ernst ist das Verhältnis zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt demnach kein feststehendes, sondern es wird in einem vielschichtigen sozialen Prozess immer wieder neu ausgehandelt. Diese soziopolitische Situiertheit mache es erforderlich, das Verhältnis von Erkenntnis und (wissenschaftlichem) Wissen neu zu erforschen sowie den Begriff der Wirklichkeit als soziale Wirklichkeit zu reformulieren. Dabei stellt sich die Frage, wie der Zusammenhang von soziohistorischen Veränderungen und wissenschaftlichem Wissen erkenntnistheoretisch erfasst werden kann. Wie Ernst deutlich macht, existiert kein fixiertes Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit, vielmehr ist Erkenntnis ein „changierender, unabgeschlossener sozialer und epistemischer Erfahrungsprozess“, und es sind „ausschließlich Personen, in ihren vielfältigen und veränderbaren Positionierungen und Erfahrungsprozessen, die für die epistemischen, moralischen und politischen Konstruktionen sozialer Wirklichkeit verantwortlich sind“ (S. 259 f.).

Diskurspiratinnen: Die einzelnen Positionen

Entlang zentraler Begriffe der feministischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie – „Erfahrung“ (Kapitel II), „Objektivität“ (Kapitel III) und „Konstruktion“ (Kapitel IV) – diskutiert Ernst alle wichtigen Ansätze der Debatte. In bisher noch nicht vorliegender, konzentrierter Form stellt sie die forschungsrelevanten Beiträge seit den 70er Jahren vor. Viele der überwiegend anglo-amerikanischen Theorien, die zum Teil noch nicht ins Deutsche übersetzt sind, werden damit erstmalig einem deutschsprachigem Lesepublikum präsentiert. Vorgestellt werden unter anderem die Konzepte von Nancy Hartsock, Bat-Ami Bar On, Patricia Hill Collins, Lorraine Code und die der feministischen „Standpointepistemologie „ sowie die Modelle feministischer Objektivität von Evelyn Fox Keller, Helen Longino, Sandra Harding und Donna Haraway. Auch deutschsprachige Ansätze werden berücksichtigt, z. B. von Herta Nagl-Docekal, Käthe Trettin, Karin Knorr-Cetina.

Ernst verfolgt dabei zweierlei Interessen: Zum einen ein historisches, indem sie die einzelnen Forschungsansätze vorstellt und deren Fruchtbarkeit für die feministische Debatte bewertet, zum anderen ein systematisches, indem sie die Ergebnisse ihrer Analysen nutzt, um ihre eigene Position zu entwickeln beziehen und dadurch selbst einen Beitrag zur Debatte zu leisten. Wie die referierten Theorien zeigen, ist weder die Subjekt-/Objektposition noch der Erkenntnisprozess selbst etwas Isoliertes oder Statisches, sondern unterliegt Veränderungsprozessen. Aus diesem Grund erweist es sich für Ernst für eine feministische Konzeption von Wissenschaften als fragwürdig, überhaupt ein Objektivitätsideal anzunehmen. Ihrer Meinung nach ist es ausreichend, dass epistemische Verbindlichkeit durch „die soziale Realitätswirksamkeit oder Effektivität wissenschaftlicher Modelle und Inhalte“ entstehen. So bestätigen ihre Analysen feministischer Konstruktionen von Natur, Technologie, Sexualität und Geschlecht die These eines sozialen Charakters von Erkenntnisprozessen, „in denen epistemische und soziale Macht- und Herrschaftsverhältnisse hergestellt und verändert werden“ (S. 258).

Das Verdienst der Untersuchung

Ernst stellt in dem vorliegenden Band nicht nur alle wichtigen Ansätze feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vor, sondern diskutiert sie auch in ihrer systematischen Bedeutung. Der Band ist daher als Einführung und Überblick in die feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geeignet und schon allein aus diesem Grund ein großer Gewinn für die feministische Forschung. Er ist klar und verständlich geschrieben, so dass diese schwierige Materie auch für Nicht-Philosophinnen nachvollziehbar ist und dem interdisziplinären Charakter der Frauen- und Geschlechterforschung bzw. feministischer Theorie gerecht wird.

Darüber hinaus gibt der Band zahlreiche eigene Impulse für die feministische Erkenntnis- und Wissenschaftsdebatte, die sich in jüngster Zeit etwas festgefahren zu haben scheint. Stellvertretend sei hier nur die Verabschiedung jeglichen Ideals von Objektivität genannt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es der Autorin gelingt darzustellen, dass die soziohistorische Gebundenheit von Wissen nicht an eine relativistische epistemologische Position gekoppelt sein muss – ein Vorwurf, dem sich feministische Forschung und Wissenssoziologie öfters ausgesetzt sehen; ferner die Forderung, dass es nicht darum gehen kann, privilegierte Gruppen von Frauen zum Paradigma des epistemischen Subjekts zu erheben, ebenfalls ein zentrales Thema im feministischen Diskurs; in terminologischer Hinsicht nimmt sie die Diskussion um die Begrifflichkeiten „Frauen-“ und „Geschlechterforschung“ oder „feministische Forschung“ (bzw. Theorie) wieder auf, indem sie letzterer den Vorzug gibt, weil diese nicht auf ein bestimmtes Forschungssubjekt oder -objekt beschränkt bleibe, sondern hingegen das Erkenntnisinteresse betone.

URN urn:nbn:de:0114-qn032169

Monika Kopyczinski

Berlin

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